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Joaquim Maria Machado de Assis: "Das babylonische Wörterbuch"
Der Teufel diktiert

Machado de Assis gehörte zu den wichtigsten Schriftstellern und Journalisten Brasiliens. In seinen Erzählungen vermaß er die tropische Belle Epoque und ihre weltanschaulichen Kampfschauplätze. Die Erzählungen sind jetzt in einer Sammlung erhältlich, einige davon erstmals in deutscher Übersetzung.

Von Katharina Teutsch | 26.08.2018
    Buchcover: Machado de Assis: "Das babylonische Wörterbuch"
    Joaquim Maria Machado de Assis: Ahn der lateinamerikanischen Nationalliteraturen (Buchcover: Manesse Verlag, Foto: dpa picture alliance - Sandra Gätke)
    "Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt, sagt Hamlet zu Horatio. Dasselbe erklärte die schöne Rita dem jungen Camilo an einem Freitag im November 1869, als dieser über sie lachte, weil sie am Vorabend eine Wahrsagerin aufgesucht hatte. Sie sagte es nur mit anderen Worten."
    So eröffnet Joaquim Maria Machado de Assis seine kleine Erzählung "Die Wahrsagerin". Und es kommt alles darin vor, was den Belle-Epoque-Schriftsteller beschäftigt und bewegt hat: der Kampf zwischen Aberglaube und Aufklärung, genauer zwischen der Weisheit des Volkes und dem esprit positif einer europäischen Hochkultur. Aber auch der zwischen wuchernder Exotik und bürgerlichem Formzwang – das Ganze vor dem Hintergrund einer noch entstehenden und reifenden Nation: Brasilien.
    In der historischen Zeit der Erzählung herrscht ein belesener Kaiser. Literarisch ist das Land noch vollständig im Bann des portugiesischen Mutterlandes. Der Urahn dortiger Nationalliteratur ist der Renaissancedichter Luís Vaz de Camões. Dann kommt ein junger stotternder Mulatte, der unter epileptischen Anfällen leidet – und sich bald schon durch auffällige Belesenheit in die Funktionselite des Landes einschreibt.
    Als Sohn eines afrobrasilianischen Anstreichers und einer portugiesischen Wäscherin wird Machado de Assis zu einem der wichtigsten Journalisten und Porträtisten der jungen brasilianischen Republik. 1879 zunächst gründet er die Kaiserliche Akademie der Literatur, deren erster Präsident er wird. Wie das Nachwort von Manfred Pfister präzisiert, ein Jahrzehnt, in dem noch über achtzig Prozent der Brasilianer Analphabeten sind und die Sklaverei ein knappes weiteres Jahrzehnt von ihrer Abschaffung entfernt ist. Umso erstaunlicher: weder über die Sozial- noch über die Rassenfrage gibt es in Machado de Assis’ Werk Auskunft. Seine Geschichten spielen in der weißen Upperclass, zu der der Autor selbst ganz entgegen seiner Bestimmung durch Fleiß und Bildung Zugang hatte: Bürgersöhne, Geistliche, Regierungsbeamte, Plantagenbesitzer, Handlungsreisende bilden das Personal der insgesamt neun Romane und knapp 230 Contos aus de Assis’ Feder.
    "Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt, sagt Hamlet zu Horatio."
    In der zu Beginn zitierten Szene lacht ein junger Mann über den Aberglauben seiner Geliebten. Die hatte zuvor Rat bei einer Wahrsagerin gesucht. Camilo wird als ein durch und durch rationaler Mann beschrieben. Mit der Frau seines besten Freundes Vilela unterhält er eine leidenschaftliche Affäre, deren Grenzen ihm indes bewusst sind. Aber haben wir es hier wirklich mit einem Rationalisten zu tun? Eines Tages erhält Camilo eine Depesche von seinem Freund Vilela. Darin steht:
    "Komm schnell, schnell zu uns nach Hause, ich muss Dich unverzüglich sprechen."
