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Johann Sebastian Bach
Das Streben nach Vollkommenheit

Wer war Johann Sebastian Bach, wie wurde er zu einem der größten Komponisten der Musikgeschichte? Jens Johler schreitet in seiner Romanbiografie "Die Stimmung der Welt" nicht einfach die Eckdaten von Bachs Leben ab, sondern füllt die Leerstrecken dazwischen fantasiereich und schlüssig zugleich aus.

Von Barbara Sichtermann | 26.06.2014
    Eine Büste von Johann Sebastian Bach in Weimar.
    Johann Sebastian Bach lebte und komponierte jahrelang in Weimar. (dpa / Ralf Hirschberger)
    In der Welt der Musik gibt es keinen Klang, der so volltönend ist wie der Name Johann Sebastian Bach. Die Gemeinden, die zu Bach-Konzerten strömen, sind nicht nur zahlreich, sondern auch kenntnisreich, sie wissen, was für einem Genie sie huldigen. Sie kennen und sie brauchen seine Sonaten, seine Kantaten, seine Fugen, seine Messen, seine Motetten, seine Passionen, sein "wohltemperiertes Klavier". Umso erstaunlicher, dass sie, dass wir alle von Leben und Persönlichkeit des berühmten Organisten und großen Komponisten herzlich wenig wissen.
    Diesen Umstand hat sich der Schriftsteller Jens Johler zunutze gemacht. Ihm schien es gerechtfertigt, die verstreuten Eckdaten, die über den Lebensweg des Johann Sebastian Bach überliefert sind, festzuhalten, und die langen Leerstrecken dazwischen auszufüllen nach Art eines Romans, einer Erzählung unter Vorbehalt: So hat es sich abspielen können, lieber Leser, liebe Leserin, so oder auch ein wenig anders. Johler zeigt uns den jungen Bach als ernsthaften, grüblerischen Menschen auf der Suche nach seinem Ziel, - ja, sagen wir ruhig: seiner Mission. Und was er findet, ist nicht weniger als der Jahrtausende alte Traum von der Weltharmonik, der Traum, die Harmonie der Instrumente mit der Harmonie des Himmels in Einklang zu bringen.
    Der Mensch hinter dem Werk
    Jens Johler bringt uns Bach nahe als einen Musiker, dessen Leben und Streben dominiert ist von Tönen und Tonabständen, von Melodien und Polyphonien, von Instrumenten und deren möglicher technischer Vervollkommnung. Er bringt uns kraft seiner Fantasie eine Persönlichkeit nahe, die so ganz anders gewesen sein muss als ihr glorioser Nachruhm: Recht bescheiden, etwas schüchtern, anspruchslos, was die Bequemlichkeiten der Lebensführung betrifft, anspruchsvoll, was den Zustand der Orgeln betrifft, die er zu bedienen hatte, gar nicht bescheiden, wenn es um die Lehrmeister ging, von denen er unterrichtet werden wollte und kein bisschen schüchtern, wenn die Musik in Rede stand, die er zu des Höchsten Preis erschaffen musste.
    "Oft pilgerte er zur Johanniskirche am Marktplatz, wo der große Georg Böhm die Orgel spielte. Tage- und wochenlang träumte Bach davon, Schüler dieses Meisters zu werden. Einmal ging er, nachdem Böhm seinen letzten Akkord gespielt hatte, mit bis zum Hals klopfenden Herzen auf ihn zu, fest entschlossen, ihn anzusprechen, aber als der Pastor dazwischentrat und ein paar Worte mit dem Organisten wechselte, verließ ihn der Mut wieder. Mit hochrotem Kopf schlich er sich aus der Kirche heraus, überquerte den Marktplatz und floh durch das Sandviertel zur Schule zurück."
    Natürlich wird Bach dann doch Böhms Schüler ...
