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John Boyne
Der Mann, der Groß und Klein begeistert

John Boyne hat bisher 14 Romane verfasst, die sich millionenfach verkauft haben. Viele davon sind Jugendromane. Sein Geheimnis: Er versuche seine jungen Leser genau so zu behandeln wie die Erwachsenen. In seinem neuen Roman "A History of Loneliness" schreibt er zum ersten Mal über Irland. Und fasst gleich ein heißes Eisen an: die Katholische Kirche.

John Boyne im Gespräch mit Ute Wegmann | 10.10.2015
    Der irische Schriftsteller John Boyne.
    Der irische Schriftsteller John Boyne. (picture-alliance / dpa / Beatriz Velardiez)
    Sie heißen BrUNO oder Alfie, Barnaby oder Noah. Sie wohnen in Berlin, London, Sydney oder irgendwo auf der Welt. Sie alle sind Kinder. Ihr Schöpfer wurde 1971 in Dublin geboren und studierte Englische Literatur und Kreatives Schreiben.
    14 Romane sind veröffentlicht, übersetzt wurden sie in 48 Sprachen. Sein größter Erfolg, weltweit sechs Millionen mal verkauft und verfilmt: "Der Junge im gestreiften Pyjama".
    Der irische Schriftsteller John Boyne ist heute Gast im Studio.
    John Boyne, Sie haben zahlreiche Romane für Erwachsene geschrieben. Dann 2006 erschien der vierte Roman, Ihr erstes Jugendbuch "Der Junge im gestreiften Pyjama". Eine deutsche Familie, der Vater unter Hitler in leitender Position, bezieht ein Haus neben dem Konzentrationslager Auschwitz. So lernt der achtjährige BrUNO den gleichaltrigen Schmuel kennen, der auf der anderen Seite des Lagerzauns lebt. Es heißt, Sie schrieben die erste Fassung in zwei Tagen. Wie kamen Sie zu dieser deutschen Familie?
    John Boyne: Das ist ein Sachgebiet, das mich interessiert, seitdem ich ein Teenager bin. Und ich hab mich da sehr fortgebildet, indem ich Biografien, Autobiografien - vor allem Sachbücher gelesen habe, um die Zeit besser zu verstehen.
    Ich hätte nie gedacht, dass ich selber darüber schreiben würde, dass ich eine Geschichte zu erzählen hätte. Mit der Idee für das Buch fügte sich alles, was ich gelesen hatte und alle Recherchen zusammen, sodass die Geschichte sich ziemlich schnell entwickelte.
    Stimmt, die erste Fassung schrieb in 2 1/2 Tagen, ohne zu schlafen. Die Geschichte brach förmlich aus mir heraus, ich hatte Angst sie zu verlieren, wenn ich das Schreiben unterbreche.
    "Ich versuche, meine jungen Leser genau so zu behandeln wie die erwachsenen"
    Wegmann: Im Mittelpunkt unserer Sendung stehen heute die beiden Romane, die sich mit den beiden Weltkriegen beschäftigen.
    Ihre Haltung beim Schreiben generell, wenn Sie die Perspektive eines jungen Menschen einnehmen, scheint keine andere zu sein als für die Erwachsenenliteratur. Sprache, Satzbau, Dramaturgie mit Rückblicken und Verschachtelungen, das alles vollzieht sich auf hohem Niveau. Gibt es für Sie einen Unterschied beim Schreiben?
    Boyne: Das ist schön, dass Sie das sagen, weil ich genau das beabsichtigt habe. Wenn ich die sogenannten Kinder- oder Jugendbücher schreibe wie "Der Junge im gestreiften Pyjama" oder "So fern wie nah", dann steht ein Kind im Mittelpunkt der Geschichte. Aber ich vereinfache die Sprache nicht, auch nicht die Themen. Ich versuche, meine jungen Leser genau so zu behandeln wie die erwachsenen:
    Mit Achtung vor ihrer Intelligenz und davon ausgehend, dass sie interessante und ergreifende Geschichten lesen möchten, über das was in der Welt los ist.
