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Johnson und Corbyn vor TV-Duell
Kampf um jede Stimme

Da es in Großbritannien viele unentschlossenen Wähler gibt, ist der Ausgang der Unterhauswahl noch spannend. Denn in den Wahlkreisen können wenige Stimmen darüber entschieden, an wenn das Mandat fällt. So kurz vor der Wahl ist das zweite TV-Duell zwischen Johnson und Corbyn deshalb besonders wichtig.

Von Jörg Münchenberg | 06.12.2019
Großbritanniens Premierminister Boris Johnson (l.) und der Vorsitzende der britischen Labour-Party Jeremy Corbyn während eines TV-Duells im Vorfeld der Parlamentswahl
Boris Johnson (li) und Jeremy Corbyn treffen erneut in einem TV-Duell aufeinander (imago/Xinhua)
Zumindest nach den letzten Umfragen stehen die britischen Konservativen glänzend da. Nach der Erhebung des Meinungsforschungsinstituts YouGov von Ende November könnten die Torys deutlich zulegen. Mit 359 von 650 Sitzen hätten sie im Unterhaus eine komfortable Mehrheit, würde dies doch ein Zugewinn von 42 Sitzen gegenüber den Parlamentswahlen von 2017 bedeuten.
Insofern könnte also Premier Boris Johnson dem zweiten TV-Duell gegen Labour-Chef Jeremy Corbyn heute Abend eigentlich gelassen entgegensehen. Doch davon kann natürlich keine Rede sein, warnt der Politikwissenschaftler Tim Bale von der Londoner Queen Mary Universität.
"Debatten, die kurz vor den Wahlen stattfinden, können natürlich viel mehr bewirken als solche mitten in einer Kampagne. Einfach, weil sie dann beim unmittelbaren Wahlvorgang noch präsenter sind. Und dann gibt es natürlich noch den Risikofaktor – etwa eine unbedachte Äußerung, die sich fatal auswirken kann."
Mehrheitswahlrecht stellt hohe Anforderungen an die Wähler
Dazu kommt auch noch die Besonderheit des britischen Mehrheitswahlrechts. Wer die meisten Stimmen im Wahlkreis bekommt, hat gewonnen. Was die Aussagekraft von Umfragen erheblich einschränkt. Diese bittere Erfahrung musste auch schon Johnsons Amtsvorgängerin Theresa May machen, die die Wahlen 2017 trotz guter Umfragewerte krachend verloren hatte.
Aber auch an die Wähler selbst stellt das britische Mehrheitswahlrecht hohe Herausforderungen - zumal in einem Wahlkampf, der vom Brexit dominiert wird, meint der Wahlforscher Jonathan Mellon von der Universität Manchester.
"Wenn es zum Beispiel eine Remain-Mehrheit in einem Wahlkreis gibt, aber sie geteilt wird zwischen Labour und den Liberaldemokraten, dann können die Konservativen selbst mit einer Minderheit von Leave-Stimmen gewinnen. Also müssen sich die Wähler in jedem Wahlkreis koordinieren, um die jeweils aus ihrer Sicht aussichtsreichste Partei auszuwählen. Es ist offen, ob das funktioniert. Das setzt bei den Wählern großes Wissen voraus und die Bereitschaft, eine andere Partei zu wählen, auch wenn die aus eigener Sicht nicht die erste Wahl ist."
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Viele Wähler haben sich noch nicht entschieden
Was den Wahlkampf aus Sicht der Parteien wiederum so spannend macht: Viele Wähler haben noch nicht für sich entschieden, wem sie am Ende ihre Stimme geben wollen. Das gilt insbesondere für Frauen. Die deshalb für den Wahlausgang maßgeblich sein könnten, prognostiziert Wahlforscher Mellon. Erschwerend kommt hinzu: Das klassische Links-Rechts-Schema bezogen auf die Stammwähler hat längst ausgedient.
"Die Menschen wählen nicht mehr milieuabhängig. Jetzt wird von Wahl zu Wahl neu entscheiden. Das heißt aber auch, sie wechseln viel stärker – abhängig von der politischen Großwetterlage, der jeweiligen Parteiführung oder eben anderen Begebenheiten."
Und so müssen Boris Johnson und Jeremy Corbyn weiter um jede Stimme kämpfen, auch wenn die Ausgangslage für Labour sicherlich deutlich schwieriger ist. Was vor allem mit dem selbst in den eigenen Reihen umstrittenen Parteichef zusammenhängt. Das erste TV-Duell ging unentschieden aus. Das könnte sich heute Abend ändern. Politikwissenschaftler Bale bleibt allerdings trotzdem skeptisch.
"Wenn man auf das politische Wissen in diesem Land schaut: Das ist nicht sehr beeindruckend. Ich glaube nicht, dass die Wähler deutlich mehr Informationen besitzen als während des Referendums über den Brexit. Ehrlich gesagt ist keine Partei richtig ehrlich, wenn es um die Konsequenzen aus dem Brexit und die Konsequenzen ihrer Versprechungen und ihrer Politik geht."