    Sofort will er sich auf den Weg machen, wittert aber einen tödlichen Hinterhalt.
    "Im Geiste beschwor er ein Drama herauf, Rita in Tränen aufgelöst, am Boden zerstört, Vilela außer sich, zur Feder greifend und dieses Kärtchen schreibend, in der Gewissheit, dass Camilo herbeieilen würde und er ihn endlich umbringen konnte. Camilo schauderte vor Angst. Dann lächelte er halbherzig, die Vorstellung, sich abschrecken zu lassen, war ihm zuwider, und er ging weiter."
    Auf dem Weg zu Vilelas Haus muss die Kutsche Camilos warten. Ein Hindernis will beseitigt werden. Der Autor hat es doppelt codiert. Denn ausgerechnet vor dem Haus der Wahrsagerin ist Camilo gezwungen zu warten. Und wie er so wartet und über die seltsame Depesche nachdenkt, überkommen ihn Zweifel.
    "Da war sie, die Idee, zur Wahrsagerin zu gehen; aus der Ferne, mit weiten, grauen Flügeln kam sie angeflogen, verschwand, tauchte wieder auf, verflüchtigte sich abermals; doch schon war das Rauschen ihrer Flügel von Neuem vernehmbar, ganz nah kreiste sie und kreiste ... Auf der Straße schrien die Männer, die den Karren wegzogen: ‚Hau ruck! Hau ruck!‘"
    Magisch-realistischer Skeptizismus
    Kurz und gut. Camilo wird schwach. Er konsultiert die Alte, lässt sich von ihr beruhigen und entlohnt sie kräftig. Jeder Leser wird an dieser Stelle nun einen fallenden Rationalisten vor sich sehen – und seinen Schöpfer als Vertreter eines magisch-realistischen Skeptizismus. Doch, was dann geschieht, unterläuft jede Erwartung. Denn frohen Mutes setzt Camilo nun seine Reise zur geliebten Rita fort. Die Wahrsagerin hat ihm grünes Licht gegeben. Selten war er so erleichtert. Am Ort des Ehebruchs angekommen, findet er allerdings einen zerknitterten Freund vor:
    "Vilela antwortete nicht. Seine Gesichtszüge waren entstellt, er winkte ihn herein, und sie betraten den Salon. Camilo stieß einen Schrei des Entsetzens aus – am anderen Ende des Raumes, auf dem Kanapee, lag Rita, blutüberströmt, tot. Vilela packte ihn am Kragen und streckte ihn mit zwei Schüssen nieder."
    Die Pointe dieser kleinen komischen Erzählung ist nicht etwa ein geheimnisvoller Ausgang oder ein deutungsoffenes Ende. Nein, die Pointe ist das ganz und gar unzweifelhafte Ende. Aberglaube kann tödlich sein, wenn er den Geist mit den Nebelkerzen der eigenen Wünsche eintrübt. Doch ist damit der Zweifel aus der Welt geschafft? Nein! Denn die Wahrsagerin gehört zum kühlen Kopf wie der Mythos zur Aufklärung. Der handelnde Mensch schöpft aus einem trüben Grund. Machado de Assis hat ihn als das große Unintegrierbare auch im Prozess des brasilianischen Nation Building immer wieder ausgestellt.
    Kein psychologischer Autor
    Er ist dabei kein psychologischer Autor. Seine Kunst besteht nicht im Auspinseln ambivalenter Seelen. De Assis interessiert sich eher für die Ideologien und Illusionen, denen Menschen folgen. So sind alle seine Figuren Idealtypen. Wieso sie einen dennoch berühren? Weil sich in ihnen jeweils die großen Sinnfragen der Zeit kristallisieren. Gleich mehrere Geschichten widmen sich dem grassierenden Fortschrittsglauben der Zeit. Die Vektoren der Wissenschaft zeigen nach vorne.
