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Johannes Endres: "Fetischismus"
"Ein kostbarer Schatz in einer von Sinnlosigkeit erfüllten Welt"

Rousseau war einer. Und auch Descartes. Der eine liebte Frauen, die ihn erniedrigten. Der andere war schielenden Augen verfallen. Beide waren - selbsternannte - Fetischisten. Der Historiker Johannes Endres hat die großen Theorien zum Thema in "Fetischismus" gesammelt. Darin trifft Sigmund Freud auf Gender Studies.

Von Philine Sauvageot | 08.01.2018
    Studioaufnahme zweier Füße in Netzstrümpfen und High Heels.
    Beim Fetisch wird nicht der Mensch Objekt der Begierde, sondern das eine Körperteil - oder auch ein Objekt selbst (imago / imagebroker)
    Wenn das Wort "Fetisch" fällt, mag der erste Gedanke sein: Lack und Leder, Dinge aus der Schmuddelecke. Johannes Endres, Germanist und Historiker, sagt: Alle Menschen neigen zu einem Fetisch, ohne dass Erotik im Spiel sein müsse. Bei einem Fetisch überhöhe der Mensch die Bedeutung einer Sache. Das könne ein Körperteil oder ein Gegenstand sein.
    Und: "Den Fetisch gibt es nicht einfach so. Er muss als solcher erst geschaffen werden."
    Geschaffen in der Kindheit, lebe der Fetisch im Unterbewusstsein weiter - meinte Sigmund Freud. Er inspiriert Endres. In seinem Sammelband "Fetischismus" druckt er drei Texte des Psychoanalytikers ab. Daneben weitere wissenschaftliche Theorien vom 18. Jahrhundert bis heute.
    Theorien, basierend auf Literatur
    Was auffällt: Die Psychoanalytiker, die Endres zitiert, fußten ihre Theorien kaum auf Fälle aus der Praxis, sondern aus der Literatur.
    "Wenn man zum Beispiel sich Freud ansieht oder auch Binet, stellt man also fest, dass die eher selten über tatsächliche Menschen reden, also über ihre Patienten, und viel häufiger über literarische Beispiele der Darstellung des Fetischismus. Und das fand ich doch einigermaßen verblüffend."
    Patienten dieses Profils hatten die Psychoanalytiker kaum. Denn der Fetischist lebt in der Regel gut mit seinem Fetisch.
    "Er kommt also nicht zum Analytiker, er legt sich nicht auf die Couch, er ist also mit seinem Fetischismus an und für sich zufrieden, weil seine Beziehung zum fetischistischen Objekt erfolgreich ist und weil sie ihn auch befriedigt - in welcher Art auch immer."
    Schnelle, unpersönliche Befriedigung
    Das Vernarrtsein in eine große Nase ist vom Nasenträger losgelöst. Nicht der Mensch ist Objekt der Begierde, sondern das eine Körperteil. So wird eine Erinnerung präsent gehalten - die an die erste Jugendliebe etwa, über ein Körperteil, ein Kleidungsstück oder einen anderen Gegenstand, der mit der verflossenen Liebe assoziiert und dann bei anderen Menschen wiedergefunden erotisiert wird. Das verschafft schnelle, unpersönliche Befriedigung. Anders als eine echte Liebe kann der Fetisch zu jeder Zeit ausgelebt werden.
    Der französische Psychologe Alfred Binet schrieb dazu: "Man kann die generelle Regel aufstellen, dass die Fetischisten alles suchen, was den physischen Umfang oder die psychische Bedeutung des materiellen Objektes steigert, das sie verehren."
    Schmuck oder Schminke etwa erhöhen durch eine Art von psychischer Täuschung die Wichtigkeit der Augen, oder der Hände, welche sie schmücken.
    Eine Gefahr für die Fortpflanzung
    Die zwanghafte Besessenheit von einem Objekt bezeichnete die Literatur oft als egoistisch, da für den Fetischisten nur die eigene Befriedigung zählt.
    "Darin sind sich alle Fetischismustheorien seit dem 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart einig - Fetische sind vor allem eines: gefährlich", betont Endres in seinem Vorwort. Eine Gefahr sei der Fetisch besonders für die Fortpflanzung des Menschen.
