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Jörg Schröder: "Siegfried"
Frech, despektierlich, indiskret

Die „Zeit“ nannte es eine „Bombe im gelben Umschlag“: Jörg Schröders „Siegfried“ war Popliteratur, bevor es das Wort überhaupt gab. Frech, despektierlich und indiskret plauderte Schröder über das Who's Who der damaligen Literaturwelt. Nun ist das Buch in erweiterter Fassung neu erschienen.

Von Enno Stahl | 02.11.2018
    Buchcover: Jörg Schröder: „Siegfried. Jörg Schröder erzählt Ernst Herhaus“
    Zum 80. Geburtstag ist Jörg Schröders Erzählbuch "Siegfried" neu erschienen. (Buchcover: Schöffling & Co. Verlag, Foto: imago stock&people)
    Als "Bombe im gelben Umschlag" bezeichnete die Wochenzeitung "Die Zeit" einst Jörg Schröders "Siegfried". 1972, als das Buch erschien, schlug es in der Tat ein wie ein Sprengkörper. Denn der Autor nahm darin kein Blatt vor den Mund, überaus freimütig schilderte er sein Libertin-Leben zwischen Suff und Puff. Schröder war damals ohnehin bekannt wie ein bunter Hund, eine skandalträchtige Person, Chef des legendären März-Verlags, genau: Jenes Verlags mit den knallgelben Covern und den gellend roten Titeln in Dada-Typographie, die in den 70er/80er Jahren alle Bücherregale zierten. Diesen anspruchsvollen Literatur-Untergrundverlag, in dem unter anderem Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla ihr Buchmanifest "ACID" veröffentlichten, finanzierte Schröder mit den Einnahmen aus der Olympia Press, dem ersten Porno-Verlag Deutschlands.
    Verleger plaudert aus dem Nähkästchen
    Im Buch "Siegfried" nun plauderte er aus dem Nähkästchen, nicht nur was sein Privatleben anging: Darüber hinaus verriet er all jene Betriebsgeheimnisse und intimen Details, die für gewöhnlich unter der Oberfläche bleiben – und er nannte Klarnamen. Das brachte dem Buch zahlreiche Prozesse ein, unter anderem klagten ehemalige Verlagsmitarbeiter, die sich in Schröders Erzählung schlecht getroffen sahen. Es erschienen eine Reihe weiterer Auflagen, jede mit neuen Schwärzungen, die durch Gerichtsurteile erwirkt wurden. Das "Plaudern" darf man übrigens wörtlich nehmen, denn "Siegfried" erzählte Schröder seinem Freund Ernst Herhaus auf dessen Initiative hin mündlich. Herhaus nahm das Gespräch auf Tonband auf, tippte es ab, redigierte es leicht, fertig war der Roman – kaum einen Monat hatte das gedauert.
    Nachdem das Buch eine Weile vergriffen war, ist nun eine Neuausgabe im Schöffling Verlag erschienen, auch sie weiterhin mit einigen Schwärzungen. Was macht den "Siegfried" so aktuell, dass es offensichtlich ein anhaltendes Bedürfnis danach gibt? Der Skandalfaktor spielt wohl noch immer eine Rolle, vermutet Jörg Schröder:
    "Vor sechsundvierzig Jahren, als ich Ernst Herhaus diesen ,Siegfried'-Text erzählte, auf Band, da habe ich mir natürlich schon überlegt und klargemacht, bzw. wir beide haben überlegt, dass das ein mittleres Erdbeben in der Branche und im Kulturbetrieb erzeugen wird. Das war uns klar, und das hat ja auch stattgefunden, ziemlich heftig sogar. Aber ich habe natürlich nicht im Traum damit gerechnet, dass das Buch über hunderttausend verkaufen würde und zwar nicht nur kurzfristig, sondern über die Jahre in diversen Auflagen. Aber dass das Buch ein Kultbuch werden würde, das haben weder Ernst Herhaus noch ich uns ausgemalt."
    Orales Erzählen als literarische Form
    Schröder kann in der deutschen Literaturgeschichte wohl als derjenige gelten, der das orale Erzählen zur literarischen Form geadelt hat. Zeugnis dessen ist nicht nur der "Siegfried", sondern auch das seit 1990 mit seiner Lebensgefährtin Barbara Kalender betriebene Projekt "Schröder erzählt", das in Einzelheften für eine feste Anzahl von Subskribenten erschien. Just in diesem Jahr haben Schröder/Kalender diese Reihe mit 68 Folgen und insgesamt 4000 Seiten beendet. Was ist eigentlich der Grund dafür, dass Schröder diese Variante des literarischen Arbeitens gewählt hat, hat er nie daran gedacht, "schreibend" zu erzählen?