    Nicht nur Nationen wachsen in die Zukunft, auch der Mensch wächst über seinen mythischen Abgrund hinaus. In der Erzählung "Der wahre Grund" wird ein Menschenfreund, der sich aufopfernd um einen verletzten Spaziergänger kümmert, der sich später in die Kunst des Heilens einweisen lässt und der schließlich seine todkranke Frau pflegt, als Sadist geoutet. Beim Sezieren einer lebenden Maus schon überkommt Fortunato, so heißt der Protagonist, eine gespenstische Ruhe. Und als es schließlich zuende geht mit seiner Frau, trägt sich Folgendes zu:
    "In ihren letzten Tagen gewann die Eigenart dieses Mannes angesichts jener schrecklichen Pein, die die Frau erlitt, die Oberhand über jedes andere Gefühl. Er wich nicht von ihrer Seite, starrte mit trüben, kalten Augen auf diesen langsamen und schmerzlichen Zerfall des Lebens und sog jede einzelne Qual dieses schönen, nunmehr abgezehrten und durchsichtigen, vom Fieber geschüttelten und vom Tod gezeichneten Wesens in sich ein. Grausam egoistisch und hungernd nach starken Emotionen, erließ er ihr nicht eine Minuten Todeskampf und vergalt ihr diesen auch nicht mit einer einzigen Träne, weder öffentlich noch privat. Erst als sie ihr Leben aushauchte, schwanden ihm die Sinne. Nachdem er wieder zu sich gekommen war, erkannte er, dass er nun allein war."
    Humanismus und Barbarismus
    Hier also das positive Prinzip des biologischen Experiments. Dort der negative Antrieb des Menschen. Humanismus und Barbarismus. Aufklärung und Atavismus. Bei Machado de Assis liegen diese beiden Prinzipien immer nah beieinander. Allerdings ohne den Schleier des Mysteriums. Sondern pur et dure wie eine soziale Tatsache.
    Von Stefan Zweig ist das Wort überliefert, die brasilianische Literatur sei erst mit Machado de Assis und dem Bürgerkriegsreporter Euclides da Cunha in die Aula der Weltliteratur eingetreten. Ausgerechnet mit einem Autor also, der ein durch und durch europäisches Sittenbild entfaltet. Allerdings eines auf tropischer Folie. Und Brasilien, das heißt auch immer: Hinter der bürgerlichen Fassade dräut der tropische Formverlust. Genauer: die Angst vor dem Formverlust.
    Politisch erlebte Machado de Assis das Ende der brasilianischen Monarchie und die Entstehung der Ersten Republik. Es muss eine aufregende Zeit gewesen sein, die Machado de Assis mit Gespür für die elaborierten Gespräche seiner Zeitgenossen schildert. Das trockene Hinterland Brasiliens mit seinen Großgrundbesitzerin und der ärmlichen Bevölkerung hat sich erst eine Schriftstellergeneration später ausführlich vorgeknöpft: João Guimarães Rosa oder Graciliano Ramos schrieben über den Sertão.
    Machado de Assis blieb und schrieb über Rio de Janeiro. Und liest man sein Werk mit dem heutigen Wissen um die Literatur des südamerikanischen Kontinents, dann erscheint er mit seinem ganz und gar unmagischen magischen Realismus auf einmal als Ahnherr des dortigen Kanons. Vor allem an Borges fühlt man sich erinnert. Die Faszination für arkane Bibliotheken und Wissenschaften scheint von einer gründlichen Lektüre des Brasilianers geprägt. In der titelgebenden Erzählung "Das babylonische Wörterbuch" geht es um einen Böttcher namens Bernardino, ....