    Darüber hinaus gibt es keinen großen Unterschied. Der größte Unterschied zwischen den Büchern für junge Menschen und Erwachsene ist, dass die Romane für Erwachsene immer in der ersten Person geschrieben sind. Sie werden von einer Person erzählt, und ich bleib bei der einen Figur und tauche psychologisch so tief wie möglich in den Charakter ein. Bei den Büchern für junge Leser habe ich das nie gemacht, sie sind alle in der dritten Person geschrieben. Ich brauche das Gefühl, ein allwissender Erzähler zu sein, wenn ich die Geschichte eines kleinen Jungen erzähle, der in einer Erwachsenensituation zurechtkommen muss. Und so ist es bei allen Büchern für junge Leute, dass die Figuren in eine harte Erwachsenensituation geworfen werden, lange bevor sie erwachsen sind. Aber ich erzähle das aus einer allwissenden Erzählhaltung heraus.
    Wegmann: Sie erzählen die Freundschaftsgeschichte zwischen dem Sohn eines Faschisten und einem im KZ internierten Judenjungen aus der Perspektive BrUNOs. Eine Freundschaft, die so nie hätte stattfinden können. Der Roman hat in Deutschland polarisiert. Darf man eine derart grauenvolle, belastete Vergangenheit so überhöhen oder verfälschen? Die vielen realistischen Elemente erschwerten es einigen, den Roman als reine Fabel zu lesen. Aber als Fabel haben sie ihn konzipiert?
    Boyne: Ja, ich habe das Buch mit dem Untertitel "Eine Fabel" versehen, weil es eine fiktionale Geschichte mit einer Moral im Zentrum ist. Seit Jahren spreche ich nun schon über das Buch, und so sehr wie ich auch den Standpunkt einiger Leute verstehe, finde ich es trotzdem immer wieder frustrierend. Ein Roman ist ein Roman und kein Sachbuch.
    Es sollte eine einfallsreiche Neuschaffung der wahren Welt sein. Hätte diese Freundschaft im wahren Leben stattfinden können? Vermutlich nicht! Obwohl es gab ja Kinder in den Konzentrationslagern, die dort für medizinischen Experimente zum Beispiel zur Verfügung stehen mussten. Elie Wiesel erzählt in "NACHT", dass die Kinder, als sie aus den Zügen ausstiegen, beim Warten in der Schlange sich zugeflüstert haben, vorzugeben, jünger zu sein, als sie wirklich waren, um zu überleben.
    Ist die Geschichte von BrUNO möglich? Nein, ist sie nicht. Es ist ein Roman. Und ich wollte, dass junge Menschen von der Freundschaft zwischen BrUNO und Schmuel so sehr bewegt sind, dass sie Sachbücher über das Thema lesen möchten, um die Situation besser zu verstehen. Ich bin ein leidenschaftlicher Leser, und ich lese Geschichten nicht, um Makel oder Fehler zu finden. Ich lese nicht, um dann zu überlegen, was nicht davon hätte passieren können.
    Das ist eine langweilige und einfallslose Herangehensweise an die Kultur.
    Wegmann: Was haben Sie als Junge gelesen?
    Boyne: Eine Menge Klassiker. Ich war ein sehr fortgeschrittener Leser, ich liebte Robert Louis Stevenson, Alexandre Dumas: Drei Musketiere, diese Art Bücher, große klassische Abenteuergeschichten, die heute kaum noch geschrieben werden. Ich mochte das sehr. Außerdem, weil sie in der Vergangenheit spielten und auch dann geschrieben wurden.
    Mit zwölf entdeckte ich "A silver sward von Ian Serraillier", über vier jüdische Kinder, die vor den Nazis fliehen, das war meine erste Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg. /.../ Krieg spielt immer eine Rolle in meinen Kinderbüchern. Vielleicht kehre ich immer wieder dahin zurück, wo es begonnen hat. Klassische Bücher der Jugendliteratur, das mochte ich. "Kidnapped" zum Beispiel!
