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Joe Kaeser
Der Unruhestifter baut Siemens um

Er will 13.000 Jobs kippen, er kaufte Rolls-Royce, er stieß die Hörgeräte ab und die riesige Medizintechnik gliederte er aus: Seit Joe Kaeser vor zwei Jahren als Vorstandsvorsitzender antrat, baut er Siemens komplett um. Egotrip oder kluge Vision? Belegschaft und Analysten sind jedenfalls beunruhigt.

Von Wolfgang Kerler und Stephan Lina | 28.07.2015
    Der Vorstandsvorsitzende der Siemens AG, Joe Kaeser.
    Der Vorstandsvorsitzende der Siemens AG, Joe Kaeser. (picture alliance / dpa / Oliver Berg)
    Der Morgen des 9. Juni. Nürnberg, Frankenstraße. Letzte Absprachen zwischen Rudi Lutz von der IG Metall und zwei Polizisten.
    "Wir sperren ab. Jetzt haben wir gesagt, nachdem noch keine Leute auf die Straße sind, wollen wir so um neun ungefähr."
    "Ja, wunderbar."
    "Super."
    Rudi Lutz ist der zweite Bevollmächtigte der IG Metall in Nürnberg und gehört zu den Organisatoren des Siemens-Aktionstags. Er ist ein großer, fast schon hagerer Mann mit weißen Haaren. Natürlich trägt er einen knallroten Anorak mit dem Logo der IG Metall auf dem Rücken. Lutz hofft auf 500 Siemensianer von den Nürnberger Standorten. Dann wäre der Protest ein starkes Signal in Richtung Joe Kaeser, dem Siemens-Chef.
    "Ich glaube, wir haben jetzt das fünfte Personalabbauprogramm innerhalb der letzten fünf Jahre. Und das nervt die Beschäftigten irgendwann einmal. Und es kann doch nicht sein, dass immer, sobald irgendetwas passiert, reagiert der Vorstand mit Personalabbaumaßnahmen, egal wie der Vorstand momentan heißt."
    Und die Siemensianer kommen. Weit mehr als die von Rudi Lutz erhofften 500. Es dürften an die 1.200 Mitarbeiter sein, die sich auf der Straße zwischen zwei Siemens-Gebäuden versammelt haben.
    "Ich begrüße ganz herzlich die Kolleginnen und Kollegen vom Standort in Moorenbrunn."
    In der Belegschaft herrscht Verunsicherung
    Viele hier haben vor zwei Jahren große Hoffnungen in Joe Kaeser gesetzt. Endlich wieder ein altgedienter Siemensianer als Vorstandschef. Der würde Schluss machen mit Sparkursen, Umstrukturierungen, Stellenabbau - das war die Erwartung gewesen. Doch jetzt herrscht in der Belegschaft Ernüchterung. Schlimmer noch: Verunsicherung.

    "(Wir) nehmen Aufträge an auf der ganzen Welt. Wollen immer mehr Gewinne einfahren. Aber scheinbar ohne Mitarbeiter. Das funktioniert einfach nicht."
    "Ich arbeite jetzt 30 Jahre bei Siemens. Früher war das eine Familie. Und ich hab das Gefühl, das wird immer weniger und die Familie geht ein wenig auseinander."
    "Wir wollen unsere Arbeitsplätze behalten." - "Haben Sie denn Angst um Ihren Arbeitsplatz?" - "Ja, ich glaub, jeder Einzelne hier."
    "Ich sage, die Botschaft des heutigen Aktionstags ist: Es muss Ruhe einkehren und Schluss mit Arbeitsplatzvernichtung, Herr Kaeser."
