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John Wray: "Gotteskind"
Aden zieht in den Dschihad

Wir halten Gotteskrieger im Allgemeinen für mörderische Verrückte. John Wray hält sie für entgleiste Idealisten. Sein neuer Roman "Gotteskind" hilft mit einer neuen Perspektive auf das Problem: Beim IS sollen etwa 800 junge Menschen aus Europa dabei gewesen sein, darunter Dutzende mit deutschem Pass.

Von Brigitte Neumann | 25.03.2019
Buchcover: John Wray: „Gotteskind“
Erfolgsautor John Wray recherchierte in Afghanistan (Buchcover: Rowohlt Verlag, Foto: Deutschlandradio/Kolja Mensing)
Es ist der Sommer des Jahres 2001. Aden verabschiedet sich von ihren getrennt lebenden Eltern, einem lieblos wirkenden Professor für Islamstudien an der Universität Berkeley in Kalifornien und einer völlig desolaten Alkoholikerin. Der Abschied fällt nicht schwer, obwohl die Tochter vielleicht nicht zurückkehren wird - alle scheinen erleichtert. John Wrays Beschreibung dieser familiären Verwahrlosung gehört zu den Szenen des an unerhörten Begebenheiten nicht armen Romans, die unter die Haut gehen. Was wir zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht wissen: Die 18-jährige Aden plant keinen Road Trip der üblichen Art, vielmehr ist die Reise gedacht als Beginn eines anderen Lebens. Als Umkehr. Als Trennung von der eigenen Vergangenheit. Ein radikaler Neuanfang als Kämpferin für eine bessere Welt, eine gerechte Sache. Für Gott. Aden zieht in den Dschihad. Aber als Mädchen kann Aden nicht zur Gotteskriegerin werden. In Pakistan angekommen, verwandelt sie sich deshalb in einen Jungen. Sie hört auf zu essen, die Menstruation bleibt aus, sie bandagiert ihre kleinen Brüste und nennt sich fortan Suleyman. Für sie beginnt tatsächlich ein ganz neues Leben.
Eine Amerikanerin als Dschihadistin in Afghanistan
John Wray ist 2015 in Afghanistan bei Recherchen für das Magazin "Esquire" auf diese Geschichte gestoßen. Er wollte etwas über den als "american talib" bekannt gewordenen John Walker Lindh, Gefechtsname Suleyman, herausfinden. Aber nur wenige Menschen waren bereit, mit Wray und seinem Übersetzer zu reden. Einer aber wurde gesprächig. Er sagte, ja, neben dem jungen Amerikaner habe es noch eine junge Amerikanerin gegeben – wie Wray erzählt.
"Wir haben uns beide angeschaut, der Dolmetscher und ich. Wir waren beide ziemlich baff. Aber ich würde nicht schwören, dass es eine junge Amerikanerin gab. Ich würde aber auch nicht dagegen wetten. Ich habe keine Ahnung. Aber das Schöne ist, dass ich eigentlich Romanautor bin. Und diese Lücken, diese Leerstellen, die am Ende noch übrig waren, dienten mir als Ausgangspunkte für meine Fiktion. Es war eigentlich ein Glücksfall. Nur habe ich das damals nicht so verstanden."
Factitious Fiction
Aus diesem Glücksfall wurde der Roman "Gotteskind". John Wray, der so gut Deutsch spricht, weil seine Mutter aus Kärnten stammt, sagt, er fände es einfacher, als Journalist über Tatsachen zu schreiben als sich eine Geschichte auszudenken. Da es aber im vorliegenden Fall nicht anders ging, musste Wray mischen: "Gotteskind" ist factitious fiction. Das Buch trägt die Gattungsbezeichnung Roman nur deshalb, weil die für Wray mühsame Arbeit des Erfindens überwog.
"Mir fällt das Schreiben wahnsinnig schwer. Ich will das nicht romantisieren. Es ist keine Folter. Aber man muss sich einfach so verdammt intensiv konzentrieren. Ich komm mir immer vor, als ob ich in irgendeinem Schwimmbecken untergetaucht wäre und als ob ich meinen Atem halten müsste die ganze Zeit. Ein Genuss ist mir das keiner."
Auflösung in Abspaltung und Selbstentfremdung
Auch um das Leseerlebnis seines Romans zu beschreiben, wäre "Genuss" nicht das richtige Wort. Wray schreibt "Gotteskind" aus der Perspektive seiner erst wütenden Heldin, dann aus der eines Mädchens, das sein Geschlecht leugnet, um am Krieg für die geliebte Religion teilzunehmen. In ihrer Vorstellung einem guten Krieg. Sie erlebt allerdings, wie der Islam Rechtfertigung für Mord, Folter und Zerstörung wird. "Erleben" ist aber nicht ganz das richtige Wort. Denn als Kämpferin bei den Taliban hat Aden weitgehend ihre Persönlichkeit aufgegeben. Sie wirkt wie eine Marionette, tut alles mechanisch: Minenlegen, einen alten Mann erschießen, der Steinigung einer Frau beiwohnen. Das aber ist ein Problem für den Roman. Denn im Hauptteil verflacht er zur Dokumentation von Kriegsgräueln. Frage an John Wray: Wäre es an dieser Stelle nicht besser gewesen, einen auktorialen oder Co-Erzähler einzusetzen, der das schildert, was das Mädchen nicht mehr fühlen kann?