    "Er hält dazu an, nicht monogam zu sein. So wird das also zumindest dem Fetischisten vorgehalten. Weil es ihm viel mehr um den Fetisch als um eine bestimmte Person geht. Und alles das passt also nicht in bestimmte gesellschaftliche und kulturelle Vorstellungen von einer normalen Sexualität oder auch nur von einer normalen Partnerschaft zwischen Mann und Frau, an deren Stelle sozusagen die Partnerschaft mit dem Fetisch tritt, und das ist skandalös."
    "Fetischismus als Krisenphänomen"
    Dem widerspricht etwa der Berliner Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme. Ihm zufolge organisiert und stabilisiert der Fetisch unsere sozialen Beziehungen.
    Und auch Endres schreibt: "Der Fetisch ist (…) ein kostbarer Schatz der Bedeutsamkeit im Ozean einer von Angst, Wertverlust und Sinnlosigkeit erfüllten Welt."
    Dafür nimmt der Historiker unseren täglichen Begleiter als Beispiel: "Man versichert sich über dieses Handy wie früher vielleicht über die Zigarette eben auch der Gegenwart dieses bestimmten Objekts. Diese Gegenwart gibt Halt, buchstäblich. Sie gibt also Sicherheit in einer Öffentlichkeit, die ja nun gerade in diesen Tagen und gerade in dieser Stadt, in der ich mich gerade befinde, also in Paris, als extrem unsicher empfunden wird und da ist das Handy ein Rückhalt, der vertraut ist und der Orientierung verspricht."
    Fetischismus ist damit auch ein Krisenphänomen - gerade in der Postmoderne, die immer mehr Objekte produziert, die sich als Fetische eignen.
    "Der Fetischist fühlt sich dann eben auch von seinem Fetisch gelegentlich drangsaliert."
    Textstellen, die stutzig machen
    Diese zwanghafte Natur des Fetisch betonte vor allem Freud. Doch wie wertvoll ist dessen Theorie, wenn sie sich vor allem auf Figuren aus der Literatur stützt?
    Und: "Der Kastrationsschreck beim Anblick des weiblichen Genitales bleibt wahrscheinlich keinem männlichen Wesen erspart. Warum die einen infolge dieses Eindruckes homosexuell werden, die anderen ihn durch die Schöpfung eines Fetisch abwehren und die übergroße Mehrzahl ihn überwindet, das wissen wir freilich nicht zu erklären."
    Das sind Textstellen im Band, die stutzig machen. Sigmund Freud erklärt Homosexualität und auch den Fetisch mit einer kindlichen Angst, kastriert zu werden.
    Sexismus in der Fetischismusforschung
    "Ich glaube, dass das ausgedient hat", sagt Johannes Endres. Den Auszug druckt er ab, ohne ihn kritisch einzuleiten. Dafür folgt auf Freud ein Text der Literaturwissenschaftlerinnen Julika Funk und Elfi Bettinger, die ganz richtig auf den Sexismus in der Fetischismusforschung hinweisen.
    "Frauen können keine Fetischisten sein", war der Psychiater Gaëtan Gatian de Clérambault überzeugt. Für Freud wiederum waren alle Frauen Kleiderfetischisten. Funk und Bettinger kritisieren diese Geschlechterkonstrukte, mit denen die vornehmlich männlichen Theoretiker weibliche Subjektivität absprachen.
    "Also Freud korrigieren... überhaupt die Quellen korrigieren, davon halte ich also generell wenig. Das hat aber auch mit meiner Arbeitsmethode zu tun, die sich auch in diesem Band niedergeschlagen hat, der ja eben ein Quellenband ist, also zunächst einmal dokumentieren möchte, was da ist, so gut das möglich ist, bevor man also auch kritisch mit diesen Meinungen und mit diesen Texten umgeht."
    Endres arbeitet deskriptiv und folgt so dem Band "Objekte des Fetischismus" aus dem Jahr 1972, das - damals ebenso im Suhrkamp Verlag erschienen - erstmals neben Meinungsbeiträgen auch die Originalquellen zur Sprache brachte. Endres' "Fetischismus" bildet noch deutlich umfangreicher die Diskussionsgeschichte um den Fetisch ab. Viele Texte widersprechen sich gegenseitig. Seinen kritischen Teil muss man sich selbst denken.
    Johannes Endres (Hrsg.): "Fetischismus. Grundlagentexte vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart". Suhrkamp Taschenbuch, 2017, 478 Seiten, 22 Euro