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Jonathan Lethem: "Der wilde Detektiv"
Politische Verstörung in Romanform

"Der wilde Detektiv" ist ein Spiel mit der Gegenwart eines zerrissenen Amerikas, seinen gescheiterten Träumen - und einem Präsidenten, der das Schlechteste aus dem "Land der Freien" hervorzulocken vermag. Er erkundet auf satirische Weise den Grat zwischen Zivilisation und Barbarei.

Von Michael Schmitt | 24.02.2019
    Das Cover von Jonathan Lethems "Der wilde Detektiv" vor einem Hintergrundbild.
    Einer der ersten Romane über Trumps Amerika: "Der wilde Detektiv" von Jonathan Lethem (Tropen / Unsplash / Courtney Corlew)
    Charles Heist hat einen "Blick wie eine Wüste", er hat ein grob gemeißeltes Gesicht, üppige Kotelleten, einen prächtig modellierten Waschbrettbauch, er gibt nicht viel auf Kleidung, fährt mit Jeeps durch unwegsames Gelände und ist in der neuen Welt, die mit der Wahl Donald Trumps begonnen hat, der einzige Partner, den ein Mädchen sich wünschen kann:
    "Ein ungezähmtes Wesen aus den Zwischenräumen, der unnötige Kämpfe ablehnt, den Schwachen mit unendlicher Güte begegnet, aber zum Töten bereit ist, wenn er mit dem Rücken an der Wand steht."
    Heist ist der "wilde Detektiv", der dem neuen Roman von Jonathan Lethem den Titel gibt. "Heist" bedeutet im Amerikanischen "Raub" oder auch "Raubüberfall", es gibt das Genre der Heist-Movies, in denen von der Vorbereitung und Durchführung spektakulärer Raubüberfälle erzählt wird – die meist sympathischen Hauptrollen spielen dann beispielsweise Gene Hackman, Michael Caine oder George Clooney.
    Der "wilde Detektiv" steht in einer langen Tradition illustrer Gestalten, seine Methoden sind handfest und in seiner Seele wütet eine unergründliche Traurigkeit. Das kennen Leser auch aus Raymond Chandlers Geschichten um den Privatdetektiv Philip Marlowe. Und so sozial randständig wie Marlowe ist auch Lethems Detektiv: mit einem Büro am Rande eines Trailerparks im Großraum Los Angeles, das diese Bezeichnung kaum verdient, mit prekärer Lebensführung, aber einer hehren Aufgabe: entlaufene Kinder und Jugendliche in den Bergen und Wüsten Kaliforniens wiederzufinden, wenn sie etwa dem Ruf von Sektierern und Aussteigern gefolgt sind.
    Heist ist rätselhaft, schweigsam, aber zugewandt. Er ist das Zwischenglied zwischen einer Wildnis, die unter einer dünnen Schicht von Zivilisation verborgen ist, und einer gentrifizierten Gegenwart, die in Manhattan ihr schillerndes, hochgezüchtetes Zentrum hat. So erlebt es jedenfalls die Erzählerin Phoebe Siegler, eine ehemalige Literatur- und Fernsehredakteurin Anfang 30, die sich selbst abschätzig ein perfektes Produkt dieser New Yorker Blase nennt. Gut bürgerlich aufgewachsen, akademisch gebildet, ehemals rundum eingebunden durch Smartphone und soziale Netzwerke, durch Freundinnen oder Tinder-Dates – und nun auf der Flucht vor dieser Blase, die man in Anspielung auf Batman-Comics auch "Gotham" nennen könnte.
    Entkommen aus dem daueraufgeregten Klima Manhattans
    Sie kommt nach Kalifornien, weil sie auf der Suche nach der Tochter einer Freundin ist, die sich aus Verehrung für Leonard Cohen in die Berge Kaliforniens abgesetzt hat – aber auch, um ihrer Mutter zu entfliehen. Phoebe ist also ebenfalls Detektivin, aber sie kennt sich nicht aus, und Charles Heist wird ihr Partner. Sie hat kurz zuvor ihren Job gekündigt, nachdem sich die Chefs der großen New Yorker Medienhäuser im November 2016 mit dem neugewählten Präsidenten Trump zusammengesetzt haben, um nach dessen Lügenpresse-Kampagnen über einen zukünftigen modus vivendi zu sprechen. Die Suche nach dem Mädchen Arabella ist ein Weg, um dem daueraufgeregten Klima in Manhattan zu entkommen, dessen Hilflosigkeit sie teilt.
