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Johan Simons inszeniert Siegried Lenz
"Deutschstunde" auf der Bühne

Nun hat er die Theaterpremiere seines berühmtesten Werks nicht mehr erlebt: Siegfried Lenz hatte den niederländischen Regisseur Johan Simons nach Hamburg geholt, damit er seinen Roman "Deutschstunde" am Thalia Theater auf die Bühne bringt. Jetzt war Premiere; Lenz aber ist bereits Anfang Oktober gestorben.

Von Alexander Kohlmann | 23.11.2014
    Siegfried Lenz sitzt auf einem Podium und erzählt.
    Siegfried Lenz hatte Johan Simons sogar zu sich nach Huase eingeladen, um die Inszenierung von "Deutschstunde" vorzubereiten. (dpa / Angelika Warmuth)
    Ganz dunkel ist es auf der Bühne des Thalia Theaters. Verschwommen sind weiße Gebilde wie Nebelschwaden zu erkennen. Eine Kerze flackert - ganz vorne sitzt Sigi mit kurzer Hose und Hemd: "Sie haben mir eine Strafarbeit gegeben. Ich muss die Deutschstunde nachholen", sagt er - und beginnt sich zu Erinnern. Aus der Dunkelheit schält sich ein Erinnerungsraum. Es ist ein aus groben Holzleisten gezimmertes riesiges Trapez, das gekippt im Raum schwebt. Spiegel vervielfältigen das Bild nach links und rechts. Alles scheint im Fluss, ein Bild von Transzendenz und Unendlichkeit.
    Siegfried Lenz' "Deutschstunde" ist ein Roman, der geschickt mit mehreren Erzählebenen spielt. Da ist der junge Siggi Jepsen, der in der "Deutschstunde" an einem Strafaufsatz scheitert – Thema: "Die Freuden der Pflichterfüllung." Er gibt ein leeres Blatt ab, jedoch mitnichten aus bösem Willen oder Arbeitsverweigerung. Im Gegenteil: Die Aufgabe löst in ihm einen wahren Erinnerungsschub aus. Im Arrest schreibt er sich eine lange Familiengeschichte von der Seele. Es ist dieser Aufsatz, der den größten Teil von Lenz' Roman ausmacht. Lenz erzählt eine Geschichte, die zwar in der Vergangenheit spielt, aber konsequent in der "Ich"-Perspektive eines sich erinnernden Protagonisten geschrieben ist.
    Alles was wir lesen und vor dem inneren Auge zu sehen bekommen, ist geprägt durch die Erinnerungsarbeit von Siggi Jepsen, der wie jeder Mensch erst durch das Sortieren im Gedächtnis der eigene Biografie eine logische Verknüpfung geben kann. Dieses Epische Präteritum in eine Theaterinszenierung umzusetzen, ist naturgemäß eine große Herausforderung - weil Schauspieler auf der Bühne immer gegenwärtig sind.
    Oder anders gesagt: Wer auf der Bühne steht, ist da, im hier und jetzt - nicht in der Vergangenheit und schon gar nicht durch die Erinnerung gefärbt und konstruiert.
    Der Inszenierung von Johan Simons gelingt trotzdem das Kunststück, die epischen Textwelten in ein faszinierendes Bühnenbild zu übersetzen. Auf dem schiefen Raum müssen die Figuren aus Siggis Leben stetig balancierend, aufpassen, dass sie nicht nach unten rutschen. Einige Vorsprünge bieten Halt, wenn die beiden zentralen Vaterfiguren in Siggis Lebensgeschichte in diesem surrealen Bild zum Duell antreten. Siggis leiblicher Vater und Polizist, der mit einem überraschend durchlässigen, schlanken und windigen Körper ausgestattet ist, hat mit seiner sonoren Stimme eine eindrucksvolle Präsenz.
    "Dein Vater führt eine Flamme an der Leine, löst das Halsband und befiehlt dieser Flamme, los such."
    Jens Harzer spielt den Vater in dieser Inszenierung nicht als kalten Despoten, sondern von einer perversen Liebe zur Pflichterfüllung geradezu besessen. Ein würdiges Gegenbild gibt Sebastian Rudolph als Maler und Outsider mit offenem Hemd und verrutschten Haaren. Einer, der nicht nur Bilder malt, sondern die Menschen um sich herum benutzt. Siggis Bruder Klaas zum Beispiel. Der Maler streichelt ihm sanft den Bauch - und versteckt ihn zur Bereicherung des eigenen Lebens vor den Nationalsozialisten.
    "Die Farbe, die hat immer etwas zu erzählen. Manchmal stellt sie sogar Behauptungen auf".
    Siggis Vater schwant - nicht ganz zu Unrecht -, dass der einstige Freund und Maler sein gesamtes Familien-Konstrukt untergräbt. Und das, obwohl er alles tut, dem Befehl aus Berlin nachzukommen, diesen Maler nur ja am Malen von Bilder zu hindern. Bilder sind aber auf der Bühne überhaupt nicht zu sehen, und Bilder sind in diesem Konflikt auch nicht das Hauptproblem. Ebensowenig wie eine Auseinandersetzung mit der NS-Politik. Es geht um Macht, die Maler und Vater beide für sich beanspruchen. Der eine, indem er auf eine sklavische Pflichterfüllung pocht, der andere, indem er mit seiner Kunst versucht, die Familie des Vaters zu unterwandern.
    Beide züchtigen auf ihre Art Sohn Siggi, der ausgestreckt an der Rampe des Holzraumschiffes liegt. Der Vater, fast liebevoll, mit den Händen - der Maler mit Ausstrahlung und Indoktrinierung. Und wo bleibt während dieses Duells der Blick des sich erinnernden Sohns? Genau hier krankt die Übertragung des Lenzschen Textgebildes. Die Bühnenfassung von der Dramaturgin Susanne Meister ist sehr dialogisch aufgebaut. Die Protagonisten aus Siggis Vergangenheit entstehen nicht erst durch die Sprache in der Erinnerung, sondern sie beanspruchen eine starke und unabhängige Präsens auf der Bühne.
    Das sind keine Geschöpfe der Vergangenheit, sondern mächtige, um ihren Einfluss kämpfende Gestalten. Und schwere Konkurrenz für das eigentlich alles gestaltende, literarische Ich. Über weite Strecken liegt Jörg Pohl als der junge Siggi einfach nur mit geschlossenen Augen auf dem Bretter-Traumschiff herum. Wenn er mal was sagt, gerät es oft einfältig, der hellste scheint er nicht zu sein - seine Erinnerungen sehen wir nicht.
    Als zum Schluss das Traumbild langsam in der Dunkelheit verlischt und Siggi alleine mit seiner Kerze an der Bühnenrampe zurückbleibt, beginnt er in Lenz Erzählung jenen Aufsatz zu schreiben, den wir gerade zwei Stunden lang verfolgen durften. Im Thalia-Theater fällt die Erinnerungsarbeit jedoch aus. Die letzten Worte dieses Abends sind:
    "Sie haben mir eine Strafarbeit gegeben und ich gebe ein leeres Heft ab".