    Es gelingt Johler, die Zeit um den Beginn des 18. Jahrhunderts mit den schlecht gefederten Kutschen, den ungeheizten Gotteshäusern und den Sehnsüchten der Menschen nach Erlösung von dem Übel ebenso wie nach weltlichen Freuden rundum lebendig zu machen. Bach war der vollkommene Musiker und wollte nie etwas anderes sein. Schließlich kam er aus einer weitverbreiteten Musikerfamilie. Aber war er auch von vornherein dazu bestimmt, Kirchenmusiker zu werden oder Thomaskantor? Es gab zu jener Zeit bereits die ersten gefeierten Stars eines internationalen weltlichen Musikbetriebs; berühmte Sängerinnen gehörten dazu und jener weit gereiste, weltbekannte im selben Jahr wie Bach geborene Georg Friedrich Händel, der Opern schrieb, die in London uraufgeführt wurden. Hatte Bach nie davon geträumt, etwas Vergleichbares hervorzubringen? War er nicht auch beeindruckt von der italienischen Musik mit ihrer Heiterkeit, die so prächtig für die Bühne taugte? Nikolaus Harnoncourt hat gesagt - Johler wählt dieses Diktum als Motto - Bach "wäre unbedingt zum größten Opernkomponisten seiner Zeit geworden", wenn die Umstände es erlaubt hätten. Die Umstände aber verurteilten ihn zu einem Leben als Kantor in der deutschen Provinz. Oder waren es gar nicht nur die Umstände, sondern doch seine persönlichen Entscheidungen? Das ist es ja, was der Roman - anders als ein biografisches Sachbuch - vermag: Er kann den Helden immer wieder vor Alternativen stellen, anstatt alles vom Ende her zu interpretieren.
    Was wäre wenn ...
    Ein Höhepunkt des Buches ist die Begegnung von Bach und Händel, die es nie gegeben hat, die Johler aber in der "Stimmung der Welt" als Imagination Bachs während einer Kutschfahrt erzählbar macht.
    "Und Er?, fragte Händel, war Er auch in Rom? Oder nur in Venedig?
    Weder noch, Herr Händel.
    Will Er damit sagen, er war überhaupt nicht in Italien?
    Mit Verlaub, antwortete Bach in seiner Fantasie, ich wäre der Letzte, der zu leugnen wagte, dass die Italiener sich unermessliche Verdienste um unsere Kunst erworben haben. Nein, mein Herr, man muss nicht nach Italien reisen, um sich aufs Gründlichste mit der dortigen Musik vertraut zu machen.
    Auf das Gründlichste, sagte Händel.
    Auf das Gründlichste, bestätigte Bach.
    Und wenn es eben das wäre?, fragte Händel lächelnd, und Bach bemerkte zu spät, dass der andere ihm eine Falle gestellt hatte. Es ist alles nur in meinem Kopf, dachte er, aber das tröstete nicht, im Gegenteil.
    Er weiß genau, was ich meine, Bach. Ich rede von dem Gründlichsten, was ja wohl die Steigerung des Gründlichen ist. Er wird sicherlich nicht leugnen wollen, dass Vivaldi oder Corelli durchaus gründliche Komponisten sind. Aber sie sind Italiener, sie haben die Leichtigkeit, das Melodiöse, das Singende, ja Trällernde. Ich sage das bewundernd, nicht abwertend. Und dann kommt ein Deutscher daher, der niemals italienischen Boden betreten hat, niemals die Sonne dort gesehen hat ...
    Hab's begriffen, sage Bach. Und?
    ... und dieser Deutsche, fuhr Händel ungerührt fort, hockt in einer engen freudlosen Kleinstadt und studiert die Italiener auf das Gründlichste. Und was kommt dabei heraus?"
    Neu gestimmt in eine künstliche Welt
    Zeitlebens fürchtete Bach, vor den höchsten Ansprüchen zu versagen und ahnte doch, dass seine Musik die Kraft haben würde, Himmel und Erde in Harmonie zu einen. Ein geheimnisvolles Motiv zieht sich durch das Buch wie durch Bachs Leben, und das ist die Sache mit der Stimmung. Die Tonabstände waren in jener Zeit noch nicht so justiert wie heute, weil man sich immer um reine Intervalle bemüht hatte, entweder um reine Quinten oder um reine Terzen. Aber wenn man auf einem Klavierinstrument die Quinten rein stimmte, dann konnte man darauf nicht in allen Tonarten spielen. Der Ausweg war die "wohltemperierte" Stimmung, die aber auch wieder einen Pferdefuß hatte: Alle Töne wurden minimal verfälscht. Es ist der Weg in eine künstliche Welt, den Bach damit beschreitet, und ihn selbst befällt, kaum hat er das Wohltemperierte Klavier beendet, der größte Zweifel: Wie wenn die Berechenbarkeit der Dinge der Kunst im Wege steht, wenn mangelhafte Regelung, natürliche Unreinheit zu ihrem Wesen gehören? Aber die neue Zeit ist schon in Fahrt, alles wird justiert, vermessen, zählbar gemacht.
    "Wir leben in einem Zeitalter der Zurechtstutzung ..."
    Wie Johler diese ziemlich knifflige Materie in eine Erzählung verwandelt, indem er die Musiktheorie im Streben seines Helden nach Vollkommenheit spiegelt, das schafft reine Lesefreude.
    Jens Johler, "Die Stimmung der Welt"
    Alexander Verlag Berlin, erschienen im Herbst 2013