    Jürgen Wechsler steht auf der Bühne, dunkle Jacke, blaues Hemd, modischer Schal. Er braucht keine rote IG Metall-Jacke zur Erkennung. Denn er ist in Bayern der Chef der Gewerkschaft und hat jahrzehntelange Erfahrung im Arbeitskampf. Mit erhobenem Zeigefinger warnt er Joe Kaeser, erinnert ihn an dessen Ankündigungen. Vor zwei Jahren habe er Ruhe versprochen. Im Aufsichtsrat hatte damals die Gewerkschaft seine Berufung unterstützt. Doch dann stürzte Kaeser den Konzern in einen Radikalumbau: Etwa 13.000 Jobs weltweit sollen wegfallen. Mehr als 5.000 davon in Deutschland.

    "Es war schon die Hoffnung, dass bei Siemens wieder Ruhe einkehrt. Und dass er mehr die Beschäftigten mit einbezieht, mehr auf Innovation setzt und mehr auch auf Langfristigkeit und nicht so sehr auf kurzfristige Margen und Gewinnerwartungen. Das war damals die große Erwartung und Herr Kaeser ist dabei, diese damaligen, in ihn gesetzten Erwartungen zu enttäuschen."
    2013: der frisch gebackene Siemens-Chef
    Rückblick ins Jahr 2013. Joe Kaeser gibt seine erste Pressekonferenz als frisch gebackener Siemens-Chef. Kameras klicken, mehr als hundert internationale Journalisten sind in den Innenhof der Münchener Konzernzentrale gekommen. Es geht um nicht mehr und um nicht weniger als die Zukunft eines deutschen Weltkonzerns:
    "Die höchste Priorität ist jetzt nicht ein weiteres Restrukturierungs-Programm. Die höchste Priorität, meine Damen und Herren, hat jetzt die Beruhigung unseres Unternehmens und die Stabilisierung seiner inneren Ordnung. Ich will, dass alle unsere Mitarbeiter, alle unsere Kunden, Geschäftspartner und unser Land wieder so stolz sein können auf Siemens, wie ich es immer gewesen bin, und wie ich es heute ganz besonders bin."
    Joe Kaeser. mittelgroß, kantiges Gesicht. An jenem Julitag vor zwei Jahren wirkt er wie einer, der angekommen ist. Mit der Welt und insbesondere mit sich selbst im Reinen und gleichzeitig angriffslustig. Und er gibt genau die Parole aus, die die verunsicherten Siemensianer hören wollen:"Siemens muss bei Siemens wieder über allem stehen. Und diesem Credo werden wir uns alle unterordnen. Alle - vom Vorstand bis zum Auszubildenden."
    Sparten völlig neu zusammengesetzt

    Danach legte Kaeser so richtig los, und das in einem schwindelerregenden Tempo. Er tüftelte ein Papier aus mit dem Namen "Vision 2020", das vor allem Umbau bedeutete. Kaeser zerschlug die bisherige Konzernstruktur, würfelte Sparten neu zusammen, kaufte den britischen Turbinenhersteller Rolls-Royce, verkaufte das Geschäft mit Hörgeräten und stieg aus der Gemeinschaftsfirma Bosch Siemens Hausgeräte aus. Und er kaufte für einen Milliardenbetrag Dresser-Rand, einen amerikanischen Zulieferer für die Öl- und Gas-Industrie. Überhaupt orientiert sich Siemens mehr und mehr ins Ausland, insbesondere in Richtung USA. Irgendwie folgt der Konzern damit der Biografie seines Chefs. Josef Käser aus der Bayerwald-Gemeinde Arnbruck, der für seine internationale Karriere zu Joe wurde, der das "ä" in Käser in ein "ae" verwandelte. Joe Kaeser schüttelt Siemens durch.
    Mitarbeiter von Siemens protestieren in Duisburg bei der Kundgebung der IG Metall mit dem Motto: "Wir kämpfen wie die Löwen". Der Protest richtet sich gegen den geplanten Stellenabbau bei Siemens.
