Sonntag, 28. April 2024

Archiv

John Fantes "1933 war ein schlimmes Jahr"
Momente großer Zartheit

In seinem posthum erschienen Roman erzählt der amerikanische Autor John Fante von einem Mann aus dem kleinbürgerlichen Milieu. Die Wirtschaftskrise hat die USA im Griff, sein Geld reicht kaum für einen Mantel. Doch so dunkel diese Welt auch ist, Fante erzählt mit so viel Liebe und Humor, dass man seine Figuren sofort ins Herz schließt.

Von Martin Becker | 30.11.2016
    Felslandschaft bei Moab, Utah
    In der Kleinstadt in Colorado, in der der Roman spielt, gibt es kaum Perspektiven - und auch die Nähe zu einer grandiosen Landschaft macht den Ort nicht malerischer. (Imago)
    Machen wir uns nichts vor: Dominic Molise ist kein strahlender Held. Der Winter ist lang und hart in diesem Jahr 1933. Und die Zukunft? Ziemlich finster. Die Weltwirtschaftskrise hat die USA fest im Griff. Und die Kohle reicht noch nicht mal für einen ordentlichen Mantel. Das hatte sich die Familie des Protagonisten anders vorgestellt, als sie aus Italien nach Amerika einwanderte. Sie war bitterarm bei der Ankunft – und ist es geblieben. Der Vater beispielsweise, ein Maurer, hat seit Monaten keine Arbeit mehr und treibt sich die meiste Zeit an Billardtischen in versifften Bars herum – um sich wenigstens eine Handvoll Dollar zu verdienen. Perspektiven gibt es kaum in dieser Kleinstadt in Colorado, die durch die Nähe zu den Rocky Mountains nicht malerischer wird. Gleich am Anfang von "1933 war ein schlimmes Jahr" bringt Dominic Molise, der Held, der nun wirklich keiner ist, die ganze Misere seiner Existenz nüchtern und sachlich auf den Punkt:
    "Ich war hier in Roper, Colorado, und wurde von Minute zu Minute älter. In sechs Monaten würde ich achtzehn werden und die Highschool abschließen. Ich war vierundsechzig Inches groß und in den letzten drei Jahren kein Stück gewachsen. Ich hatte Säbelbeine und drehte die Füße beim Gehen nach innen. Meine Ohren standen ab wie die von Pinocchio, meine Zähne waren schief, und mein Gesicht war gesprenkelt wie ein Vogelei."
    Ein Sound, von dem man nicht genug bekommt
    Will man das denn wirklich lesen? Erst recht in Zeiten wie diesen? Ein deprimierendes Buch über das Elend eines wortwörtlich kleinen Mannes in der großen Krise? Die Antwort hat man schon nach wenigen Seiten. Man will unbedingt. Man kann gar nicht mehr aufhören. John Fante findet eine eigenwillige Sprache und einen bemerkenswerten Rhythmus für die Geschichte dieses langen Winters. Ein Sound, von dem man nicht genug bekommt. Denn so dunkel die Welt auch sein mag: Fante erzählt mit so viel Liebe und Humor von seinen Figuren, dass man sie auf der Stelle ins Herz schließt. Das Wichtigste daran: Es gibt sogar Hoffnung.
    "Alle großen Männern vor mir hatten dieses gleiche Sirren in den Knochen gehabt, diese geheimnisvolle Energie, die sie vom Rest der Menschheit unterschied. Sie wussten es! Sie waren anders. (...) Arme junge Männer mit magischen Kräften – Amerika war der richtige Ort für sie."
    Für Dominic Molise ist sein linker Arm die Zukunft, ja, sein Versprechen von Glück. Der Arm, den er wieder und wieder mit stinkendem Öl einreibt, damit er kraftvoll und in Form bleibt: Denn mit diesem linken Arm wirft er beim Baseball die Bälle wie niemand sonst. Zumindest nicht auf seiner Highschool. Er stellt sich vor, wie es erst sein wird, wenn der Durchbruch kommt. Wenn er entdeckt wird und ganz oben mitspielt. Wenn er der Familie in regelmäßigen Abständen Geld zukommen lässt und alle Sorgen und Schulden verschwunden sein werden. Natürlich ist er auch noch unglücklich verliebt, in die ältere Schwester seines besten Kumpels, die ausgerechnet aus der reichsten Familie dieses Kaffs in Colorado kommt. Was John Fante in seinem 1985 posthum erschienenen Roman gelingt: Er gibt seinen Figuren eine glaubhafte Sehnsucht mit auf den Weg. Dieses kleine Fünkchen an Zuversicht, dass es sich am Ende doch lohnen wird, dieses elende Leben.
