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Jón Kalman Stefánsson: "Ástas Geschichte"
Erzählen, als gäbe es kein Morgen

Als philosophische Exkursion in die menschliche Seele versteht der Isländer Jón Kalman Stefánsson sein Schreiben. Klassische Erzählformen löst er eindrucksvoll auf, auch in seinem neuen, gerade ins Deutsche übersetzten Buch. Ein Liebesroman, so dunkel wie eine Ballade von Chet Baker.

Von Peter Henning | 14.11.2019
Ein Portrait des isländischen Schriftstellers Jón Kalman Stefánsson
Geboren 1963 in Reykjavík zählt Jón Kalman Stefánsson zu den bedeutendsten Autoren Islands. Seine Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. (© Einar Falur Ingólfsson 2017 / Piper Verlag )
"Lass von meinem Namen den letzten Buchstaben weg, und es bleibt ... Ást, das heißt Liebe. Ástfanginn, verliebt. In Liebe gefangen. Ein Gefangener der Liebe."
So erklärt es Ásta, die Protagonistin des neuen und nunmehr elften auf Deutsch vorliegenden Buches des Isländers Jón Kalman Stefánsson. Und dabei bringt die eigenwillige, darin durch diverse Höllen gehende junge Frau ziemlich genau auf den Punkt, wie wir ihre früh von Verlust und Vereinsamung geprägte Erzählung lesen und verstehen sollen: nämlich als die eines Kindes der Liebe, das diese allerdings sehr bald als Martyrium, ja, als Gefängnis erleben muss. Denn ihre exzentrischen Eltern Sigvaldi und Helga entziehen ihr diese Liebe sehr bald auf jeweils ganz unterschiedliche Weise.
In der Folge kommt Ásta zu einer Ziehmutter und wird später in eine Art Verbannung geschickt, nachdem Helga Sigvaldi verlassen hat. Eine Zeit, in der sie immer wieder von dunklen Gedanken heimgesucht wird.
"Ich sehe keinen Grund, weshalb ich am Leben bleiben sollte. Sicher versuche ich mein Möglichstes. Doch ich täusche die Welt, in dem ich mich jedes Mal zurechtmache, wenn ich die Wohnung verlasse. Ich ringe mir ein Lächeln ab. Ich überschminke meine Sehnsucht und setzte meine Sonnenbrille auf. Ich esse mittlerweile kaum noch etwas. Ich habe Leonard Cohen aufgelegt, Songs from a room. Die Musik ist in Tränen ertrunken."
Stark emotionalisiertes Erzählen
Jón Kalman Stefánsson, der sich als Maurer und Flughafen-Polizist, und später eine Zeitlang in Islands Fischindustrie durchschlug, um sein Schreiben zu finanzieren, wurde hierzulande mit seiner sich aus den Bänden "Der Sommer hinter dem Hügel" und "Das Licht auf den Bergen" bestehenden Romantrilogie bekannt. Dabei handelte es sich um unverstellt autobiografisch motivierten Arbeiten, in denen er ungeniert einen expressionistisch-wilden, stark emotionalisierten Erzählton anschlug. Das trug ihm rasch über Islands Grenzen hinaus große Bewunderung ein – aber auch den wiederholt formulierten Kitschverdacht.
In "Ástas Geschichte" führt er sein auto-fiktionales Erzählen mit einer Wucht und Entschlossenheit fort, die einem beim Lesen bisweilen den Atem stocken lässt. Denn scheinbar befreit von sämtlichen Denk- und erzählerischen Formfesseln fabuliert hier einer über das Leben und seine Fallstricke drauflos, als gäbe es kein Morgen. Er tut es mit dem Furor des passionierten Schwarzsehers, der uns seinen fröhlichen Nihilismus mit der Lüsternheit eines untergangsgewissen Schalks kredenzt. Entsprechend lässt er Sigvaldi, der Ástas Geschichte in weitausholenden Erzählschleifen beschwört, wiederholt so oder so ähnlich bekennen:
"Wie ungerecht, dass sich Gläser leeren, Sätze enden, Tage verebben, Träume verfliegen. Dass Küsse nicht ewig währen, dass wir sterben müssen, dass unsere Hunde sterben, unsere Katzen, unsere Männer und Frauen, Kinder und Enkelkinder; dass du den Tag dehnen und verlängern kannst, wie du willst, und er am Ende doch zur Nacht wird. Manche finden, die Erde ist bei Regen am schönsten. Andere sagen dann, der Himmel weine, und werden ganz traurig. Welche Empfindung ist die richtige? Ihr glaubt, das Leben währe ewig und man könne alles auf morgen verschieben. Aber manchmal kommt der nächste Tag nie."
Das Gedächtnis ist ein geheimnisvoller Wald
Weil das so ist, jagt Stefánsson buchstäblich durch Ástas wildbewegtes Lebens. Er entrollt darüber die Geschichte einer etwas anderen isländischen Familie, deren Mitgliedern auf Erden nur schwer zu helfen ist. Angefangen bei Sigvaldi, dem handwerkenden Chronist der Ereignisse, der manisch seinen Untergangsideen frönt, und sich hin und wieder mit seinem Bruder, einem Dichter trifft, um heftig mit ihm zu philosophieren und sich betrinken. Einmal heißt es da:
"Das Gedächtnis ist ein großer und geheimnisvoller Wald, in dem sich Dinge verändern und ständig neue Gestalt annehmen ... und drinnen kann es natürlich so gut wie unmöglich sein, den Wald vor Bäumen sehen zu wollen. Wer sich auf sein Gedächtnis verlässt, ist genau wie ein Seemann, der den Kurs berechnet, ohne die Kompassmissweisung einzukalkulieren."
