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Josephine Rowe: "Ein liebendes, treues Tier"
Gefangen im eigenen Leben

Hat der Mensch eine Chance, der eigenen Vergangenheit zu entkommen? Das fragt Josephine Rowe in ihrem Debütroman. Die australische Autorin erzählt darin die Geschichte einer unglücklichen Familie – und beweist sprachliche und stilistische Virtuosität.

Von Änne Seidel | 06.03.2019
Die Schriftstellerin Josephine Rowe und ihr Roman „Ein liebendes, treues Tier“
Die Schriftstellerin Josephine Rowe und ihr Roman „Ein liebendes, treues Tier“ (Cover Liebeskind Verlag / Autorenportrait (c)Jason Montano)
Von den ersten Seiten des Romans bleibt vor allem ein Bild: die leeren Hüllen von Zikaden. Das, was die Insekten übrig lassen, wenn sie das Larven-Stadium verlassen und erwachsen werden. Die Hülsen mit ihren aufgeplatzten Rücken verhaken sich in Rubys T-Shirt, wenn das Mädchen die Zypressenbäume nahe ihrer staubigen Heimatstadt erklimmt und radeln mit ihr zurück ins triste Familienheim, um dort als leblose Trophäen auf der Fensterbank zu enden.
"Am Tisch klaubst du behutsam die mitgereisten Zikaden ab und bedienst dich an Lanis Nagellackvorrat, um den Panzern einen Glanzanstrich zu verpassen: Golden, blassrosa, stahlblau lackiert setzt du sie zu den anderen auf das Küchenfensterbrett, damit Mum überrascht sein kann, wenn sie das nächste Mal abwäscht."
Dort, auf der Fensterbank, sitzen die Zikaden-Hülsen nun wie stumme Mahner. "Macht es wie wir", scheinen sie den Familienmitgliedern zuzurufen: "Streift das alte, zu eng gewordene Leben ab und lebt das Leben, von dem ihr träumt!"
Das ungelebte, bessere Leben ist ständig präsent
Doch so einfach ist das nicht. Die Figuren in Josephine Rowes Roman sind in ihren Hülsen, sind in ihrem gegenwärtigen Leben gefangen: Allen voran Evelyn, die Mutter, die es nicht über sich bringt, ihren Mann Jack zu verlassen – auch wenn der sie schlägt und sein Kriegstrauma die Familie zu zerstören droht. Die Töchter, Ruby und Lani, versuchen jede auf ihre Weise der Tristesse zu entkommen: Ruby flüchtet sich in ihre Fantasie, Lani dröhnt sich mit Lachgas und Alkohol zu.
Später haut sie von zu Hause ab, reist als Stewardess um die Welt – doch auch in der Ferne wird Lani von den Geistern ihrer Vergangenheit eingeholt. Genau wie Jack, der traumatisierte Vater, der die Familie irgendwann endgültig verlässt, aber trotzdem nicht zur Ruhe findet. Und all das ist umso beklemmender, da das bessere Leben, da all die ungelebten Möglichkeiten in Josephine Rowes Roman ständig präsent sind.
"Seit Jahren wacht sie jeden Morgen mit demselben Gefühl auf: Das ist doch nicht mein Leben. Draußen vor dem graublauen Himmel schwankende graue Eukalyptuskronen und auf dem Nachttischfurnier die hingeworfenen Kupfermünzen aus Jacks Hosentasche. Nein, das stimmt alles nicht. Nichts davon passt. Hier ist was schwer durcheinandergeraten, wie durch den Fleischwolf gedreht. Jemand anderes hat sich ihr Leben geborgt und gurkt damit durch die Gegend, macht Strecke, wie man es mit einem geklauten Auto tut. Aber irgendwann ist Schluss damit. Irgendwann ist man zermürbt vom schlechten Gewissen. Keine Spritztour kann ewig dauern. Eines Tages wird Ev aufwachen, und dann ist es wieder da, ihr wahres Leben, steht ordentlich geparkt vor dem Haus und glänzt. Zurückgegeben."