    Wegmann: John Boyne, das Buch, nominiert von der Jugendjury für den DJLP im Jahr 2008.Viele Jugendliche ermüden gleich beim Thema Zweiter Weltkrieg und Lehrer hören: "Nicht schon wieder!"
    Wie erklären Sie sich den Erfolg des Buches bei Jugendlichen?
    Boyne: Grundsätzlich glaube ich, dass Bücher erfolgreich sind, wenn sie Leute dazu bewegen, dass sie darüber sprechen möchten und dass sie etwas weitergeben möchten. Was mein Buch betrifft, da waren alle sicherlich über das Ende geschockt, und überrascht und auch traurig. Ohne unbedingt über das Ende zu sprechen, wollten sie aber, das andere das lesen, sodass sie darüber diskutieren konnten. So ist es mit der Literatur: Gute Bücher, schlechte Bücher, wir wollen sie nicht vergessen, wir wollen über sie sprechen.
    Also irgendwo zu sitzen und zu sagen, ich liebe das Buch und jemand anderes sagt, ich hasse es, das zu diskutieren, dahin sollte gute Literatur führen. Und so geschah es beim "Gestreiften Pyjama": Leute wollten darüber reden. Es enttäuscht mich, dass junge Leute dieses Thema nicht mehr hören wollen. Ich glaube, dass es für jedes Thema, das uns bereits erschöpft hat, immer wieder neue Wege gibt, es durch die Literatur darzustellen und es zum Leben zu erwecken, ganz speziell für junge Menschen.
    Wegmann: Ihr Buch ist ja bis zur Hälfte vor allem auch ein Vater-Sohn-Konflikt, eine Auseinandersetzung BrUNOs mit seinem autoritären Vater. Ist es nicht möglich, dass auch dieses Thema für junge Leute sehr interessant ist?
    John Boyne: Als ich anfing zu schreiben, war das für mich sehr wichtig, klarzustellen, dass die Familie trotz des Berufs des Vaters eine liebevolle Familie ist. Es ist nicht nachvollziehbar, warum diese Menschen den Wert des Lebens der anderen so wenig schätzen.
    Ich musste das von Anfang an zeigen. Es musste klar sein, dass BrUNO seinen Vater liebte und sein Vater ihn nicht schlecht behandelte. Ja, da ist eine Menge über Väter und Söhne in dem Buch. Warum kriecht BrUNO unter dem Zaun durch? Der Grund ist, dass Schmuel seinen Vater verloren hat, dass er seinen Vater sucht. Die Beziehung zwischen Vätern und Söhnen ist so besonders und wichtig in diesem Alter. Ich schreibe gern über Jungs in dem Alter von acht, neun, zehn Jahren, die Zeit vor der Pubertät, wenn sie versuchen, schon ein bisschen erwachsen zu sein und dann auf ihre Väter schauen als Heldenfiguren. Aber manchmal sind diese Väter keine Helden.
    In "Der Junge im gestreiften Pyjama" ist er es nicht, in "So fern wie nah" ist er es. Und es geht darum, wie Kinder sich verhalten, wenn sie das realisieren. Wenn BrUNO mitbekommt, wozu sein Vater in der Lage ist, das ist ein erschreckender Augenblick für ihn. In "So fern wie nah" realisiert Alfie, dass der Vater, der als Held in den Krieg zog, doch ein ganz normaler Mann ist wie andere, der traumatisiert zurückkehrt, unfähig in sein normales Alltagsleben wieder einzusteigen. Und so muss Alfie in dieser Situation der Mann sein, der Erwachsene. Und die traditionelle Vater-Sohn-Rolle dreht sich um.
    Wegmann: Über "So fern wie nah" sprechen wir gleich noch.