    "... der in kosmografischen Belangen die Ansicht vertragt, die Welt sei ein riesiges Fass Marmelade, und in politischen, dass der Thron der Masse gebühre. Um sie dorthin zu bewegen, griff er nach einem Stock, stachelte die Gemüter auf und prügelte den König vom Thron. Als Bernardino siegestrunken und umjubelt in den Palast einzog, musste er allerdings feststellen, dass auf dem Thron nur Platz für einen Einzelnen war. Der Böttcher löste dieses Problem, in dem er selbst den Thron bestieg. ‚In mir‘, donnerte er, ‚seht ihr die gekrönte Masse! Ich bin ihr, ihr seid ich.‘"
    Wie von Borges erdacht
    Gesagt getan. Und es geht auch alles glatt aus Bernadonus’ Sicht, wie er sich inzwischen römisch veredelt nennt. Bis er eines Tages seine dichterische Ader entdeckt. In Liebe zur schönen Estrelada entbrannt, die wiederum einen echten Dichter liebt, lässt er sich auf einen Wettstreit ein. Und nun könnte die Geschichte von Borges selbst geschrieben worden sein. Natürlich unterliegt Bernadonus. Als Demagoge ist es ihm allerdings ein Leichtes, den Wettbewerb für ungültig zu erklären.
    "Bernadonus ordnete eine Wiederholung an, befahl hierfür aber, einer machiavellinischen Eingebung folgend, einzig Wörter zu verwenden, die mindestens dreihundert Jahre alt waren. Keiner seiner Widersacher hatte die Klassiker studiert, das war das probate Mittel, sie zu besiegen."
    Doch wieder nichts. Der Konkurrent setzt sich durch. Also läutet Bernadonus die nächste Runde ein. Ausschließlich moderne Wörter sollen dieses Mal im Dichterwettstreit benutzt werden. Aber ach: Wieder nichts. Der Poet setzt sich durch. Unter der Androhung rollender Köpfe unterbreiten die Minister des Demagogen nun folgenden Vorschlag:
    "Unsere Namen, Alpha und Omega, prädestinieren uns für alles, was mit Sprache zu tun hat. Wir empfehlen Eurer Erhabenheit, alle Wörterbücher aus dem Verkehr zu ziehen und uns mit der Schöpfung einer neuen Sprache zu betrauen, die Euch zum Sieg verhelfen wird."
    Und so kommt es, dass ein "Babylonisches Wörterbuch" zur Staatsdoktrin wird. Mit dem Resultat, dass im Reich nun babylonisch gesprochen wird:
    "Die Witzbolde begrüßten sich auf der Straße nicht mehr mit ‚guten Morgen, wie steht’s?‘, sondern riefen: ‚Pflerrgpxx, rouph, aa?‘"
    Wie die Geschichte ausgeht, soll nicht verraten werden. Aber, dass ein guter Dichter auch auf babylonisch triumphieren kann und ein schlechter in jeder Sprache dilettieren muss, ist eigentlich wenig erstaunlich!
    In der Erzählung "Alexandrinische Geschichte" erscheint erneut Borges als Verwandter des großen Brasilianers. Es geht um zwei Philosophen, Figuren aus antiken Büchern. Stroibus und Phintias wollen eine neue Lehre verkünden. Die Lehre von der Übertragung von Charaktereigenschaften durch die Gabe von Blut. So soll etwa der Genuss von Mäuseblut menschliche Diebe hervorbringen. Stroibus wittert eine wissenschaftliche Revolution. Phintias ist skeptisch:
    "‘Ich habe den Göttern ihr Geheimnis entrissen‘, erwiderte Stroibus. ‚Ich habe die Gesetze der göttlichen Grammatik entdeckt. Der Mensch ist die Syntax der Natur.‘"
    Die beiden Philosophen streiten also eine Weile. Dann trinken sie Mäuseblut und werden zu rechten Langfingern. Als Bibliotheksgehilfen des Ptolemaios haben sie reichlich Gelegenheit dazu.
    "Zu diesem Zeitpunkt hatte Ptolemaios bereits viele Schätze und Kostbarkeiten in der Bibliothek zusammengetragen, und da es sie zu ordnen galt, bestellte er fünf Grammatiker und fünf Philosophen für diese Aufgabe, darunter Stroibus und Phintias. ... Nach einiger Zeit verzeichnete man gravierende Lücken im Bestand: eine Ausgabe von Homer, drei Manuskriptrollen aus Persien, zwei aus Samaria, eine unersetzbare Sammlung originaler Briefe von Alexander, Abschriften von Gesetzen aus Athen, das zweite und dritte Buch von Platons ‚Politeia‘ und so weiter und so fort."