Und so beginnt Sigvaldi sich mehr und mehr in seinen Phantasmen und Marotten zu verlieren. Bis Helga ihn und die Familie schließlich verlässt, um das Dasein einer von sämtlichen Fesseln befreiten Obdachlosen zu führen. Damit scheint auch der Weg, den Àsta zu gehen hat, vorgezeichnet: Sie wird renitent und bricht einem Mitschüler kurzerhand die Nase. Daraufhin verbringt man sie für einen Sommer in die Westfjorde, wo sie auf einem Hof das einfache, ehrliche Leben erlernen soll. Dass sie dort den jungen Josef kennenlernt, der Gedichte liest und sich in sie verliebt, gibt ihr zwar eine Zeitlang Halt. Wirklich heilen aber kann sie auch diese Begegnung nicht, sodass sie später in Wien, wohin sie zum Studieren geht, versucht, sich das Leben zu nehmen.
Ein Patchwork der Bilder und Gedanken
"Die Mutter war verschwunden, die ältere Schwester aus Verzweiflung oder Unwissenheit in die Kälte hinausgegangen, wurde erst viele Stunden später auf der Sólvallagata gefunden, und bald von einem älteren Paar in Pflege genommen, weit weg von Reykjavik. Und mit zwanzig, woraus besteht das Leben da, wenn nicht aus lauter Möglichkeiten? Doch nach einem guten halben Jahr begeht sie einen Selbstmordversuch."
Jón Kalman Stefánssons Roman entwirft in Bildern von bisweilen schmerzhafter Dichte und Schönheit die Großaufnahme einer dysfunktionalen Reykjaviker Familie, deren Mitglieder sich jedes für sich vor den anderen in Sicherheit zu bringen suchen. Gleichwohl ist es nahezu unmöglich, Stefánssons ausufernde poetische Ausschweifungen, in denen er deren kompliziertes Miteinander-Verwobensein zu illustrieren versucht, als stringentes nacherzählbares Ganzes zu fassen. Vielmehr erweist sich "Ástas Geschichte" als schwindelerregendes Patchwork der Bilder und Gedanken, das mal an Strindbergs Untergangs-lüsterne "Inferno Krise" denken lässt, mal an Knausgaard´s radikal-autofiktionales Bildgericht. Stefánsson selbst kommentiert den bewusst "offenen" Charakter seines ruhelos zwischen den Zeitebenen hin und herspringenden Buches im Epilog wie folgt:
"Es lässt sich nicht erzählen, ohne sich zu verirren, ohne fragwürdige Wege zu beschreiten, ohne umzukehren, nicht nur einmal, sondern mindestens zweimal – denn wir leben gleichzeitig in allen Zeiten. Ich habe damit angefangen, von Helga und Sigvaldi zu erzählen, als sie noch jung und glücklich waren und einen stabilen Küchentisch besaßen. Doch dann ist etwas passiert. Und jetzt geht es dem Ende zu. Denn alles, was einmal angefangen hat, muss auch einmal enden. Darum heißt eine der sechs Saiten des Lebens Traurigkeit. Adieu, schönes Unglück."
Kühne formale Offenheit
So endet sein unglückspraller Roman denn auf der erzählerischen Ebene so: Sigvaldi stürzt beim Streichen der Außenfenster seines Hauses aus mehreren Metern Höhe aufs Pflaster – und erliegt wenig später seinen Verletzungen und schweigt. Helga, seine Frau, irrlichtert weiter als obdachlose Seherin durch Rejkjaviks zugige Straßen. Und Àsta findet ihr spätes Glück als freie Journalistin und Mutter eines Kindes an der Seite eines Mannes namens Gudjón, der ihr jene langersehnte Normalität zu bieten vermag, die an der Seite ihrer Eltern undenkbar war.
"Sie freut sich auf das Leben. Freut sich darauf, mit Gudjón einen gemeinsamen Haushalt zu gründen. Sie freut sich auf die gemeinsamen Abende, an denen sie zusammensetzen werden, fernsehen, über Bücher reden, über den Tag in der Redaktion, den erst noch gemeinsamen, später dann nur seinen, wenn sie zuhause bei den kleinen Kindern sein wird. Drei Kinder möchte sie haben. Das wird das schönste Leben auf der Welt."
Jón Kalman Stefánsson, von dem zuletzt die Romane "Der Schmerz der Engel" (2011) und "Etwas von der Größe des Universums" (2017) bei uns erschienen, ist mit "Ástas Liebe" ein nachtdunkler Liebes-Roman geglückt. Uferlos in seinen philosophischen Erkundungen der menschlichen Seele. Kühn in seiner formalen Offenheit. Betörend in seiner mutig zur Schau gestellten Angreifbarkeit. Ein Buch wie eine traurige Jazz-Ballade von Chet Baker.
Jón Kalman Stefánsson: "Ástas Geschichte. Wohin geht man, wenn es keinen Weg aus der Welt gibt?"
aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig
Piper Verlag, München
464 Seiten, 24,70 Euro