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John Wyclif
"Morgenstern der Reformation"?

Sein Werk gilt als revolutionär. Und indirekt hat er zu Reformen in der Kirche beigetragen. Genauer: Er hat die Reformation beeinflusst. Der englische Theologe John Wyclif (ca. 1330 - 1384) war seiner Zeit voraus. Warum aber wurden seine Gebeine ausgegraben? Und warum leben seine Ideen weiter?

Von Kirsten Serup-Bilfeldt | 02.08.2017
    Das Licht ist auf den Kandelaber gestellt - Jan Houwen stellt ein imaginäres Treffen Luthers und Calvins mit anderen Reformatoren dar, darunter auch John Wyclif.
    Das Licht ist auf den Kandelaber gestellt - Jan Houwen stellt ein imaginäres Treffen Luthers und Calvins mit anderen Reformatoren dar, darunter auch John Wyclif. (imago stock&people)
    Eine düstere, sternenlose Winternacht. Um die Mauern der Pfarrkirche St. Mary's in dem kleinen Marktflecken Lutterworth in der Grafschaft Leicestershire pfeift ein eisiger Wind. Alles scheint menschenleer und totenstill. Nur drinnen in dem Gotteshaus herrscht Betriebsamkeit.
    Steinplatten werden beiseite geräumt, Spitzhacken bohren sich in die Erde. Im matten Schein einiger Kerzen werden Skelettteile - Arm-, Bein-, und Schädelknochen - ausgegraben und sofort in einem lodernden Holzfeuer verbrannt.
    "Eine makabre Szene muss das gewesen sein," sagt der Historiker Martin Kintzinger, "aber das zeigt nur, dass der Hass über die Jahrzehnte konserviert worden ist - und jetzt konnte er sich Bahn brechen."
    Und konnte dafür sorgen, dass nichts mehr übrigbleibt von dem, der hier 1384 - Jahrzehnte zuvor - in geweihter Erde begraben worden war.
    Antichrist - oder unerschrockener Kritiker?
    Nichts mehr soll übrigbleiben von John Wyclif! Dem Ketzer? Dem Herausforderer der Kirche? Dem Antichristen? Oder dem Priester, Theologen und Philosophen? Dem unerschrockenen Kritiker von Papsttum und Kirche? Dem gelehrten Master des "Balliol College" in Oxford? Dem Bibelübersetzer? Der nun, nach dieser nächtlichen Aktion in der Kirche der "Damnatio Memoriae" - der endgültigen Auslöschung aus dem Gedächtnis der Nachwelt - anheimfallen soll?
    Doch es kommt ganz anders. Der Chronist Thomas Fuller:
    "They burnt his bones to ashes and cast them into the Swift. This near-by brook conveyed his ashes into the Avon, the Avon into the Severn and eventually into the ocean. And thus the ashes of John Wyclif are the emblem of his doctrine which now is dispersed the world over.”
    "Sie haben seine Knochen zu Asche verbrannt und sie in den nahen Fluss Swift geworfen. Der Fluss hat sie in den Avon getrieben, der Avon in den Severn und irgendwann ist sie ins Meer gelangt. Und so wurde seine Asche zum Sinnbild für seine Lehre, die sich dann über die ganze Welt ausbreitete."
    "Das alles hat dieser Bewegung Auftrieb gegeben. Und sie haben bis zur Reformation, bis zum 16. Jahrhundert eine ganz starke Position in England behalten - diese Leute. In dem Sinn, dass sie Wyclifs Gedanken weiterverbreitet haben." Sagt Martin Kintzinger, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
    Vergeistigter Engländer contra dröhnender Wittenberger
    John Wyclif - ein Gelehrter, dessen einzige Waffe die Feder ist, spaltet wie kaum ein anderer die Gesellschaft und die Kirche, polarisiert und provoziert fanatischen Hass. Rund 150 Jahre bevor ein störrischer Augustinermönch in Wittenberg seine 95 Thesen veröffentlicht, erdreistet sich ein Priester aus der englischen Provinz, den Machtanspruch des Papstes und den Reichtum der Kirche anzuprangern. Und als ob das nicht genug wäre, lässt er auch noch die Bibel aus dem Lateinischen ins Mittelenglische übersetzen. Dann geht er noch einen Schritt weiter und wagt die Kraftprobe mit der mächtigen römischen Kurie.