    Mitarbeiter von Siemens protestieren in Duisburg bei der Kundgebung der IG Metall gegen den geplanten Stellenabbau im Konzern. (picture alliance / dpa / Roland Weihrauch)
    Ein schwüler Januar-Abend in Florida. Kennedy Space Center. Tausende sind gekommen, wie immer wenn am Weltraumbahnhof Cape Canaveral eine Rakete startet. Nur ein paar Männer tragen keine Flip-Flops und Shorts. Einer der Anzugträger ist Helmuth Ludwig. Für ihn geht es hier um sehr viel Geld. Ludwig leitet bei Siemens in den USA die Sparte PLM-Software. Programme, mit denen Industrieunternehmen ein Produkt entwerfen, testen und produzieren können. Ein Milliardengeschäft. Die Kundenliste ist beeindruckend: Fast jedes Raumfahrtunternehmen der Welt arbeitet mit der Software von Siemens. Auch der berühmte Mars Rover der NASA ist indirekt ein Siemens-Produkt. Helmuth Ludwig ist sein Stolz anzusehen:
    "Wenn Sie das physisch hätten machen wollen, also mit einem echten, physischen Modell, dann hätten Sie im Prinzip 16.000 Jahre warten müssen. Weil für jeden Test - müssten Sie wieder hochgehen auf den Mars. Das ist absolut unmöglich. Und das geht heute virtuell mit dieser Software."
    Ein Lichtblitz, ein Feuerball, und dann glaubt man, die Erde beben zu spüren. Es ist unvorstellbar laut. Die Menschen klatschen und johlen, doch der Applaus geht im Donner der Atlas-Rakete völlig unter, die in den Abendhimmel zischt. Ein Triumph auch für Siemens. Aber reicht das, um Kaesers Radikalkur zu rechtfertigen?
    Geringe Begeisterung bei den Analysten
    Im Frankfurter Bankenviertel jedenfalls glauben das viele nicht. In den Hochhäusern aus Glas und Stahl residieren wichtige Aktionäre von Siemens: die großen Fondsgesellschaften. Eine von ihnen: Union Investment. Besuch bei Fondsmanager Christoph Niesel. Ein großer, zurückhaltender Mann - dessen Job es ist, unsentimentale Analysen zu erstellen. Zu seinen Fachgebieten zählen die Industriekonzerne und damit auch das Schwergewicht Siemens. Er stellt gleich klar: Siemens ist nicht so wichtig für die Fondsgesellschaften, wie diese für das Unternehmen.

    "Siemens braucht eine starke deutsche Aktionärsbasis. Wir zusammen mit anderen Fondsgesellschaften halten sehr viele Siemens-Aktien, sind ein stabiler und loyaler Aktionär. Umgekehrt haben wir natürlich als Fondsgesellschaft und als Fondsmanager die Möglichkeit auch in andere Aktien als in Siemens zu investieren. Das heißt, wenn Siemens nicht so schöne Erfolge präsentieren kann, dann investieren wir einfach auch in andere Aktien."
    Viel Freude hat die Siemens-Aktie Analysten wie Christoph Niesel seit dem Antritt von Joe Kaeser nicht gemacht. Ihr Kurs ist zwar gestiegen, von um die 80 auf rund 95 Euro. Ein Plus von 20 Prozent. Der Deutsche Aktienindex DAX schaffte im gleichen Zeitraum aber ein Kursplus von rund 40 Prozent - das Doppelte also. Ähnlich gut lief es für die Aktie vom Siemens-Rivalen General Electric. Was hat Joe Kaeser also falsch gemacht?

    "Ich würde nicht sagen, dass er sehr viel falsch gemacht hat. Er hat ja richtige Dinge angestoßen. Aber die Konjunktur hilft halt ihm nicht beim Umbau. Viele Märkte in Russland und China liegen darnieder, die Konjunktur in Westeuropa erholt sich nicht so wie erhofft. Der Öl- und Gaspreisverfall belastet die Nachfrage nach Siemens-Produkten. Und dazu kommt, dass die Erfolge aus seinen Umbaumaßnahmen natürlich nicht jetzt, sondern erst in ein paar Jahren so richtig sichtbar sind."