    Gegensätzlicher könnte ein Paar kaum erfunden werden, und vor allem in der ersten Hälfte des Romans spielt Jonathan Lethem diesen Kontrast geradezu comichaft aus. Dann erinnert Phoebes mal mädchenhaftes, mal nassforsches Auftreten an die nervöse Bostoner Rechtsanwältin Ally McBeal aus der gleichnamigen TV-Serie aus den Jahren um 2000 – durchaus emanzipiert und zielbewusst, aber auch permanent irritiert und abgelenkt. Ein Frauentyp, dessen ironisch gebrochene Attraktivität in die Jahre gekommen ist. Aber Phoebe ist ohnehin mehr Typ als Charakter, und für Heist gilt das gleiche – beide zusammen sind die Hauptfiguren eines Romans, der kein Geheimnis daraus macht, dass er mit Klischees und Versatzstücken spielt und ein gewisses Maß an Klamauk und Übersteigerungen nicht scheut.
    "An dem berüchtigten Tag im November, an dem sich mein Boss und seinesgleichen mit dem designierten Trumpeltier hinter geschlossenen Türen an einem langen Tisch zusammensetzten, um seine Geißelungen und Schmeicheleien entgegenzunehmen, reifte mein Entschluss zu kündigen. Zu Beginn der nächsten Woche riss ich tatsächlich die Klappe auf, gab meine Entscheidung bekannt, ritt ein bisschen auf meinen Prinzipien herum und versetzte mich und alle Leute in Hörweite in einen Schockzustand. Mein Hass war erstaunlich. Ich machte meiner Stadt Vorwürfe, das Monster im Turm hervorgebracht zu haben und jetzt nicht mehr besiegen zu können. Meine Fluchtroute hatte ich schon festgelegt, und meine versammelten Mentoren bekamen in der Angelegenheit genau wie meine Eltern exakt null Mitspracherecht. Nach meinem dreiunddreißigjährigen Tobsuchtsanfall war ich nur noch das Mädchen, das kündigte. Ich glaube, an dem Tag hab ich bei Facebook gewonnen, ob das nun was bringt oder nicht. In der sogenannten Blase, meine ich natürlich."
    Kein ausgefeilter Krimi-Plot
    In den USA ist Lethems Roman als eine der ersten literarischen Reaktionen auf die Wahl und die Präsidentschaft von Donald Trump begrüßt worden, aber auch als ein Buch, mit dem der Schriftsteller an sein frühes Meisterwerk, den Thriller und Mafia-Roman "Motherless Brooklyn" angeschlossen habe. Beides lässt sich vertreten, vor allem die zeitgeschichtliche Dimension spielt eine entscheidende Rolle.
    Enttäuscht wird jedoch, wer im "wilden Detektiv" einen ausgefeilten Krimi-Plot sucht. Das Buch erzählt stattdessen mehr über die Initiation einer jungen Frau in einer Umgebung, in der Gesetze herrschen, die mit Wildem Westen nur unzureichend beschrieben sind.
    Lethem setzt seine Erzählerin Phoebe einem "Clash of Cultures" aus: Er demonstriert den Unterschied zum hippen New York am Beispiel von elenden improvisierten Unterkünften von Aussteigern an den Rändern von Los Angeles und mit Bildern von Trailer-Wagenburgen voll waffenstarrender Männer in der Mojave-Wüste. Er verweist auch auf eine überwältigende Natur, die der Ostküstenbewohnerin fremd ist - auf die Intensität der kalifornischen Sonne, auf die gewaltigen Bergrücken, die stets von Schnee und Gletschern bedeckt sind, auf die krassen Wetterumschwünge von strahlendblauem Himmel zu desaströsen Niederschlägen.
    Das Kalifornien, das er inszeniert, bildet eine umfassende Einheit von Umgebung und Charakteren – und auch darin wirkt eine Tradition: der Nachhall der berühmten Erkundungen der Berge Kaliforniens durch den Wanderer John Muir, der in den 1870er-Jahren Gletscher und Gebirge rund um das Yosemite-Valley erkundet hat, oder die Arbeit des Soziologen Mike Davis, der in seinen Darstellungen der Geschichte des Großraums von Los Angeles betont hat, wie unberechenbar dessen Klima und Wetter immer schon gewesen sind.