    "Ich bin eben ein Geschichtenerzähler. Ich war schon als kleines Kind ein Geschichtenerzähler. Und ich fand es nicht vernünftig, wenn man diese Begabung hat, ich nenne das jetzt mal so – Eigenlob ist zwar immer ein bisschen peinlich, aber man muss ja Tacheles reden –, aber wenn man diese Begabung hat und diese gewisse Spontaneität und diese Frische hat, die aus dem Erzählton kommt, warum soll man sich da hinsetzen vor das leere Stück Papier und das Papier anstarren?"
    Wenn man "Siegfried" heute liest, entwickelt das Buch ein rasantes Tempo. Es kultiviert eine ziemliche Direktheit im Ausdruck, eine deftige Meinungsfreude und wirkt damit beinahe so wie Popliteratur avant la lettre...
    "Das ist vollkommen richtig gesehen. Wir haben ja wirklich andere Bücher gemacht, wie Ken Kesey ,Einer flog übers Kuckucksnest', das ist ja auch ein sehr spontan geschriebenes Buch. Wir haben die Bücher von Leonard Cohen gemacht, der auch, bevor er ein so berühmter Barde wurde, drei Romane geschrieben hat, die wir veröffentlicht haben. Nicht nur der Ton, sondern auch die Ingredienzien dieser Literatur haben ja das sozusagen literarisch-Literarische weit überstiegen. Und dazu war ja der März Verlag, den wir ja gemacht haben, na ja, ich möchte fast sagen: die größte literarische Bühne in Deutschland."
    Die Methode des unmittelbaren Erzählens haben Jörg Schröder und Barbara Kalender im bereits genannten Projekt "Schröder erzählt" dem "Siegfried" gegenüber nach eigener Aussage weiterentwickelt, nämlich dadurch literarisiert, dass sie verschiedene Überarbeitungsphasen über den ursprünglichen Text laufen ließen.
    Die Bedeutung des Zuhörers für das Erzählen
    Eine Frage zu dieser Verfahrenstechnik ist allerdings noch unbeantwortet: Ist es für Schröder eigentlich wichtig, wem er etwas erzählt? Immerhin wird der inzwischen verstorbene Ernst Herhaus, dem er damals den "Siegfried" erzählte, heute immer noch mitgenannt. Und die Hälfte der Tantiemen geht an das Archiv, das Herhaus' Nachlass bewahrt. Ist also der Zuhörer, die Zuhörerin auch für die Erzählung von Bedeutung?
    "Allerdings, ja! Ich erzähle natürlich Kreti und Pleti, das ist ja nun mal meine Eigenart. Aber das hat ja mit veröffentlichter Literatur ja gar nichts zu tun. Das, was wir machen, ist eine Variante pikarischer Literatur, pikarische Literatur im Gewande der Postmoderne."
    Ein Schelmenroman oder auch ein schelmischer Entwicklungsroman – das ist durchaus eine treffende Beschreibung für das Erzählbuch "Siegfried": diesen durchaus drastischen bis ruppigen Bericht über Schröders Werdegang, seine Erfolge und die Fährnisse, die er bis zu seinem 34. Lebensjahr überstand. Und weil das natürlich lange Zeit her ist, hat Barbara Kalender das ursprüngliche Manuskript um eine umfängliche Schröder-Biographie der Zeit von 1972 bis heute erweitert. Mit Zitaten aus "Schröder erzählt" sowie Bildern und Materialien aus dem März-Verlagsbestand im Deutschen Literaturarchiv Marbach ergänzt und illustriert diese Dokumentation vieles von dem, was im Haupttext vorkommt. Sie wirft ein Schlaglicht auf eine wahrhaft pikarische Existenz, die mit Millionen jonglierte, Millionen vergeudete für die Gewissheit, das Richtige zu tun. Die in die Literaturgeschichte eingegangen ist, weil sie einer anderen Art von Literatur eine Bresche schlug. Und die sich in dieser Bresche mit den eigenen Erzählungen selbst häuslich eingerichtet hat.
    Jörg Schröder: "Siegfried. Jörg Schröder erzählt Ernst Herhaus."
    Verlag Schöffling & Co., Frankfurt a.M. 539 Seiten, 28 Euro.