    Antikenrezeption eines Bildungsaufsteigers
    Die Geschichte nimmt eine unerwartete Wendung, denn die Diebe werden gemäß den lokalen Gesetzen verurteilt und in den Kerker gesteckt. Bis sie dort eines Tages von dem Arzt Herophilos wieder hervorgeholt werden. Ein Anatom will schneiden – und zwar nicht mehr nur an Mäusen, sondern an menschlichen Verbrechern. Und wenn am Ende dieser überaus makaberen Erzählung die Mäuse triumphieren und damit die Bodenlosigkeit des Gesetzes offen zu Tage tritt, dann scheint auch ein bisschen Kafka durch die Welt des luziden Brasilianers. Natürlich muss es umgekehrt gewesen sein.
    Man hat es zweifellos mit einer Literaturliteratur zu tun. Nicht nur, dass man wunderbar Antikenrezeption mit dem Bildungsaufsteiger Machado de Assis betreiben kann. Auch, weil einem sofort eine ganze Reihe kanonischer Autoren einfallen, die irgendwie in seiner Tradition zu stehen scheinen. Eine Generation nach Borges hat noch ein anderer Argentinier Literaturgeschichte geschrieben, die an Machado de Assis angelehnt zu sein scheint – aus dem Pariser Exil heraus. Julio Cortázar verfasste neben dem avantgardistischen Roman "Rayuela" vor allem Miniaturen voller skurriler Weisheit: Wissenschaftssatiren, fantastische Farcen, surreale Alltagsszenen, unheimliche Begebenheiten. In den "Cronopien und Famen" heißt es in enger Verwandtschaft zu den absurden Phantasien des Meisters aus Brasilien:
    "Eine Esperanze glaubte an die physiognomischen Gattungen wie etwa die der Plattnasigen, die mit Fischkopf, die Windbeutel, die Griesgrame und die mit buschigen Augenbrauen, die Eierköpfe und die vom Typ Haarschneider und so fort. Gewillt, diese Gruppen endgültig zu klassifizieren, fing sie an, von den Bekannten lange Listen anzulegen, und reihte sie in die obengenannten Gruppen ein. Danach nahm sie die erste, von acht Plattnasen gebildete Gruppe vor und sah zu ihrem Erstaunen, dass sich diese Burschen tatsächlich in drei Gruppen unterteilten, nämlich in: die schnurrbärtigen Plattnasen, Plattnasen vom Typ Boxer und die Plattnasen vom Stil Ministerialamtsbote, wobei sich jede Gruppe aus je 3, 3 und 2 Plattnasen zusammensetzte."
    Venezianische Spinnenrepublik
    Das klingt verdächtig nach einer Erzählung Machado de Assis’, in der ein Wissenschaftler im Jahr 1876 behauptet, die Sprache der Spinnen entdeckt zu haben. Woraufhin er eine Spinnenrepublik nach venezianischem Vorbild gründet und einzelne Spinnenbürger zu Volksvertretern wählen lässt.
    "Besagtes Spinnenvolk besteht überwiegend aus Geometrikern, weshalb die Geometrie das Volk auch politisch spaltet. Die einen sind der Meinung, die Spinne müsse ihre Netze mit geraden Fäden weben – das ist die geradlinige Partei; andere sind der gegenteiligen Meinung, die Netze müssten mit krummen Fäden gefertigt werden – das ist die Krummlinige Partei. Es gibt auch noch eine dritte, gemischte und dem Zentrum zuzurechnende Partei, die Folgendes postuliert: ‚Die Netze müssen mit geraden und krummen Fäden gewebt werden.‘ Das ist die Gerad-Krummlinige Partei; und schließlich ist da noch ein viertes politisches Lager, die Anti-Gerad-Krummlinige Partei, die Tabula rasa macht mit all diesen strittigen Prinzipien und die Verwendung von luftgewebten Netzen befürwortet, durchsichtiger, leichter Gebilde, die über keinerlei Linienführung mehr verfügen."