    Genau so unberechenbar wird auch Phoebe den Landstrich und seine Menschen erleben.
    "Wenn man hier verabredet war, war man durch den Boden des eigenen Lebens und aus der normalen Zeit herausgefallen. Ein Mensch wie ich hatte hier einfach nichts zu suchen. Die Malls, Tankstellen und Kettenrestaurants machten den Eindruck eines einzigen, immerzu wiederholten Hintergrunds, vor dem ein Fred Feuerstein entlangfuhr. Raum wurde hier anders gedacht. Auch die unmittelbare Umgebung war ein Problem. Hinter dem Parkplatz lag ein weit verstreuter Trailer-Park. Rechts hinter Maschendrahtzaun eine Tundra aus Gruben und aufgeschütteten Kieshügeln, auf einem Grundstück so groß wie der Central Park. Vielleicht übertreibe ich. Ja. Halb so groß wie der Central Park. Wer hier seinen Wagen abstellte, war nicht der, für den er sich hielt. Vielleicht war ich das jetzt auch nicht. Und das Blau brachte mich um. Keine blauen Stunden wie im Blues. (Die hatte ich zwar auch manchmal, aber so einen Schrott würde ich niemals laut von mir geben.) Das Blau des Himmels brachte mich um, und hinzu kam, dass sich jenseits der Straße schneebedeckte Gipfel ohne jeden Sinn für Proportionen oder Geschmack gegen das flache galaktische Blau behaupteten. Unter den Gipfeln schlangen sich weiße Nebelschlieren um die Felsformationen. Am Himmel selbst war nichts dergleichen zu sehen."
    Anfang und Ende amerikanischer Träume
    Die Milieus an Ost- und Westküste hat Jonathan Lethem schon häufiger zum Thema gemacht. Aufgewachsen ist er in Brooklyn als Sohn von gebildeten Akademiker-Eltern, die nie von Hippie-Idealen ihrer Jugend abgelassen haben. Von dieser Welt erzählt neben "Motherless Brooklyn" etwa der monumentale Roman "Festung der Einsamkeit" in dem er das Umfeld seiner Jugend, schildert. Die jungen Erwachsenenjahre, die er zeitweise als Buchhändler und als angehender Schriftsteller in Kalifornien verbracht hat, spiegeln sich in Romanen wie "Du liebst mich, Du liebst mich nicht" oder in "Bekenntnisse eines Tiefstaplers", einer mosaikartigen Mischung von Aufsätzen und Reportagen, in denen sich sein intellektueller und schriftstellerischer Weg abbildet. In diesen Büchern wimmelt es nur so von Mitgliedern selbstgenügsamer Gegenkulturen, die ihre Energie vor allem aus der Abgrenzung vom kulturellen Mainstream beziehen – und Lethem hat sich seinerzeit stets als Teil dieser Szene beschrieben.
    An diese Sympathien knüpft "Der wilde Detektiv" erkennbar an, greift aber zu drastischeren Themen und Bildern, wenn er auf darbende Hippiekommunen in der Mojave-Wüste blickt und nachzeichnet, wie aus deren Scheitern neue Gruppen von Aussteigern hervorgehen, die in archaische, teils geradezu menschenverachtende Rituale und Lebensweisen zurückfallen.
    Wo in den 60er-Jahren Scharen junger Menschen unter der kalifornischen Sonne alternative und spirituelle Ziele verfolgt haben, herrschen nun eine gnadenlose Natur und mancherorts genauso gnadenlose Sitten. Ganzheitlichkeit, könnte man sagen, kann viele Formen annehmen. Das Wassermann-Zeitalter aber ist definitiv vorbei.
    "Von den vielen utopisch gesonnenen Hippiehorden, die es in den späten 60ern in die Wildnis getrieben hatte, hatten die wenigsten länger als einen, höchstens zwei Winter überdauert. Die meisten hatten sich aufgelöst, in ideologischen Grabenkämpfen aufgerieben, durch Geschlechtskrankheiten, Parasiten, Hunger, Eifersucht und schlichte Unkenntnis der einfachsten Grundlagen des Überlebens in der Wildnis. Die Gruppengröße sank von Jahr zu Jahr, bis nur noch ein Kern übrig war, der sich an Widerstandskraft, Traumtänzerei oder Verzweiflung nicht mehr überbieten ließ. Irgendwie hielten sie durch und überstanden die brutale Sonne der Mojavewüste und den Wassermangel."