    Klingt all das nicht wie ein Vorgriff auf den Doktor Martinus Luther, der später mit ähnlichen Aktionen an den Grundfesten von Staat und Kirche rütteln wird? Eint nicht, auch über die Zeitspanne von 150 Jahren hinweg ein Ziel - nämlich die Reform der Kirche an Haupt und Gliedern - diese beiden ungleichen Männer? Den eher vergeistigten Engländer und den dröhnenden Wittenberger?
    Martin Kintzinger: "Luther ist deswegen der Poltergeist, weil er in der Zeit so dargestellt worden ist. Wyclif ist eher ein Gelehrter, ein asketischer Typ, der aber doch - und das bringt beide zusammen - in seinem Anliegen zur Reform der Kirche ganz ähnliche Ideen vertrat wie Luther sehr viel später."
    Und wie Luther vertritt John Wyclif diese Ideen mit einem hohen Maß an Kompromisslosigkeit. Zum leidenschaftlichen Radikalen wird der "Doctor Evangelicus", wenn es um sein Bibelverständnis geht:
    "Holy Scripture is the preeminent authority for every Christian, and the rule of faith and of all human perfection.”
    "Die Bibel ist die herausragende Autorität für jeden Christen, die Richtschnur für den Glauben und für die Vollendung eines jeden Menschen."
    "Er hat ganz extreme Positionen formuliert," so Martin Kintzinger, "so extrem wie kaum jemand anders."
    Das Echo auf sein Wirken, seine Schriften, seine Predigten mag heute verhallt sein; andererseits finden ihn Theologen, Philosophen und Wissenschaftler faszinierend. Bis heute.
    "Lieber Wyclif, Gott gebe dir das himmlische Königreich."
    Eine Randnotiz des Johannes Hus an einem Text Wyclifs'.
    "Was ist er denn nun? Mittelalterlicher Ketzer oder Vertreter einer frühreformatorischen Ideologie?"
    Bernhard Töpfer, Historiker.
    "Am Beispiel Wyclifs wird deutlich, dass auch radikale Formen sektiererischer Kritik nicht zu einer Reform der römischen Kirche führten."
    Paul Tillich, evangelischer Theologe.
    "Häretiker."
    William Courtenay, Bischof von London.
    "Anti-christ!"
    Papst Martin V.
    "Morgenstern der Reformation?"
    "Morgenstern der Reformation" - das ist sehr viel später gesagt worden und passt eigentlich nicht. Im Grunde ist er streng genommen kein Reformator, kein Wegbereiter der Reformation gewesen. Er war auch kein Charismatiker, er entzieht sich gängigen Zuordnungen, die gern für Menschen seiner Art angewandt werden. Insofern: jemand, der wirken wollte, der aber nicht Propaganda betrieben, sondern gelehrte Texte geschrieben hat." Sagt Martin Kintzinger. Und doch sind es Texte von einiger Brisanz. Texte, in denen die Kirche angegriffen wird, Reformen gefordert werden: "Die Forderung hieß in aller Regel: Der Kirche geht es nicht gut, sie macht Dinge, die sie nicht soll. Sie soll zurück zu ihren Ursprüngen einer armen Kirche."
    Ein Gelehrter in schwierigen Zeiten
    Nun sind solche Appelle nicht neu und auch zu Wyclifs Zeiten längst in der Welt. Sie ziehen sich durch die gesamte Kirchengeschichte. Und keineswegs sind sie immer nur die Wegbereiter reformatorischer Strömungen.
    Der evangelische Theologe Friedemann Voigt notiert:
    "Man hat sich angewöhnt, die Ketzer- und Reformbewegungen des Mittelalters oft nur als Vorläufer der Reformation wahrzunehmen, weil sie die herausragende Stellung Luthers und der Reformation gefährdeten. Doch damit wurde den Vorreformatoren doppeltes Unrecht angetan: Von der katholischen Kirche wurden sie zu Ketzern erklärt, von der Reformation vereinnahmt und später aktiv übergangen."
    Der Kupferstich zeigt John Wyclif, 1330 bis 1384, englischer Philosoph, Theologe und Kirchenreformer.