    "Wir waren alle Träumer, ein Haus voller Träumer. Grandma träumte von ihrer Heimat in den fernen Abbruzzen. Mein Vater träumte davon, schuldenfrei mit seinem Sohn ein Maurergeschäft zu betreiben. Meine Mutter träumte von ihrer himmlischen Belohnung in Gestalt eines frohgemuten Ehemanns, der nicht davonlief. Meine Schwester Clara träumte davon, Nonne zu werden, und mein kleiner Bruder Frederick konnte es nicht erwarten, endlich groß zu sein und als Cowboy durch die Prärie zu reiten. Ich schloss meine Augen und lauschte den Träumen, die durchs Haus summten. Dann schlief ich ein."
    "Viel mehr als die klischeehafte Geschichte eines Heranwachsenden aus armen Verhältnissen"
    Im Grunde geschieht gar nicht so viel in diesem Roman: John Fante schildert präzise und detailreich das Milieu der kleinbürgerlichen Familie von Dominic Molise. Seine Eltern lieben sich nicht mehr, können aber auch nicht ohne einander. Und die Sache wird dadurch nicht besser, dass der Vater woanders nach Wärme sucht. Mit seinem kleinen Bruder muss Dominic das Bett teilen, weil der Platz für mehr nicht reicht. Und die Großmutter hasst dieses Amerika, schimpft voller Bitterkeit auf die Menschen und auf die Welt und wacht garstig sowohl über den Stromverbrauch als auch über den Zuckerkonsum – jegliche Verschwendung wird von ihr nicht geduldet. Streng katholisch ist diese ganze Familie noch dazu. "1933 war ein schlimmes Jahr" ist aber viel mehr als die klischeehafte Geschichte eines Heranwachsenden aus armen Verhältnissen, der sich Luftschlösser baut und der beste Pitcher der Baseballgeschichte werden will. Fante erzählt vielschichtig und doppelbödig – und das mit einem subtilen Sinn für Humor. Zum Beispiel, als der Protagonist von seinem Vater zurechtgestutzt und in die Rolle eines zukünftigen Maurers gedrängt wird, der später groß ins Holzgeschäft einsteigen soll:
    "Das war’s also. Das ganze Buch. Die tragische Geschichte von Dominic Molise, geschrieben von seinem Vater. Teil eins: Nervenkitzel Steineklopfen. Teil zwei: Spiel und Spaß im Sägewerk. Teil drei: Wie man sich vom eigenen Vater das Leben verderben lässt. Teil vier: Hier ruht Dominic Molise, gehorsamer Sohn."
    Charles Bukowski liebte Fante
    John Fante, geboren 1909, wurde erst nach seinem Tod im Jahr 1983 richtig berühmt. Charles Bukowski liebte ihn. Liest man diesen kleinen Roman, dessen einziger Makel es ist, dass er nur 134 Seiten hat, dann versteht man, warum: Fante kannte das Milieu, über das er schrieb. Die Authentizität ist es, die man zwischen den Zeilen immer wieder spürt. Kein Wunder, dass der Übersetzer in seinem Nachwort Raymond Carver erwähnt – die Liebe zu den Gescheiterten und die Sogwirkung ihrer Sprache eint die Bücher beider Schriftsteller. Natürlich geht es oft rau und grob zu in der Familie von Dominic Molise – um so berührter ist man dann aber wiederum von Momenten großer Zartheit. Wenn Dominics Vater ihm einen Schlag ins Gesicht gibt, eigentlich nur, damit sich der Junge endlich verteidigt, wenn der Vater dann vollkommen erschrocken über sich selbst ist, dann ist das eben kein Sozialkitsch, sondern ungeheuer anrührend:
    "Vielleicht lag es an der blutigen Nase, dass wir in diesem Augenblick für einmal nicht Vater und Sohn, sondern Freunde waren."
    So richtig groß wird dieses kleine Buch vor allem durch einen Umstand, den der Autor nicht beeinflussen konnte: seine Wirkung in der Gegenwart. Zwar ist die Geschichte schon Jahrzehnte alt und erzählt von einer noch länger zurückliegenden Zeit der Krise – und doch kann ein Roman zeitgenössischer nicht sein. Was ist das für ein Amerika? Und wohin wird das alles führen? Natürlich fragt sich das nicht der junge Protagonist in "1933 war ein schlimmes Jahr" – die ewig brabbelnde Großmutter ist es, die bei einem handfesten Streit zwischen den Brüdern am Esstisch bemerkenswert seherische Fähigkeiten entwickelt:
    "'Der Bruder erhebt seine Hand gegen den Bruder', stöhnte Grandma und verschränkte die Hände vor dem Bauch. 'Wehe dir, Amerika!'"
    John Fante: "1933 war ein schlimmes Jahr"
    Blumenbar Verlag, Berlin 2016. 144 Seiten, 16 Euro.