    John Boyne, Ihre Protagonisten sind fast immer Jungs, vielleicht etwas altklug und ihrem Alter voraus, die mehr sehen, klarer in ihren Gefühlen sind als festgefahrene Erwachsene. Ihre Kinder haben ein eindeutiges Gerechtigkeitsempfinden. Betrachten Sie sich als eine Art Anwalt der Kinder?
    "Ich möchte keine schwachen Charaktere vorführen"
    Boyne: So sehe ich mich definitiv. Und alle meine Protagonisten in meinen fünf Jugendbüchern haben etwas gemeinsam: Sie sind sehr einfallsreich. Sie sind alle optimistisch. Sie sind große Leser. Was ihnen auch immer widerfährt, sei es noch so schrecklich, sie lächeln. Sie stehen das durch. Und das Wichtigste ist, dass sie niemals einem Erwachsenen erlauben, ihre Probleme zu lösen.
    Sie machen es allein. Als ich ein Kind war, wollte ich so etwas lesen. Ich mochte immer Bücher, wo keine Erwachsenen auftauchten. Es gibt eine Tradition in meinen Büchern, die Erwachsene schon zu Beginn "auszuschalten". Ich lass die Kinder allein in der Welt. Und ich glaube, dass Kinder so etwas gerne lesen. Und weil die Jungen in meinen Büchern den Erwachsenen nicht zugestehen, sie zu zerstören, sind die jungen Leser auf ihrer Seite. Sie müssen die Helden sein.
    So wie David Copperfield es zu Beginn seiner Geschichte sagt: "Ob ich der Held meiner eigenen Geschichte sein werde, wird sich zeigen". Und so sind alle diese Jungs. Und es ist mir wichtig, diesen Gedanken in Romanen für junge Leser zu präsentieren. Ich möchte keine schwachen Charaktere vorführen. Ich möchte keine Figuren, die ihre Probleme nicht alleine lösen können. Ich möchte, dass Leser von meinen Figuren angeregt werden und begeistert sind.
    Ja, und Sie haben Recht, es sind alles Jungs. Vielleicht schreib ich mal irgendwann über ein Mädchen. Aber über eine Sache sind wir uns ja auch alle im Klaren: Mädchen lesen immer. Sie hören nicht auf. Jungs aber hören auf, so mit 12/13 Jahren. Keine Ahnung woher das kommt. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass junge Leute nicht mit dem Lesen aufhören, solange sie gute Bücher haben. Wenn sie sich langweilen, hören sie auf. Und es gibt viele Bücher für Mädchen, aber weniger für Jungs. Deshalb habe ich Lust, weiter für sie zu schreiben.
    Wegmann: Oft geht es in Ihren Büchern um Augenblicke, Zufälle, die das Leben verändern oder ihm eine andere Richtung geben. So ist es bei BrUNO, bei Alfie, bei Barnaby bei Danny.
    Ein solcher Augenblick spielt auch eine Rolle in dem Roman "So fern wie nah" aus dem Jahr 2014, gerade mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis ausgezeichnet, Im Jahr 1918 verortet, personal aus der Perspektive des neunjährigen Alfie erzählt, mit Rückblicken in das Jahr 1914.
    Hat der Titel eine bestimmte Bedeutung im Englischen, weil er sich doch von der deutschen Übersetzung sehr unterscheidet?
    Boyne: Ja, das hat er, aber es zu erklären, würde bedeuten, ein Geheimnis der Geschichte preiszugeben. Es ist eine Zeile, die Alfies Vater immer wiederholt, als er traumatisiert aus dem Krieg zurückgekehrt, im Krankenhaus ist. Und Alfie weiß nicht, was das bedeutet, diese bizarre komische Zeile. Aber dann klärt sich auf, woher der Spruch kommt. Und diese Enthüllung ist eine der besten Passagen der Geschichte, die werde ich nicht verraten.