    Der Kupferstich zeigt John Wyclif, 1330 bis 1384, englischer Philosoph, Theologe und Kirchenreformer. (imago stock&people)
    Es ist eine unruhige Zeit, in die John Wyclif um das Jahr 1330 als Sohn einer Familie des niederen Landadels hineingeboren wird: eine Zeit der sozialen und politischen Umbrüche, der zerfallenden Gewissheiten, der Missernten, Hungersnöte und der kriegerischen Auseinandersetzungen:
    Martin Kintzinger: "England liegt ungefähr seit seiner Geburt für die nächsten 100 Jahre im Krieg mit Frankreich, der in Frankreich ausgetragen wird und der England unendlich viel Geld kostet. Am Ende verlieren die Engländer auch alles, was sie in Frankreich erobert haben. Und das Geld zahlen natürlich die Menschen, die Steuerzahler würden wir modern sagen. Eine Zeit der Verunsicherung, des Niedergangs, der Angst. In den vierziger Jahren des 14. Jahrhunderts bricht die Pest aus, die fast alle Regionen Europas schwer betrifft. Millionen von Menschen sterben und danach hat sich vieles verändert. Die Kunst wird anders, die Literatur wird anders, die Menschen haben ein stärkeres Todesbewusstsein."
    Todesfurcht bestimmt das Lebensgefühl. Dem Sensenmann, der die tödlichen Pestpfeile abschießt, kann niemand entkommen. Die Angst vor der Pest grundiert das Bewusstsein der Menschen:
    "Adieu, farewell, earth’s bliss;
    This world uncertain is;
    Fond are life’s lustful joys;
    Death proves them all but toys;
    None from his darts can fly;
    I am sick, I must die.
    Lord, have mercy on us."
    Krankheitssymptome der Kirche
    In dieser Situation steht der Heilssehnsucht der Gläubigen eine an Haupt und Gliedern angekränkelte Kirche gegenüber. Ihre Krankheitssymptome heißen Ämterpatronage, Machtmissbrauch und Verweltlichung. Der Materialismus der Kirche und die reichen Pfründe ihrer Würdenträger werden überall in Europa beklagt, aber nirgends ist diese Kritik schärfer als in England, wo die Eingriffe des ausländischen Papsttums in englische Angelegenheiten den größten Unmut hervorrufen.
    Und all das, so der Münsteraner Historiker Martin Kintzinger, geschieht vor dem dramatischen Hintergrund der Kirchenspaltung:
    "Seit Anfang des 14. Jahrhunderts residiert der Papst in Avignon unter Aufsicht des französischen Königs, immer wieder angefeindet von denen, die erwarten, dass der Papst wie es sich gehört in Rom residiert. Das hat die Menschen sehr stark beeindruckt, dass die Papstkirche gespalten ist, dass man zwei Päpste hat - einige Jahre später hat man sogar drei. Das haben die Menschen nicht verstanden, das haben sie als Apokalypse des Weltuntergangs gedeutet, weil sie gelernt hatten, dass Gott einen Papst über die Kirche setzt."
    Die brüchige Autorität dieser von Krisen geschüttelten Kirche greift Wyclif nun frontal an. Er hat es inzwischen zum Priester, zum Theologieprofessor an der Universität Oxford und zum "Master" des berühmten "Balliol College" gebracht.
    Seine Zunge sorgsam hüten muss er nicht, weil er - glückliche Fügung des Schicksals - unter dem Schutz der königlichen Familie steht. Denn König Eduard III. ist auf den hellen Kopf des Oxforder Gelehrten aufmerksam geworden und hat ihn zu seinem eigenen "königlichen Kaplan" ernannt. Doch zunächst wird aus dem Kaplan ein Diplomat.
    Auf diplomatischer Mission
    Als Gesandter des Königs reist Wyclif 1374 nach Brügge, um dem päpstlichen Nuntius dort ganz offiziell "Beschwerden gegen den Heiligen Stuhl" vorzutragen. Ungerührt weist er der Kurie den Verkauf geistlicher Ämter nach; eloquent und elegant geißelt er die Eingriffe des Papstes in staatliche Angelegenheiten:
    "Christ’s fishermen should not meddle with men’s law.”
    "Die Fischer Christi sollten sich nicht in die Gesetze der Menschen einmischen."
    Die Gültigkeit kirchlicher Ansprüche macht er abhängig von der moralischen Integrität des Papstes und des Klerus. Frömmigkeit und Bestechlichkeit, so fragt er, wie passt das zusammen? Und er verlangt Auskunft zur wachsenden Steuerlast für das englische Volk, so Martin Kintzinger:
    "Die Päpste haben immer mehr Abgaben gefordert; und Reformer wie Wyclif haben nachgerechnet, dass die Steuern für die einfachen Menschen, die letztlich der Kirche zufließen, größer sind als die, die der König bekommt. Es floss sehr viel Geld aus den Königreichen in die Kirche."