    In Machado de Assis’ Geschichten steht grundsätzlich alles auf dem Kopf. In "Die Kirche des Teufels" wird das göttliche Prinzip des Guten ad absurdum geführt. Das Böse ist oberste Tugend. Und so staunt und flucht der Teufel nicht schlecht, als sich nach und nach die Menschen abwenden vom Bösen, um heimlich Gutes zu tun. In "Die Akademien von Siam" streiten sich die Gelehrten über die Frage, "Warum gibt es Männer, die weiblich, und Frauen, die männlich sind?" Und in "Adam und Eva" wird die Welt vom Teufel erschaffen. Überhaupt hat der Teufel ziemlich viel zu sagen in diesen Erzählungen aus den katholisch missionierten Tropen. Nicht nur der antike, auch der christliche Kanon, ist das Spielmaterial dieses hintersinnigen Autors – nur dass bei ihm alles mit umgekehrten Vorzeichen rezipiert wird. Und wer Machado de Assis nun vorwirft, sich mit dem Kanon der Eliten in den Kanon der Eliten eingeschrieben zu haben, übersieht, wie subtil er die herrschende Ordnung von "Herrenhaus und Sklavenhütte", so der Titel eines berühmten politischen Essays von Gilberto Freyre, herausfordert.
    Alles steht auf dem Kopf
    Machado de Assis ist hiesigen Kennern seit dem Lateinamerika-Boom der sechziger Jahre gut vertraut. Vor allem seine Romane "Die nachträglichen Memoiren des Bras Cubas" oder "Quincas Borba" sind weltberühmt. Auch Machado de Assis’ "Meistererzählungen" hat es bereits 1965, dann 1995 wiederaufgelegt in deutscher Übersetzung gegeben. Dann wurde es still um den Autor. Die Manesse Bibliothek der Weltliteratur hat den Autor deshalb vor fünfzehn Jahren mit preisgekrönten Neuübersetzungen seiner Romane wieder ins Gespräch gebracht. Jetzt hat der Verlag mit einer neuen Übersetzung von Marianne Gareis und Melanie P. Strasser noch einmal nachgefasst. Drei der bereits bekannten Texte aus den "Meistererzählungen" wurden neu übertragen. Die restlichen zehn sind Erstübersetzungen. Die letzte trägt den Titel "Die Predigt des Teufels". Darin berichtet ein anonymer Erzähler von einem Manuskript, einem Auszug aus dem Evangelium des Teufels. Einer der Leitsätze darin lautet:
    "Selig, die blenden, denn sie werden nicht geblendet werden."
    Auch hier wieder die Upside-down-Methode. Denn Machado de Assis behauptet nicht nur das Gegenteil dessen, was der klassische Diskurs lehrt. Er zeichnet sich zu allem Überfluss nicht einmal verantwortlich dafür. Das macht ihn zu einem Freigeist ganz im Geiste der alten Ordnung. Ein bisschen Formverlust, der ganz ohne tropische Exotik auskommt. Die letzten Zeilen aus "Die Predigt des Teufels" klingen fast schon postmodern heiter bis wolkig:
    "Hier endet das Manuskript, das mir der Teufel selbst oder jemand an seiner statt überbracht hat; aber ich glaube doch, es war der Leibhaftige. Groß, mager, spitzbärtig, ganz Mephistopheles. Ich zeigte ihm mit den Fingern ein Kreuz, da verschwand er. Trotz alledem verbürge ich mich nicht für diese Schrift noch für ihre Lehrsätze und auch nicht für die Fehler der Abschrift."
    Joaquim Maria Machado de Assis: "Das babylonische Wörterbuch"
    Erzählungen
    aus dem brasilianischen Portugiesisch von Marianne Gareis und Melanie P. Strasser
    mit einem Nachwort von Manfred Pfister
    Manesse Verlag, München. 250 Seiten, 20 Euro.