    "Das Leiden ist das Wichtigste"
    Wegmann: Hier geht es darum, wie der Erste Weltkrieg das Leben einer Familie, einer Straße, eines Mannes, Alfies Vater verändert. Wir erfahren von den Grausamkeiten an der Front und schließlich von einer damals neuen Krankheit, dem shellshock, dem Granatenschock, der den Zustand der traumatisierten Soldaten beschreibt. Liebe und Zuwendung helfen, den seelisch verwundeten Vater zu heilen.
    Zwei Romane - zwei Weltkriege – zwei Jungs – welche historische Auseinandersetzung war für Sie persönlich die prägendste, die wichtigste?
    Boyne: Wenn ich meine Bücher betrachte, dann möchte ich sie nicht so gern vergleichen, besonders wenn es um Kriegsgeschichten geht, um darüber zu urteilen, ob die eine wichtiger war als die andere. Das Leiden ist das Wichtigste.
    Ich interessiere mich für den Krieg, und ich glaube, dass es viele unerzählte Geschichten aus dem Ersten Weltkrieg gibt, die Geschichten sind nicht so bekannt bei jungen Leuten. Ich komme immer wieder zum Krieg zurück. Das nächste Buch, das in wenigen Wochen in England erscheinen wird, Ihr "The Boy on Top of the Mountain", kehrt zurück zum Zweiten Weltkrieg.
    Die Auswirkungen des Krieges auf die Kindheit und die Rolle der Kinder im Krieg – das sind Themen, die mich sehr interessieren, und ich werde mich immer damit beschäftigen. Ich hätte "So fern wie nah" nie schreiben können, ohne vorher den "Jungen im gestreiften Pyjama" geschrieben zu haben. Und das neue Kinderbuch hätte ich nicht ohne "So fern wie nah" schreiben können. Jedes baut auf meine Auseinandersetzung mit dem vorangegangen auf. Es geht dabei nicht darum, über Krieg zu schreiben, sondern über Frieden. Wenn wir darüber schreiben, was Menschen erlebt haben, alle die Schrecklichkeiten, dann wollen wir über Frieden schreiben. Wir wollen es in die gegenteilige Richtung umkehren.
    Eine Metapher für das Andersartige
    Wegmann: Oft haben die Jungs Geheimnisse, oft sind sie anders als andere, überschreiten Grenzen, der Extremste ist Barnaby, ein Kind, das fliegt. Und ein Kind, dass durch die Ablehnung der Eltern erkennt, dass es gar nicht normal sein möchte.
    Ein wichtiges Thema: Weggehen, Grenzen überschreiten, um sich selbst zu finden!
    Boyne: Ja, in gewisser Weise schon. Ich mag diese Idee des fliegenden Kindes "Barnaby Brocket". Das ist natürlich eine Metapher dafür, wie man sich fühlt, wenn man denkt, man wäre anders. Viele Kinder fühlen sich so. Ich glaube, es ist das Normalste auf der Welt, sich anders zu fühlen. Barnaby ist ein Extrem, ein Kind, das die Füße nicht am Boden hat. Ich wollte vermitteln, dass es das Beste auf der Welt ist, nicht normal zu sein. Und dass du auf das, was dich von anderen unterscheidet, stolz sein kannst.
    In "So fern wie nah" ist Alfie derjenige, der ein Geheimnis hat. Er schwänzt die Schule, um am Kings Cross Schuhe zu putzen, sogar die Schuhe des Premierministers. Und dort erfährt er alles über die traumatisierten Soldaten und was los ist, denn Erwachsene erzählen den Kindern nicht die Wahrheit. Keiner will Alfie oder BrUNO etwas über die Wirklichkeit erzählen, sie müssen es selber herausfinden.
    Alfie liest jeden Morgen, wenn die Mutter zur Arbeit gegangen ist, die Zeitung, immer auf der Suche nach der Nummer der Erkennungsmarke seines Vaters, weil er glaubt, dass der im Kampf gefallen ist. Er weiß, dass niemand ihm die Wahrheit erzählen würde über das, was wirklich passiert ist. Als Schuhputzer ist nicht er der Geschichtenerzähler, aber er hört Geschichtenerzählern zu.
