Freitag, 19. April 2024

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John Kornblum zum Afghanistan-Desaster
"Wir wissen seit Jahren nicht mehr, was wir da machen"

Der ehemalige US-Botschafter in Deutschland, John Kornblum, sieht im Fehlen einer klaren Strategie den Hauptgrund für das Scheitern des Westens in Afghanistan. Neben der Terrorismusbekämpfung habe Deutschland die Idee des Nation Building konzipiert. Die sei aber nicht umsetzbar gewesen, sagte Kornblum im Dlf.

John Kornblum im Gespräch mit Dirk Müller | 30.08.2021
John Kornblum, pensionierter US-Diplomat, ehemaliger Botschafter der USA in Deutschland
Der ehemalige US-Botschafter John Kornblum: Die US-Regierung hat Afghanistan-Abzug schlecht vorbereitet (dpa/Jens Büttner)
Das Entsetzen und die Enttäuschung war groß in der westlichen Welt: Noch bevor der Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan abgeschlossen war, übernahmen die radikalismalischen Taliban wieder die Macht am Hindukusch. Vor allem das Tempo der Machtübernahme überraschte die USA und ihre NATO-Verbündeten. Die überstürzt organisierten Evakuierungen verliefen chaotisch und wurden dann auch Ziel eines Terrorangriffs. Die US-Regierung unter Präsident Joe Biden reagiert nun mit Vergeltungsangriffen - Afghanistan scheint nicht herauszukommen aus der Spirale der Gewalt.
Deutsche Soldaten stehen am Flughafen in Gao und sichern ein Transportflugzeug.
Mögliche Lehren aus dem Afghanistan-Einsatz
Afghanistan ist kurz nach dem Abzug internationaler Truppen wieder in Taliban-Hand. Errungenschaften aus 20 Jahren sind in Gefahr. Sind militärische Nation-Building-Einsätze überhaupt sinnvoll, und wenn ja, unter welchen Bedingungen?
John Kornblum, ehemaliger US-Botschafter in Deutschland, gibt der westlichen Staatengemeinschaft eine Mitschuld für diese Entwicklung. Seit spätestens 2002 habe es zwei Afghanistan-Strategien nebeneinander gegeben: "Einmal Al Kaida ausrotten und einmal Nation Building. Und Nation Building war ohne Frage eine deutsche Erfindung", sagte Kornblum im Dlf. Die amerikanische Politik habe diese deutsche Strategie jedoch gerne angenommen, um zu zeigen, dass es Ziele gebe. Für Nation Building in Afghanistan hätten aber sowohl die Ressourcen als auch das Wissen gefehlt.

Das Interview im Wortlaut.
Dirk Müller: US-Präsident Joe Biden nach nach dem Anschlag am Flughafen von Kabul Vergeltung angekündigt."Wir werden euch jagen", sagt der amerikanische Präsident. "Ihr werdet dafür bezahlen!" - Herr Kornblum, ist Rache ein gutes Motiv?
John Kornblum: Nein, Rache ist kein gutes Motiv. Aber wir sehen, wie sehr der Präsident, Präsident Biden sich in die Ecke gedrängt fühlt, und er muss Stärke zeigen für seine Wähler, auch für das Land. Und man darf nicht vergessen: Fast jeder Schritt, jedes Wort, jedes Programm, das ein Präsident jetzt verabschiedet, muss er machen mit einem Blick auf die nächste Wahl. Das Land ist so geteilt und die Politik ist ziemlich aggressiv geworden, dass auch alles, was in Afghanistan passiert, mit einem Auge auf den nächsten Wahlkampf gestellt ist.

"Nation Building war ohne Frage eine deutsche Erfindung"