Die Familiengeschichte, die Josephine Rowe in ihrem Debütroman erzählt, ist nicht sonderlich originell – unglückliche Familien wie diese australische Vater-Mutter-Töchter-Konstellation gibt es millionenfach, vermutlich kennt jeder Leser einen ähnlichen Fall. Außergewöhnlich ist dafür die sprachliche und stilistische Wucht, die dieser Roman entfaltet.
Virtuoses Portrait einer unglücklichen Familie
Josephine Rowe ist eine Virtuosin, die für ihren Familienroman die richtige Form gefunden hat. Jedes Kapitel widmet sie einem Familienmitglied und wählt jeweils den passenden Stil: wirr und fragmentarisch für Jack; eine Art Zwiegespräch zwischen erwachsenem und jungem Ich für Tochter Ruby. Gekonnt jongliert die Autorin mit den verschiedenen Erzählperspektiven, spult vor und zurück, ohne sich zwischen den zeitlichen Ebenen zu verheddern. Wie ein Mosaik setzt sich so das Porträt dieser unglücklichen Familie nach und nach zusammen – eine Familie, in der wie in allen Familien, jeder von jedem sein eigenes Bild hat, geprägt durch die familiäre Konstellation und das gemeinsam gelebte Leben:
"Unschwer zu erkennen, selbst aus der Ferne: Das ist Lani. (…) Wenn sie ihren Kugelkopf zu den Zypressen dreht, sieht sie dein Fahrrad, das wehrlos am Fuß eines Baums lehnt. Und sie wird wissen, dass du dort oben hockst, hinterhältiges Stück Scheiße. Zu dir hinaufklettern und dich verhauen kann sie nicht, nicht mit diesen Schuhen. Aber sie kann ekelhaft wie Katzenpisse sein, und sie hat einen sechsten Sinn und weiß immer, wo es am meisten wehtut. (…) Dabei hättest du sie in der Hand, weil du nicht wenig über sie weißt."
Tiere als Bildmaterial
Man merkt, dass die Autorin mit Kurzprosa begonnen hat. Der schmale Roman ist so perfekt durchkomponiert, dass nach den nur gut 200 Seiten tatsächlich alles gesagt scheint – und trotzdem noch genügend Raum bleibt für eine Vielzahl von Bildern, mit denen die Autorin die ausweglose Situation ihrer Figuren, deren Eingeschlossensein, illustriert. Viele dieser Bilder gehen direkt ins Mark, schnüren unweigerlich die Kehle zu – vielleicht auch, weil Rowe immer wieder Tiere als Bildmaterial wählt.
"Das geliehene Kleid haftet an ihren Rippen, und darunter pocht ihr Herz wie ein gefangener Vogel – wie der Spatz, den sie und Ru mal gefangen haben, als sie in der Garage über ihn stolperten. Mit einer Schuhschachtel. Alle vier Hände draufgedrückt, damit der Vogel nicht entkommen konnte. Dieses Gefühl, wie er darunter herumtobte, sich gegen die Wände schmiss und sich wehtat. Bis er still war. Und als sie schließlich die Schachtel aufhoben, saß er reglos und mit aufgerissenem Schnabel da, benommen, und seine cremeweiße Brust pulsierte von winzigem, rasendem Entsetzen."
Hat der Mensch eine realistische Chance, der eigenen Vergangenheit zu entkommen? Das ist die Frage, die Josephine Rowes Roman zwischen den Zeilen stellt. Eine endgültige Antwort darauf gibt er nicht. Das Zikaden-Bild vom Anfang aber lässt wenig Raum für Hoffnung auf das bessere Leben. Denn ist die Hülle des alten Zikaden-Lebens erst mühsam abgestreift, dann bleiben den Insekten, wie es im Roman heißt, sechs Wochen Zeit, "um herumzufliegen, Lärm zu machen und Sex zu haben, bevor sie sterben." Und wie Ruby lakonisch konstatiert, ist das "ein sehr mieser Tausch nach sieben untätigen Jahren unter der Erde".
Josephine Rowe: "Ein liebendes, treues Tier"
aus dem Englischen von Barbara Schaden
Liebeskind Verlag, München, 208 Seiten, 20 Euro