"Ich weiß nicht, ob das eine hundertprozentig bewusste Entscheidung war. Ich schreibe ziemlich intuitiv normalerweise. Es findet schon in Afghanistan und vorher in Pakistan in dem Lager, wo Aden trainiert, bevor sie Dschihadistin wird, eine gewisse, wie sagt man das auf Deutsch, eine gewisse Selbstentfremdung (statt). Ich glaube, die Gewalt kann das verursachen. Auf Englisch heißt das dissociation - Abspaltung, ja genau. Man kommt sich selber irgendwie unverständlich vor. Und man fühlt sich auch sehr weit entfernt von all dem, was einem passiert. Man beobachtet viel eher aus einer gewissen Distanz. Und dieses Phänomen wollte ich auch irgendwie in der Sprache des Buches wiedergeben."
Aber wir wollen verstehen. Warum tut Aden das? Warum setzt sie ihr Leben aufs Spiel in einem unverständlichen Kampf in einem fremden Land, in dem Mädchen keine Rechte haben? Warum merkt sie nicht, dass sie jetzt schlimmer dran ist als zuhause? Für Wray und seine Protagonistin gehen diese Fragen allerdings an der Sache vorbei. Denn für die Heldin stellen sich andere. Etwa: Wie führe ich ein gottesfürchtiges Leben? Aden sucht Gott, etwas, an das sie glauben kann. Wir erfahren aus ihrem Gespräch mit dem Anwerber in Pakistan: Bevor ihr Vater sie aus beruflichen Gründen einmal in eine Moschee mitgenommen hatte, fühlte sie sich leer. Als sie begann, alleine dorthin zu gehen und mit zu beten, fühlte sie sich voll. Sie will das Leben in genau dieser Fülle, die ihr die Unterwerfung unter den Glauben schenkt. Das mag uns als unzeitgemäßer, vielleicht befremdlicher Wunsch erscheinen. Wray versucht diesen Wunsch verständlich zu machen.
Könnte es jedem passieren?
"Was ich so ein bisschen mitgelernt habe beim Schreiben dieses Buches, ist, dass solche Sprünge, die man wirklich als äußerst extrem und radikal betrachtet, wenn man sie nur als Einheit betrachtet, eigentlich viel mehr als langsame Wandlungen zu verstehen sind, die aus unzähligen kleinen Schritten bestehen. Man will aus dem Elternhaus raus. Man interessiert sich für eine gewisse Religion. Man fängt an, eine Moschee zu besuchen. Das Interesse wächst. Man fängt an, diesen ganzen Lebensstil, diese ganze Ideologie ernstzunehmen. Man möchte dann ins Ausland, weiterstudieren. Und irgendwann befindet man sich in einer Umgebung, in der es gar nicht so unmöglich scheint, eine Waffe aufzuheben. Ich bin davon überzeugt, das könnte jedem passieren."
Vielleicht nicht wirklich jedem. Aber es könnte Jugendlichen passieren, die keine Geborgenheit erfahren haben, die Freiheit als Gleichgültigkeit kennengelernt haben, die keinen Sinn im Streben nach individuellem Wohlstand sehen, die sich nach gemeinschaftlicher Hingabe an eine Idee sehnen, an eine Idee, die die Welt besser machen soll. Diese Beschreibung trifft in der Tat auf nicht wenige Jugendliche aus dem Westen zu. Sofern sie zum Islam konvertieren und in den sogenannten Heiligen Krieg ziehen, betrachten wir sie als Mörder, Monster, Lebensmüde. Der Schriftsteller John Wray aber, der in seinen drei Vorgängerromanen bereits andere entlegene Spielarten des Menschlichen gezeigt hat, Nazis, Psychotiker, verrückte Wissenschaftler, betrachtet Aden Sawyer als Liebessehnsüchtige, als Leidenschaftskranke, als furchtbar verirrte Sucherin. Sein Roman "Gotteskind" erweitert den Horizont, auch wenn die Dehnung mitunter Schmerzen bereitet. Er hilft zu verstehen, dass auch Aden Sawyer alias Süleyman eine von uns ist.
John Wray: "Gotteskind"
aus dem Amerikanischen von Bernhard Robben
Rowohlt Verlag, Hamburg. 344 Seiten, 23 Euro.