    "Er muss seine Ziele erreichen"
    Schild mit Aufschrift "Siemens" auf einem Gebäude
    Siemens- Niederlassung in Dresden (dpa/picture alliance/Arno Burgi)
    Niesel - und übrigens auch andere Analysten - unterstützen den Kurs von Joe Kaeser. Doch sollte Kaesers Strategie in absehbarer Zeit keinen Erfolg bringen, braucht er nicht auf die Gnade der Finanzmärkte zu hoffen. Das macht Christoph Niesel, auch wieder ganz unsentimental, klar.

    "Gut, die Marge liegt aktuell bei zehn Prozent. Das heißt, von jedem Euro der Siemens umsetzt, hat man 10 Cent Gewinn. Das ist zu niedrig - im Vergleich zum Wettbewerb. Da erwarten wir in den nächsten Jahren eine progressive Steigerung in Richtung 12, 13 Prozent. Er hat die Erfolge, die mit dieser Vision 2020 verbunden sind - sprich höhere Profitabilität und mehr Wachstum zu erzeugen - hat er mit seiner persönlichen Stellung verbunden. Das heißt, sollte er seine Ziele nicht erreichen, wird es für ihn natürlich ziemlich eng."
    "Was fällt ihnen denn zur Firma Siemens ein?"
    "Geschirrspüler, Waschmaschine… Und natürlich auch Telefon."
    "Küchengeräte haben wir von Siemens."
    "Vor allem Waschmaschinen, Spülmaschinen, solche Dinge."
    So denken Konsumenten am Münchener Odeonsplatz, wenn man sie auf Siemens anspricht. Gerade mal einen Steinwurf entfernt residiert der Konzern in einem klassizistischen Palais, auf dem eleganten Wittelsbacherplatz. Ernst Koether geht es auch um "die ganz normalen Konsumenten". Koether ist der Vorsitzende des Vereins der Belegschaftsaktionäre. Tausende Mitarbeiter, die Aktien ihres Unternehmens haben, bündeln darin ihre Stimmrechte. Ernst Koether fing 1975 bei Siemens an, entwickelte am Standort Neuperlach Software - und ist mittlerweile in Pension. Sein Verein ist "mittel zufrieden" mit Joe Kaesers Arbeit. Nicht überzeugen konnte er die Belegschaftsaktionäre allerdings vom Verkauf der Haushaltsgerätesparte.
    "Wenn der Name Siemens immer mehr verschwindet aus dem täglichen Leben, dann ist das sicher ein Problem fürs Image."
    Das ist aber nicht die größte Sorge, die Ernst Koether und die Belegschaftsaktionäre derzeit umtreibt. Sie fürchten eher, dass Joe Kaeser abheben und zu sehr zum "Mr. Siemens" werden könnte.
    "Ich höre aus der Zentrale hier um die Ecke, dass sich viele Mitarbeiter nicht mehr trauen, ihre Meinung zu sagen, zu widersprechen. Und das ist immer schlecht. Weil, ein Mensch, der ohne Außenkontrolle arbeiten muss, verrennt sich halt leichter. Ich will sehe schon eine Tendenzen, dass er sich mit Gefolgsleuten umgibt."
    Diese kritische Einschätzung teilen viele Beobachter. Spötter sprechen längst von "König Joe", der sich binnen kürzester Zeit zum Alleinherrscher bei Siemens aufgeschwungen hat und Kritik nicht mehr an sich heranlässt. Man könnte aber auch sagen: Kaeser hat aus den Fehlern seines Vorgängers gelernt. Über ein Jahr lang hatten mächtige Vorstandsmitglieder 2012 und 2013 ihren damaligen Vorsitzenden Peter Löscher hinter den Kulissen und auch öffentlich demontiert. Mit Intrigen, fein gesetzten verbalen Spitzen, guten Kontakten zu Journalisten, denen man Munition gegen den Chef lieferte. Löscher musste machtlos zusehen, wie er erst isoliert und dann abgesetzt wurde. Ein solcher Putsch ist heute undenkbar. Der Reporter hat noch gut im Ohr, wie Kaeser bei seinem Amtsantritt drohte: "Wer nicht spurt, der fliegt."