    "Es ist ein schwieriges Thema für Leute meines Alters"
    Wegmann: Im Herbst erscheint ein neuer Roman: "A History of Loneliness", die Geschichte eines Priesters in Dublin in den 70er-Jahren. Sie selber waren Messdiener. Ist das ein Blick zurück auf die strenge, katholische Kirche Irlands?
    Boyne: Das ist es. Ich habe vorher nie über Irland geschrieben, das ist ungewöhnlich für einen irischen Schriftsteller. Ich wollte über die Katholische Kirche in Irland schreiben, über die sexuellen Skandale, die Generationen traumatisiert haben und was das mit den Menschen gemacht hat, und wie die Kirche sich geändert hat, weil die Gesellschaft sich verändert hat. Es ist ein schwieriges Thema für Leute meines Alters, die während ihrer Kindheit sehr darunter gelitten haben. Es ist total bewegend. Als ich anfing zu schreiben, wusste ich schnell, was ich zu tun hatte: Ich wollte nichts schreiben, das einer Hetztirade gleichkommt, nichts Vergiftetes oder mit Hass Gefülltes.
    Ich musste einen Weg in die Geschichte finden, indem ich zumindest versuche, eine ausgewogene Darstellung der Kirche zu zeigen. Das war schwierig. Aber es ist der Roman, auf den ich wirklich stolz bin, dass ich ihn geschrieben habe. Ich war in der Lage, so viele Sachen zu thematisieren, die mich verletzt hatten und mich als Kind beschädigten, die mich regelrecht traumatisierten und die ich eine lange Zeit in mir verschlossen hielt. Und das machte mein Schreiben persönlicher, als es in der Vergangenheit war. Alle meine Romane, besonders die frühen, beschäftigen sich mit historischen Themen, das ist gut und das wird auch weiterhin so sein. Aber ich denke, auf Dauer muss man mehr von sich selbst in die Geschichten, in das Schreiben hineinbringen.
    Und als ich den Roman schrieb, war es, als ob ich ein Schleusentor geöffnet hätte und alle Erinnerungen tauchten auf. E s war schwer und auf eine bizarre Weise hat es sogar Spaß gemacht, weil ich so viel von Dublin und meiner Vergangenheit zeigen konnte, worüber ich vorher noch nie geschrieben habe.
    Wegmann: Waren denn diese Verletzungen, die sie als Kind erfahren haben, auch der Grund, warum sie nie über Irland geschrieben haben?
    Boyne: Das könnte gut sein. Es gab so eine Idee, vor sechs Jahren, aber ich hätte niemals darüber schreiben können. Ich musste mich noch weiter auf verschiedene Art und Weise mit dem Thema beschäftigen, um sicher zu sein, dass ich einen Roman schreiben kann, der kein Werk der Rache wird.
    Herzlichen Dank John Boyne.
    Wir sprachen über die Romane:
    "Der Junge im gestreiften Pyjama", 267 Seiten, aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit, Fischer Verlag

    Hörbuch gelesen von Ulrich Matthes, argon Verlag, ISBN 978-3-86610830-1

    "So fern wie nah", 254 Seiten, aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit und Martina Tichy, Fischer, 12,99 Euro

    Hörbuch gelesen von Boris Aljinovic, ISBN: 978-3-8371-2572-6

    "Die unglaublichen Abenteuer des Barnaby Brocket", 282 Seiten, mit Bildern von Oliver Jeffers, aus dem Englischen von Adelheid Zöfel, 14,99 Euro

    "Zu schnell", 256 Seiten, Fischer Verlag"Der Junge mit dem Herz aus Holz", 238 Seiten, Bilder von Oliver Jeffers, Fischer, 13,99 Euro

    "Der Schiffsjunge. Die wahre Geschichte der Meuterei auf der Bounty", 640 Seiten, Fischer, 18,95 Euro.