Dienstag, 21. Mai 2024

Archiv


Jospin scheidet als Präsidentschaftskandidat aus

Zagatta: Was sich gestern in Magdeburg getan hat, ist nichts im Vergleich mit dem politischen Erdbeben in Frankreich. Der sozialistische Premierminister Jospin hat seinen Rücktritt angekündigt, nachdem er gestern vorzeitig aus dem Rennen um das Präsidentenamt ausgeschieden ist. Jospin hat nur Platz drei belegt, hinter dem Amtsinhaber Jacques Chirac und Jean-Marie Le Pen. Der Chef der rechtsextremen Nationalen Front und der gaullistische Präsident bestreiten in zwei Wochen die Stichwahl. Was das bedeutet, wie es dazu kommen konnte, das wollen wir uns jetzt erklären lassen von Henrik Uterwedde vom Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg. Herr Uterwedde, Jospin ausgeschieden, Le Pen in der Stichwahl, ist das auch für Sie eine handfeste Überraschung oder hat es Hinweise auf ein solches Ergebnis gegeben?

22.04.2002
    Uterwedde: Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass ich das schon geahnt hätte. Das ist ein Schock, das ist ein Erdbeben, und wie das so bei Erdebeben ist, auch bei politischen Erdbeben, das hat man so nicht vorhersehen können. Und möglicherweise ist auch die Tatsache, dass man das nicht vorhersehen konnte auch ein Element bei den französischen Wählern gewesen, die Protestwähler, die jetzt dieses Ergebnis produziert haben.

    Zagatta: Fast 18 Prozent für Le Pen; sind denn so viele Franzosen rassistisch, wenn man betrachtet, dass es noch einen zweiten Kandidat der extremen Rechten gab und dieser auch noch einige%e bekommen hat?

    Uterwedde: Nun, es gibt sicherlich bei diesen Wählern eine Reihe von Protestwählern, die mit dem Angebot der Regierungsparteien nicht zufrieden waren, die sagten, Chirac, Jospin, das ist eigentlich alles das Gleiche, usw. Nur im Ergebnis ist Frankreich eben ein Land, das bei einer der wichtigsten politischen Wahlen, ein solches Ergebnis für den Rechtsextremismus hervorgebracht hat.

    Zagatta: Aber dennoch: wie ist so etwas möglich? Denn Le Pen war ja bereits für tot erklärt worden, nachdem sich seine Nationale Front gespalten hat.

    Uterwedde: Zunächst ist es ein altes Phänomen, dass man Le Pen, die Rechtsextremen in den Meinungsumfragen immer sträflich unterschätzt. Davon hat er auch profitiert. Zum Zweiten darf man nicht vergessen, dass Le Pen und die Rechtsextremen in allen französischen Wahlen der vergangenen Jahre sozusagen solide Ergebnisse hatten. Es gibt einen Bodensatz von 10 Prozent plus Rechtsextremen, die in vielen Regionen Le Pen gewählt haben. Insofern war das nicht ganz überraschend. Dazu kommt, dass das Thema der Sicherheit pikanterweise von Chirac so nach vorne gespielt worden ist, dass es sozusagen zum beherrschenden Thema werden konnte, und da gibt es diese alte Regel, dass man dann irgendwann das Original doch lieber wählt als die Kopie.

    Zagatta: Hat denn Le Pen eine Chance gegen Chirac bei der Stichwahl?

    Uterwedde: Man ist ja vorsichtig gegenüber Meinungsumfragen geworden. Die ersten Meinungsumfragen sagen, 80 zu 20 für Chirac. Ich denke, das wird nicht ganz so sein, aber am Ende sehe ich doch Chirac vorne, und ich denke, dass hier die Prognosefähigkeit etwas größer als beim ersten Wahlgang sein wird, also man kann davon ausgehen, dass Jacques Chirac eine weitere Amtszeit von fünf Jahren vor sich hat.

    Zagatta: Chirac ist ja auch durch zahlreiche Affären belastet. Spielt das keine Rolle bei den französischen Wählern?

    Uterwedde: Man hat sich leider in Frankreich daran gewöhnt, dass führende Politiker, vor allem Chirac als Person, besonders aber auch Politiker der Linken immer wieder mit Affären belastet worden sind. Chirac hat ja auch kein strahlendes Wahlergebnis gehabt. Das ist ja nicht nur ein Desaster für Jospin, sondern es ist auch das schlechteste Ergebnis eines amtierenden Präsidenten, knapp 20 Prozent. Aber die Franzosen gehen mit Affären anders um als bei uns. Irgendwo hat man sich damit abgefunden, man sagt sich, das ist eben so, fast alle machen das. Das ist nicht gut für die Demokratie und nicht gut für das Verhältnis der Bürger zu den Politikern, aber eine entscheidende Rolle hat es diesmal nicht gespielt.

    Zagatta: Haben Sie den eine Erklärung dafür, warum Jospin derart abgestraft worden ist? Er hat ja immerhin die Arbeitslosigkeit in Frankreich gesenkt und die 35-Stunden-Woche eingeführt.

    Uterwedde: Ich denke, alle Analysten stochern ein wenig mit der Stange im Nebel. Er hat eine der besten Bilanzen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, in der Arbeitslosigkeit behabt. Wenn Gerhard Schröder diese Bilanz vorweisen könnte, dann könnte er für die Wahlen im September ruhiger schlafen. Aber Jospin ist ein schlechter Wahlkämpfer, er hat es als Person nicht geschafft, seine Erfolge und sein Profil rüberzubringen, und dann hat er unter diesem Sicherheitsthema gelitten, das sich so in den Vordergrund gespielt hat, dass hier er selbst und die Sozialisten ein bisschen auf den kalten Beinen erwischt worden sind. Dazu spielt die Zersplitterung der Linken eine Rolle. Jospin hatte drei Kandidaten seiner eigenen Regierungskoalition gegen sich. Die extreme Linke hat 10 Prozent der Stimmen bekommen. Viele Linke haben sich der Stimme enthalten. Die Wahlenthaltung ist um 7 Prozentpunkte nach oben geschnellt. Das sind alles Elemente einer Erklärung, aber es ist noch keine schlüssige Erklärung, da werden wir noch ein paar Tage drauf warten müssen.

    Zagatta: Wer wird denn jetzt Nachfolger von Jospin als Regierungschef? Gibt es da schon Namen oder Spekulationen?

    Uterwedde: Nein, ich kenne jedenfalls noch keine. Im Lager Jospins gibt es natürlich einige Elefanten, wenn ich es mal so sagen darf, an die man denken kann. Man könnte an den früheren oder an den jetzigen Finanzminister denken. Man könnte an die frühere Sozialministerin und Bürgermeisterin von Lille denken. Also es gibt einige Namen, die sich jetzt sicherlich nach vorne drängen werden. Und die Sozialisten müssen sich jetzt beeilen, weil in etwa vier Wochen die Parlamentswahlen stattfinden, die mindestens genau so wichtig sind wie die Präsidentschaftswahlen, denn ohne eine parlamentarische Mehrheit wird Chirac auch nicht regieren können, und die Linke muss jetzt sozusagen die Scherben zusammensuchen. Ob die Sozialisten sich schon in den nächsten Wochen auf einen neuen Nachfolger einigen können, der dann auch wirklich mit Kraft die Sozialisten aus dieser Krise, aus dem Desaster führt, wird man noch sehen.

    Zagatta: Vielen Dank für das Gespräch.

    Link: Interview als RealAudio