Müller: Dann ist das für Sie ganz klar, dass die Spirale der Gewalt weitergeht?
Kornblum: Nein, das ist mir nicht klar, weil wir wissen nicht, ob sie das in den Griff kriegen, welche Strategie die Taliban haben. Es ist vielleicht sogar schlimmer. Es ist nicht, dass ich weiß, dass die Spirale hochgeht, sondern dass man nicht weiß, in welche Richtung sie hochgehen soll. Ein Hauptproblem – das Problem sieht man in der Debatte in Deutschland, aber auch sehr stark in den Vereinigten Staaten – ist, dass wir seit mehreren Jahren nicht mehr wissen, was wir da machen, wofür wir eigentlich kämpfen: Ist das ein Anti-Terror-Unternehmen oder hat das irgendwas mit Nation Building, wie man sagt, mit der Entwicklung des Landes und der gesellschaftlichen Ausbreitung der Demokratie etc. zu tun? Diese zwei Ziele haben nebeneinander existiert, ohne dass das eine oder andere eigentlich durchgesetzt werden könnte, und jetzt sitzen wir da ohne Strategie, aber die Politiker wissen, sie wollen weg, und sie wissen aber nicht, wie sie das tun sollen.
Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer beim Truppenbesuch in Idar-Oberstein
Kramp-Karrenbauer (CDU): Ein moderner Staat war von Anfang an unrealistisch
Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) sagte im Dlf, der weitere Prozess zwischen Regierung und Taliban sei eine innerafghanische Angelegenheit.
Müller: Warum hat der Präsident keine Strategie?
Kornblum: Weil die Strategie in der westlichen Welt total durcheinander ist. Und hier muss ich sagen – und ich weiß, die Diskussion in Deutschland ist auch schon ziemlich aktiv -, wenn Sie genau nachforschen, wie die westliche Strategie sich entwickelt hat in den ersten Jahren ab der Petersburger Konferenz 2001, ist die Strategie des Nation Building, die sogenannte Friedensstrategie ausdrücklich auf Wunsch von Deutschland konzipiert worden, durchgesetzt von Deutschland, durchgesetzt von Schröder und Fischer vor allem – vor allem, weil man das Wort Krieg aus dem Wortschatz nehmen wollte für die NATO und für den Westen. Ab, sagen wir, Anfang 2002 hatten wir zwei Strategien nebeneinander: Einmal El Kaida ausrotten und einmal Nation Building. Und Nation Building war ohne Frage eine deutsche Erfindung.
Müller: Und das ist jetzt gescheitert?
Kornblum: Das musste scheitern, weil wir hatten weder die Ressourcen, noch die Kenntnisse der Lage, noch die Möglichkeit, das Land so zu beeinflussen, dass es blühende Landschaften dort geben würde, wie man das öfters gesagt hat. Das musste scheitern!
Dürre in der Nähe der afghanischen Stadt Kandahar
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Müller: Das wusste niemand in Amerika in den vergangenen Jahren und hat gesagt, wir müssen davon weg?
Kornblum: Das wussten sehr viele Leute in Amerika und auch in Europa. Aber was ich sagen wollte ist: Das Ziel war nicht nur Terrorismus ausrotten oder nicht nur Nation Building, sondern natürlich den Westen zusammenhalten, auch für die amerikanische Politik in diesen Jahren. Wir dürfen nicht vergessen: Die Politik von George W. Bush war sehr unter Druck gekommen – nicht wegen Afghanistan, sondern wegen Irak. Die amerikanische Politik hat so gerne diese deutsche Strategie angenommen, weil es zeigte, dass wir Ziele und Strategien hatten.

Abzug war von US-Regierung "schlecht vorbereitet"

Müller: War es richtig, dass Donald Trump im vergangenen Jahr definitiv klargemacht hat gegenüber den Amerikanern, auch gegenüber dem amerikanischen Militär, wir gehen im nächsten Jahr, das heißt in diesem Jahr, in diesem Sommer raus aus Afghanistan?
Kornblum: Nein, es war natürlich nicht richtig. Wenn man einen so großen Schritt plant, dann sagt man nicht im Voraus, was man tun wird, und vor allem, man setzt keinen Endpunkt, wo man sagt: Egal was passiert, wir sind raus. Biden kann auch sagen, dass diese Art von Entwicklung nicht seine Entwicklung war, sondern die Entwicklung von Trump. Trump wollte sogar schon im Mai weg sein und Biden hat das zumindest um ein paar Monate verlängert. Wo Biden jetzt schwach ist, ist nicht, dass er die Strategie selber entworfen hatte, sondern weil seine Vorbereitung auf die notwendigen Strukturen, die man brauchte, um wegzukommen, scheint ziemlich mangelhaft gewesen zu sein.
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Müller: Ich muss Sie das auch fragen, weil diese Vorwürfe ja im Raum stehen. Das ist in Deutschland so, in Europa, aber auch in den Vereinigten Staaten. Die Vorwürfe an die Geheimdienste, das alles nicht ausreichend detailliert genug projektiert zu haben, gewusst zu haben beziehungsweise eingeschätzt zu haben, dass die Taliban so stark sind, dass eine afghanische Armee, dass ein afghanischer Widerstand von Seiten der Regierung de facto gar nicht besteht. War das so? Haben die Geheimdienste versagt?
Kornblum: Das kann ich natürlich nicht sagen. Ich habe ja keinen Einblick in die Arbeit der Geheimdienste. Was aber stimmt – und das stimmt genauso für die Bundesrepublik Deutschland als für die Vereinigten Staaten: Die politische Führung, die Regierungen scheinen, ziemlich unvorbereitet gewesen zu sein auf die Schwierigkeiten, die gekommen sind, und haben irgendwie zur Kenntnis genommen, dass man irgendwie im August weggehen würde. Aber es scheint nicht sehr viel im Voraus gemacht worden zu sein. In Talkshows im amerikanischen Fernsehen, die es immer am Sonntag gibt, gab es die ganze Liga für Biden im Fernsehen und die haben gesagt: Nein, wir hatten das alles schon gewusst und wir haben das alles schon vorbereitet. Das stimmt einfach nicht. Die hatten es natürlich nicht vorbereitet. Das ist das, wo ich glaube, man kann sowohl den Europäern als auch den Amerikanern vorwerfen, dass man vielleicht eine richtige Entscheidung getroffen hat, weil die alte Strategie nicht mehr klappte, aber man hat es wirklich sehr, sehr schlecht vorbereitet.