    Die Reste dieser Kommunen werden zum Sammelbecken für die Aussteiger späterer Jahre, seien es frustrierte Studenten oder ehemalige Mitglieder revolutionärer Zellen. Überall löst sich in den Gruppen der Firniß der Zivilisation zügig auf, zurück bleiben Jäger, Sammler und Nomaden an den Rändern einer wuchernden Metropole.
    "Praktisch überall in dieser Landschaft standen verlassene Baracken, und wo keine Baracken standen, gab es Trailer, Schuppen und Höhlen. Menschen mit einem Hang zum Nomadentum mussten selten überhaupt etwas bauen. Sie waren an keine Parzellen gebunden, weil sie keinen Ackerbau betrieben, nicht im Wüstenhochland. Sie lebten von fast allen anderen Mitteln, waren Sammler, Jäger und Händler. Wer sich noch auf die Geldwirtschaft einließ, konnte Drogen kochen, den eigenen Körper verkaufen, bei der Tauschbörse auf dem Gelände des alten Drivein-Kinos abgestaubte Bakelit-Artefakte verkaufen oder in die Städte zurücklaufen und Häuser putzen oder an Straßenecken betteln. Andere lösten bei Western Union klammheimlich Mitleidsschecks ein und kehrten dann in Strandbuggys voller Säcke mit Trockenbohnen und Mehl zurück. Wieder andere verabschiedeten sich von allen Formen nichtpsychischer Ökonomie, machten einen Bogen um Straßen und Handelsposten und lernten, sich monatelang von nichts als Träumen, Wolken und Klapperschlangen zu ernähren."
    Ein Spiel mit Endzeitszenarien und populärer Kultur
    Phoebe ist als Erzählerin erst einmal Beobachterin, die Pole, zwischen denen Lethem den Roman aufspannt, markieren andere: Einerseits ein Mann wie Heist, der unter solchen Menschen aufgewachsen ist, dann aber Distanz zu ihnen gesucht hat; andererseits das Mädchen Arabella, für das die Verlockung von Kalifornien immer noch groß ist, weil der verehrte Sänger und Dichter Leonard Cohen jahrelang auf dem Mt. Baldy in den kalifornischen Bergen in einem berühmten Zenkloster gelebt hat, um dort zu sich selbst zu finden. Aber Leonard Cohen hat diesen Ort lange zuvor verlassen, ausländische Investoren aus Asien haben sich breit gemacht, und auch einige der Aussteiger reklamieren den Berg für sich. Dort stehen nun Zäune und Tore, dort finden Charles und Phoebe bei der Suche nach dem verschwundenen Mädchen zudem die Opfer von Ritualmorden.
    Leonard Cohen ist 2016 am Tag vor der Wahl Donald Trumps verstorben – auf dieser Pointe baut Lethems Roman in gewisser Weise auf: Cohen hätte in einer solchen Welt nicht leben wollen, hat der Schriftsteller in einem Interview mit dem Magazin "Rolling Stone" erklärt. Es ist daher auch nicht Cohens Musik, die Charles und Phoebe auf dem Weg über Berge und durch Wüsten begleitet, sondern ein Live Album von Van Morrison, dem irischen Blues- und Folkbarden, den es als jungen Musiker nach seinen ersten Erfolgen auch nach Kalifornien gezogen hatte. "It's to late to stop now" heißen Song und LP - und genau das gilt umgehend auch für die Expedition ins kalifornische Herz der Finsternis.
    Dort haben sich die ehemaligen Hippie-Kommunen in zwei archaische Stämme aufgespalten, in die sogenannten "Kaninchen" und in die "Bären". Die Kaninchen, das sind zumeist Frauen, verwildert, bewaffnet und auf der Hut vor den Männern, die Hüterinnen sozialer Tugenden, ausgerüstet mit dem Wissen um Heilkräuter. Die "Bären" hingegen sind Horden zotteliger Männer, die in derWüste gealtert sind und von der Sanftmut früherer Zeiten nichts bewahrt haben. Ihr König nennt sich Solitary Love, und die Wüstenwelt, die dieser ehemalige Veteran aus dem Irak-Krieg beherrscht, erinnert nur mehr an Szenarien, die man aus Fantasy-Spielen oder aus den Mad Max-Filmen kennt - Solitary Love regiert über eine Endzeitgefolgschaft. Auch in diesem Punkt spielt Lethem mit Versatzstücken der populären Kultur – und spitzt sie zu.