    Die diplomatische Mission in Brüssel wird zu Wyclifs Feuertaufe:
    "Jedenfalls kommt dann eine Zäsur zustande in seinem Leben, dass er sich von wissenschaftlichen Texten über Logik, aristotelische Philosophie abwendet und zunehmend kirchenkritische - die Reformschriften schreibt, die wir von ihm kennen."
    In denen er etwa unumwunden feststellt, dass das Papsttum kein Recht auf weltliche Herrschaft beanspruche könne:
    "Hence it is beneficial for the Pope that Jesus Christ endows him with the power of leading himself and his flock in spiritual matters - for as long as he does not succumb to such blasphemy as to maintain that he alone is head of the Holy Church and equipped with equal powers as Christ our Lord.”
    "Daher ist es für den Papst zuträglich, wenn er von Jesus Christus die Kraft bekommt, sich selbst und seine Schafe in den geistlichen Dingen zu leiten - so lange er nicht der Lästerung verfällt, dass er das Haupt der Kirche sei und dieselbe Machtfülle habe, wie sie Christus, unser Herr besitzt."
    Heißt es in seinem Werk "Tractatus De Ecclesia".
    "Keiner hätte gesagt wie Wyclif: Der König soll in der Lage sein, über die Kirche zu wachen, darauf zu achten, dass sie ihre Aufgaben auch erfüllt; und wenn sie das nicht tut, dann kann er ihr ihr Eigentum wegnehmen. "
    Seinem königlichen Gönner lassen solche Worte das Herz im Leibe lachen, werden doch hier Gedanken zum Verhältnis von Staat und Kirche formuliert, die Eduard III. sehr entgegenkommen - auch seinem Sohn John of Gaunt - Johann von Gent-, der Wyclif in besonderem Maße protegiert:
    "Wyclifs Ideen und die Bedürfnisse der Krone passten zusammen wie Schwert und Scheide."
    Notiert ein Chronist. Es ist ein kleiner Sieg der weltlichen Macht über die kirchliche.
    Protegiert und streitlustig
    Wyclif geht keinem Konflikt aus dem Weg. Er zieht gegen den Zölibat zu Felde, ebenso gegen die Ohrenbeichte oder die Heiligen-, Reliquien- und Bilderverehrung. Er legt sich mit den Bettelorden an, denen er vorwirft, im Lauf der Jahre großen Reichtum angehäuft und sich weit von ihrem ursprünglichen Armutsideal entfernt zu haben. Er kann all das gefahrlos tun, denn:
    "Er wird geschützt durch John of Gaunt - das ist der Herzog von Lancaster - eine ganz mächtige Figur - und gegen den kann man nichts tun. Wir haben mehrfach den Fall, das Wyclif geladen wird. Er soll seine Thesen vertreten und man hat natürlich vor, weil die, die ihn laden, Bischöfe sind, Gelehrte, Theologen, Kirchenleute, ihn zu widerlegen und zu zwingen, dass er seine häretischen Lehren widerruft."
    1377 ist für Wyclifs alten Widersacher William Courtenay, den Bischof von London das Maß voll. Nachdem bereits Papst Gregor XI. einige Lehrsätze Wyclifs als häretisch verurteilt hat, bestellt der Bischof den aufsässigen Oxforder Professor in die Kathedrale von St. Paul's in London ein, wo er sich zu Vorwürfen wegen Ketzerei äußern soll.
    Als Wyclif eintrifft, traut Courtenay seinen Augen nicht zu trauen: Er wird nicht nur von vier seiner Oxforder Kollegen begleitet, sondern auch von Johann von Gent und seiner durchaus einschüchternden Entourage.
    Mehr Gelehrter als Revolutionär: John Wyclif
    Mehr Gelehrter als Revolutionär: John Wyclif (imago stock&people)
    "Einer der hochrangigsten Fürsten des Königreichs kommt mit zu diesem Termin und in dem Moment ist klar: Der Termin fällt aus. Denn man kann nicht John of Gaunt sagen: Du schützt den zwar hier, aber wir verurteilen ihn jetzt."
    Der Königssohn und mächtige Herzog von Lancaster schützt Wyclif. So kann der sperrige Theologe den Angriffen und Nachstellungen der Kirche entkommen. Das ermöglicht ihm die Verbreitung seiner Schriften, die inzwischen nicht nur in Oxford, sondern auch an den Universitäten in Paris und Prag gelesen und diskutiert werden.