    Umbau des Vorstands durchgesetzt
    "Weil ich Ihnen auch sage, dass bei Siemens wieder Siemens an erster Stelle steht. Und ich garantiere Ihnen: Jeder, der das nicht versteht, dem werde ich helfen. Einmal. Zweimal. Wahrscheinlich sogar dreimal. Aber, wer das noch immer nicht verstehen will, der ist bei uns nicht richtig eingesetzt. "
    Gesagt, getan: Innerhalb kürzester Zeit hat Kaeser den Vorstand umgebaut. Als erste musste Personalchefin Brigitte Ederer gehen. Ihr Vergehen - noch in der Ära Peter Löscher: Sie hatte sich geweigert, den hoch dotierten Vertrag des mächtigen Betriebsratschefs Lothar Adler über die Altersgrenze hinweg zu verlängern. Das stieß den machtbewussten Funktionären aus Gewerkschaft und Betriebsrat jedoch sauer auf. Wie es in gut informierten Kreisen heißt, gab es daraufhin einen Deal mit dem damaligen Finanzvorstand Kaeser: Wenn wir Dich im Machtkampf mit Löscher unterstützen, dann muss Ederer gehen. Bewiesen ist das bis heute nicht. Brigitte Ederer sagt offiziell, sie wisse nicht, warum ihr Engagement in München ein plötzliches Ende fand. Abgesägt wurden auch die selbstbewussten Chefs der Sparten Energie und Medizintechnik. Heute hat Joe Kaeser ein Führungsgremium, auf dessen unbedingte Loyalität er zählen kann. Das mag die Schlagkraft erhöhen und gut fürs Ego sein, hat aber nicht nur Vorteile.
    Wie weiter mit der Zugsparte?

    Siemens-Flaggen im Wind, davor laufen Menschen
    Das Unternehmen soll wieder zurück auf den Wachstumskurs. (Peter Kneffel, dpa picture-alliancec)
    Bangkok, acht Uhr morgens an einem x-beliebigen Tag. Auf die Minute genau rollt die U-Bahn in die Station Makkasan ein. Der Zug stammt von Siemens. Die Münchener sind der Hoflieferant des öffentlichen Nahverkehrs der thailändischen Hauptstadt. Flughafenexpress, U-Bahn, Skytrain, ein Zug auf Stelzen: Alles made by Siemens. Der Konzern hat in Thailand einen Ruf wie Donnerhall: Die Züge haben eine Zuverlässigkeitsquote von mehr als 99 Prozent. Davon kann die Deutsche Bahn nur träumen. Inzwischen bietet der Konzern digital vernetzte Schienenfahrzeuge an, bei denen Techniker per Knopfdruck erkennen können, ob ein Bauteil verschlissen ist.
    "Die neuesten Fahrzeuge werden ausgeliefert mit Funkverbindungen, wenn man so möchte. So dass etwas möglich wird, was wir als Online-Diagnose verstehen. Und da, wo diese Daten dann ankommen gehen wir mit Spezialisten zu Werke. Und die stellen also fest, dass zum Beispiel Wartungsintervalle anders optimiert werden können."