USA müssen in Afghanistan präsent bleiben

Müller: Die Militärs, waren die vorbereitet? Die sitzen vor Ort seit vielen Jahren. Die haben Kompetenz, die haben Erfahrung. Haben die Militärs nicht Alarm geschlagen und gesagt, das geht nicht einfach so von heute auf morgen?
Kornblum: Na ja, das ist, was ich meine mit der Diskussion in den Vereinigten Staaten, und das wird es bestimmt auch in Deutschland geben. Sie wissen, in den Vereinigten Staaten gibt es keine Geheimnisse. Auch die geheimsten Diskussionen werden irgendwann in die Presse kommen und es werden irgendwann die verschiedenen Positionen von verschiedenen Teilnehmern ganz klar. Schon jetzt lassen die Militärs das durch Leaks wissen, dass sie das alles gewusst haben, dass sie Biden sehr stark empfohlen haben, das nicht zu tun, und Biden hat das sogar teilweise zugegeben, dass er sagt, ja, es hat auch Zweifel gegeben seitens des Militärs, aber ich bin der Präsident und ich habe das letzte Wort und ich meinte, das wäre richtig, dass wir das getan haben.
Müller: Jetzt sollte es den Amerikanern wie den Europäern auch um weniger Engagement, um das Ende der Präsenz in Afghanistan gehen. Jetzt hat es den Terroranschlag gegeben, es gibt weitere Drohungen, dass Terroranschläge folgen werden. Werden die Amerikaner den Rückzug, in welcher Form auch immer, revidieren müssen, weiter präsent bleiben müssen?
Kornblum: Sie haben es schon revidiert, indem nachdem angeblich alle Soldaten ausgeflogen worden sind noch 2000 oder 3000 zurückgekommen sind. Ich nehme an, dass sie wirklich einen Hochseilakt hier machen müssen. Auf der einen Seite ihre Strategie durchführen, auf der anderen Seite die Strategie versuchen, das durchzuführen, dass es keine Tragödie gibt wie vor zwei Tagen in Kabul. Das ist wirklich eine Arbeit, die kaum wahrscheinlich zu errichten ist, aber sie müssen es versuchen.
Müller: Werden Truppen bleiben in Afghanistan?
Kornblum: Biden sagt nein. Biden sagt, am 31. August gibt es keine amerikanischen Truppen mehr dort. Das kann ich natürlich nicht sagen.
Müller: Das wäre morgen ja der Fall. Gehen Sie wirklich davon aus, dass das so sein wird?
Kornblum: Nein, ich nicht. Ich gehe davon aus, dass sie irgendwie gewisse Infrastruktur-Gruppen oder irgendwas zurücklassen werden, so dass das anders gemacht werden kann. Aber er hat gestern ganz klar wieder gesagt – und der Außenminister war heute Morgen auch im Fernsehen, hat das auch sehr klar gesagt -, der 31. August ist der Schlusspunkt und bis dann sind alle Truppen aus dem Land raus.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.