    "Seine Aufmachung bestand aus Bärenfellen, die lose die Schultern umhüllten und vor der Brust mit Riemen verschnürt waren, und nichts darunter. Sein schemenhaft sich abzeichnendes Gehänge schwang hin und her, als wäre er immer leicht erregt. Als er neben den Fackeln stand, konnte ich sogar aus der Ferne seine zu weit aufgerissenen Augen erkennen, und der Mund in seinem Bart war eine einzige Baustelle. Als der Bärenkönig in den fackelumflackerten Kampfring geschritten kam, hatte man gar nicht mal so sehr den Eindruck, Milde und Mitgefühl wären erledigt, Geschmack, Ordnung und Sinn wären suspendiert – oder doch, das auch, aber da war noch mehr. Wenn man ihn sah, wünschte man sich fast schon die nächste Sintflut herbei."
    Das sieht vielleicht nach Wrestling aus, ist im Gegensatz zur Show wüster Artisten im Ring aber blutiger Ernst: In Solitary Loves Reich, in einer strahlend hell erleuchtenden Arena für rituelle Zweikämpfe vor einem tobenden Publikum, begegnet Heist seiner eigenen Vergangenheit – und gleichzeitig vollzieht sich so etwas wie eine Verwandlung von Phoebe. Während Heist mit Solitary Love auf Leben und Tod kämpfen muss, weil alte Rechnungen beglichen werden sollen, wird aus der mal hippeligen, mal tollkühnen Phoebe ebenfalls ein Wesen zwischen Zivilisation und atavistischen Impulsen. Unter Männern, die wie "Rückstände auf dem Wüstenboden" wirken, blättert die Zvilisiertheit von Phoebe ab, in dieser Nacht wird sie selbst auch zum "Kaninchen".
    "Die durch die Arena streichende Brise trug grimmig schnaubendes Lachen und schwache Schwefel- und Fleischgerüche herauf. Teilweise blieb der Geruch hängen, als sich der Wind legte. Das lag an mir, von Hundehaaren bedeckt und verräuchert vom Holzqualm aus dem Blockhaus am Baldy, zunehmend übel riechend in zwei Tage alten Klamotten und Unterwäsche, die in Heists Armen ein paarmal feucht geworden war."
    Von der Cohen-Verehrung zu Exzess und Chaos
    Die Kaninchen sind in gewisser Weise die "Guten", aber Gewalt und Rausch sind ihnen nicht fremd, sie sind genauso verwildert wie die Männer. Die Bären aber sind "böse", sie kennen nur mehr Haß und Menschenverachtung. Sie sehen sich selbst vielleicht als archaische Helden, als soziale Gruppe aber sind sie abgehängt und ausgegrenzt, sogar in der Wüste.
    Bei der Wahl Donald Trumps sei es auch um so etwas wie den Kontrast zwischen Bären und Kaninchen gegangen, hat Lethem dazu erklärt. Brutalität und Hass sind im Roman die andere Seite der Freiheit – und das zeigt sich am deutlichsten in der Wandlung des Mädchens Arabella, das sich aus freiem Willen unter die Anhänger von Solitary Love eingereiht hat. Von der Privatschule an der Ostküste geraden Weges in die Wildnis, von der Leonard Cohen-Verehrung mitten hinein in Exzess und Chaos.
    "Sie inszenierte sich hier aber nicht als Entführte, so sehr das ganze Bild auch Stockholmsyndrom schrie. Sie stand nicht neben dem Wahnsinn, der uns verheerte, sondern mittendrin, brüllte die Kämpfer an und krümmte sich in pornografischem Zorn, so sehr eine chaosgeborene Gestalt wie alle anderen Anwesenden, darunter auch Heist und Solitary Love. Ich weiß nicht, ob das als Ritual durchging, aber egal was es war, sie gehörte definitiv dazu. Ich auch."