    Der Mann, der das überaus stolz sagt, heißt Jochen Eickholt und leitet das weltweite Eisenbahngeschäft von Siemens. Gerade hat Eickholt bei einer Konferenz um weitere Aufträge geworben, die Thais wollen Milliarden in den Ausbau ihres Schienensystems investieren. Dennoch weiß Eickholt auch, dass sich der Wettbewerb verschärft. Die beiden größten chinesischen Zughersteller haben sich gerade zusammengeschlossen und wollen nun den Weltmarkt erobern. Was heißt das für Siemens? Eickholt atmet einmal durch und antwortet diplomatisch:
    "Es ist so, dass die Zielsetzung auch der chinesischen Regierung zu sein scheint, dieses neu entstandene Unternehmen massiv im Ausland zu stützen. Und das ist natürlich etwas, was bei uns zumindest Aufmerksamkeit hervorruft."
    Die Frage ist nun: Wie reagiert Joe Kaeser? Noch vor knapp einem Jahr hatte er die Bahnsparte bereits zur Verhandlungsmasse erklärt. Im Tauziehen um Alstom hatte er angeboten, das gesamte Zuggeschäft an die Franzosen abzugeben, um an deren Kraftwerkssparte zu kommen. Die Empörung war groß an deutschen Standorten wie Nürnberg, Erlangen und München-Allach. Dann hieß es: Kommando zurück. Siemens bleibt Zughersteller. Doch gilt das auch für die Zukunft?
    Millionen für ein Forschungszentrum
    Der Siemens-Chor Erlangen beim Einsingen. 60 Männer und Frauen jeden Alters. Alle stehen im Kreis um den Chorleiter. Die meisten hier sind Siemens-Beschäftige, Pensionäre oder Mitarbeiter von ausgegliederten, früheren Siemensbetrieben. In Erlangen schlägt eben noch immer das Herz des Konzerns. Mit 23.000 Mitarbeitern ist es der größte Standort in Deutschland. Auch hier haben Firmenumbau und Stellenstreichungen für ordentlich Unruhe und Unmut gesorgt. Doch Siemens investiert auch in Erlangen, baut für hunderte Millionen einen neuen "Campus" im Süden der Stadt. Ein neues Forschungs- und Entwicklungszentrum, in dem bisherige Erlanger Standorte gebündelt werden sollen. Das schmeichelt der Siemensianer-Seele.

    "Ich hab '77 bei Siemens angefangen, hab eine Ausbildung gemacht bei Siemens. Damals war das Thema Siemens-Familie noch ein ganz großes Thema, ist es auch heute noch. Und man fühlt sich in Erlangen der Firma Siemens immer in irgendeiner Art und Weise verbunden."
    Das sagt die Vereinsvorsitzende des Chors. Mittlerweile arbeitet Gabriele Richardson nicht mehr bei Siemens. Aber zur Familie zugehörig fühlt sie sich schon noch. Ihr Stellvertreter, Michael Vieth, verdient nach wie vor in der Firma sein Geld - und das auch schon über 35 Jahre. Er weiß von den Problemen, die es derzeit in der Energiesparte gibt - aber Probleme habe es bei Siemens in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder gegeben. In Erlangen ging es jedoch immer glimpflich aus.
    "Bei den Chorproben spüre ich nichts davon. Vielleicht hängt das auch damit zusammen, dass man in der Freizeit gerne mal abschaltet von den Sorgen, die man im Tagesablauf hat."
    Hier in Erlangen scheint es sie also noch zu geben, die Siemens-Familie, die seit Jahrzehnten immer wieder beschworen wird. Mitarbeiter, für die der Konzern mehr ist als nur ein Arbeitgeber. Die aber auch tief verunsichert sind von einer Führung, die auf der einen Seite Beruhigung verspricht, während sie auf der anderen Seite den größten Umbau der Firmengeschichte durchzieht. Manche fragen sich: Ist Siemens nur noch ein Verschiebebahnhof, in dem Joe Kaeser einsame Entscheidungen trifft, die dann als Vision verbrämt werden? Allmählich muss sich jedenfalls zeigen, ob sich die Rosskur lohnt. Ob Kaeser als Visionär in die Konzern-Annalen eingehen wird - oder als Illusionist.