    Dennoch - Wyclifs Gegner lassen nicht locker.
    1382 verwirft eine Synode in London einen Teil seiner Lehren. Als während der Zusammenkunft die Erde bebt, erklärt Wyclifs alter Gegenspieler William Courtenay:
    "Sei dies ein günstiges Zeichen, das die Reinigung der Erde von Irrlehren bedeutet!"
    Der Erzbischof meint Irrlehren zu erkennen, der Historiker Martin Kintzinger hingegen sieht die besondere Leistung Wyclifs darin, nationale Interessen und die Stimmung in der Bevölkerung zu bündeln und auch komplexe theologische Fragen zu thematisieren:
    "Er schreibt ein ganzes Reformprogramm zusammen, ausführliche Texte, die sehr klug, sehr gelehrt argumentieren. Ein Punkt ist ganz wesentlich, ganz zentral: die Transsubstantiationslehre, die er nicht aufgibt, aber relativiert. Die katholische Lehre geht ja davon aus, dass Brot und Wein sich durch den Konsekrationsakt des Priesters verwandeln in Leib und Blut Christi, also eine andere Substanz annehmen und nicht mehr Brot und Wein sind. Das ist die gängige Lehre der katholischen Kirche. Luthers Abendmahlslehre ist sehr weitgehend katholisch geblieben; und Wyclif bewegt sich auch auf so einem Mittelpunkt. Er nimmt ein wenig die neue Forderung auf und belässt es so ungefähr in der Mitte. Das hat man ihm vorgeworfen, dass er kritisiert, ohne ein Gegenmodell zu entwickeln."
    Ketzer post mortem
    Einer Verurteilung und Verfolgung als Ketzer entgeht Wyclif immer wieder.
    Die Mächtigen des Königreichs erlauben ihm dann aber, sich auf seine Pfarrei in Lutterworth in Leicestershire zurückzuziehen, zu schreiben, zu predigen und seine Anhänger, die "Lollarden" - der Ursprung des Namens ist nicht bekannt - in seinen Lehren zu unterweisen.
    John Wyclif landet nicht als Ketzer auf dem Scheiterhaufen, sondern erleidet Ende 1384 einen Schlaganfall. Daran stirbt er am Silvesterabend. Ihn offiziell zum Häretiker zu erklären - das erledigt erst das Konzil von Konstanz 1415 - 31 Jahre nach seinem Tod:
    "Das Konzil, auf dem man Jan Hus, der ja letztlich ein Repräsentant der Ideen Wyclifs war, den hat man unter Bruch des Rechts verhaftet und verbrennen lassen als Ketzer mit seinen Schriften. Und bei dieser Gelegenheit hat man gesagt: Dann verbrennen wir die Schriften von Wyclif auch noch gleich mit. Das hat man getan und kam dann auf die Idee, sogar die Gebeine Wyclifs ausgraben und verbrennen zu lassen."
    Doch seine Lehren konnte man nicht verbrennen. Sie breiteten sich aus. In vielen Ländern Europas. John Wyclif - der "Morgenstern der Reformation"? Oder eher ihr Brandbeschleuniger? Oder weder das eine noch das andere?
    Sondern "nur" der Oxforder Gelehrte, der ein Feuer entfachte, das andere zum Lodern brachten? Der anderen das Rüstzeug mitgab, damit sie das Gesicht des Abendlandes verändern konnten?
    "It is not good for us to trust in our merits, in our virtues or our righteousness; but only in God's free pardon, as given us through faith in Jesus Christ.”
    "Wir sollten unser Vertrauen nicht in unsere Verdienste setzen, nicht in unsere Tugenden oder unsere Rechtschaffenheit, sondern nur in Gottes Vergebung, die uns verliehen wird durch unseren Glauben an Jesus Christus."
    Martin Kintzinger:
    "Wichtig wäre mir, dass, wenn wir über solche Reformer sprechen, uns nicht den Luxus erlauben, sie in die antiquarische Ecke zu stellen. Luther wird ein bisschen zu sehr gefeiert; das hat er eigentlich nicht verdient. Er hat ja auch gelitten an seiner Zeit. Luther hat genau wie Wyclif, genau wie Hus, eine Idee gehabt. Die Idee hat mit der Selbständigkeit von Menschen zu tun, mit der Freiheit des Willens und Glaubens und mit der Freisetzung des Individuums."