    Satire oder tiefere Bedeutung in Trumps Country
    Phoebe beobachtet es an sich selbst und an den anderen: In den Bergen und in der Wüste Kaliforniens wird eliminiert, was als kultureller Überbau das ideale Selbstbild amerikanischer Bürger ausmachen könnte. Aber nicht nur dort, denn an der Ostküste wird dieser Überbau zur gleichen Zeit per Twitter, als Social Media-Gewitter und als permanente Aufgeregtheit der Wahlsieger und -verlierer ebenfalls eingerissen. Was in Kalifornien passiert, hat sein Gegenstück in Manhattan, die Details sind andere, aber das Ergebnis ist das gleiche.
    Wenn Phoebe etwa nach Tagen ohne Mobilfunkempfang mal wieder ihr Smartphone aktivieren kann, erfährt sie durch eine Flut von Posts und Mails von Demonstrationen und Frustrationen; und wenn eine Freundin ihr von der Wohnungsnot erzählt, die in Manhattan auch für Bessergestellte durch Sanierungen und Gentrifizierung zunimmt, dann schließt Lethem an frühere Bücher an, in denen er schon einmal solche Motive am Beispiel von Manhattan aufgegriffen hat. In "Der Garten der Dissidenten" hat er etwa am Beispiel einer Familie aus dem Stadtteil Queens die Geschichte der amerikanischen Linken im 20. Jahrhundert nachgezeichnet – als Selbstzerstörung und als Zerfall eines politisch links gerichteten Milieus, das sich immer weiter aufsplittert und in ewiger Erfolglosigkeit dahinsiecht.
    Noch viel schneidender hat er in "Chronic City" im Jahr 2010, zwei Jahre nach der Lehmann-Pleite, Manhattan als sich selbst zerstörenden Tummelplatz von Egoismus, Selbstdarstellung und nackten Interessen beschrieben: Aus Hausbesetzern werden skrupellose Immobilienmanager, ehemals führende Intellektuelle hängen nur mehr Verschwörungstheorien und fixen Ideen nach, und unter der Stadt rumort es, denn dort treibt ein sagenhafter, haushoch gewachsener Tiger -- vielleicht aber auch eine seit Jahren außer Kontrolle geratene Bohrmaschine? – ein Unwesen, dem ständig Gebäude zum Opfer fallen. Aller mythologischen Überhöhung durch die Yellow Press ungeachtet, handelt es sich dabei aber ausschließlich um solche Gebäude, die dadurch Platz für gewinnbringende Investitionen schaffen.
    Wer denkt dabei nicht an Donald Trump und seinesgleichen? Vielleicht auch an Michael Bloomberg, der damals Bürgermeister von New York war, und demnächst vielleicht ein möglicher Gegenkandidat zu Donald Trump bei den Präsidentschafts-Wahlen sein wird? Das New York in "Chronic City" hat ähnlich dystopisch-endzeitliche Züge wie die Zustände in der kalifornischen Wüste, nur werden die in guter Gesellschaft als "Sturm im Martiniglas" erlebt. Das New York im neuen Roman ist die Fortschreibung davon, ein ferner, lärmender Moloch, der allenfalls hippe Künstler gebiert, die nach Kalifornien kommen , um zu sondieren, wie man ein Projekt über die attraktiven "wilden Ränder" von Los Angeles inszenieren könnte, obwohl die meisten Menschen, die dort zu finden seien, vermutlich zu den tumben Trump-Wählern gerechnet werden müssten.
    Aber tumb kann man auf viele Weise werden, auch als smarter Künstler auf der Suche nach "Interventionen" – und was bedeutet tumb überhaupt noch, wenn nahezu alle Menschen an allen Orten nur mehr hysterisch agieren? Wenn weder unter Aussteigern noch unter Zivilisierten ein menschenwürdiges Leben möglich ist? Dann ist das Zwischenreich des wilden Detektivs wirklich der einzige Ort, an dem man ein Leben führen kann, dann ist Charles Heist tatsächlich der Partner, den ein Mädchen sich an seiner Seite wünschen muss. Geahnt hat Phoebe das schon früh -- ein Schelm, wer darin nichts als weibliche Schutzbedürftigkeit erkennen will.
    Unklar ist nur, ob Heist sich all dessen auch bewusst ist.
    Jonathan Lethem: "Der wilde Detektiv"
    Aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach
    Tropen Verlag, Stuttgart. 335 Seiten, 22 Euro.