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Jostein Gaarder: "Genau richtig"
Entscheidungsfindung in Echtzeit

Er ist wohl der berühmteste Philosophie-Erklärer der Welt: der Norweger Jostein Gaarder, Autor des Bestsellers "Sofies Welt". Sein neuer, sehr kurzer Roman widmet sich dem Wesen der Zeit: Albert bleibt eine Nacht für die schwierigste Entscheidung seines Lebens – eine Entscheidung für die Ewigkeit.

Von Änne Seidel | 29.07.2019
Der Schriftsteller Jostein Gaarder und sein Roman "Genau richtig"
Der Schriftsteller Jostein Gaarder und sein Roman "Genau richtig" (Buchcover Hanser Verlag / Autorenportrait: dpa/ picture alliance/ Jens Kalaene)
"Genau richtig" ist eine Erzählung ohne roten Faden. Dafür voller roter Fusseln: Sie stammen von einem Flauschpullover, den Alberts Frau Eirin beim ersten Date getragen hat. Und der Albert jetzt, Jahrzehnte später, immer noch so leuchtend vor Augen steht, als wäre es gestern gewesen. Immer wieder taucht dieser fusselige rote Pulli auf in der Geschichte – er ist das Bindeglied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und der ungewissen Zukunft. Diese drei Zeitebenen umspannt Jostein Gaarders neues Buch.
Beginnen wir mit dem Hier und Jetzt: Albert sitzt in seinem Ferienhaus an einem idyllischen See und versucht, eine Hiobsbotschaft zu verarbeiten. Gerade war er bei seiner Ärztin – er hat eine unheilbare, tödliche Krankheit.
"Nach meinem Besuch bei Marianne hatte ich sofort das Gefühl, dass ich allein sein, dass ich mich vollkommen isolieren müsste. Ich denke nicht klar, in mir brodelt es, ich bin entsetzt, bestürzt, aber das hier ist etwas, dem ich mich stellen, zu dem ich eine Haltung einnehmen muss. Also muss ich schreiben, nur so kann ich jetzt geradlinig denken."
Albert schreibt ins Hüttenbuch. Er schreibt an seine Familie – und der Leser liest mit. Der gesamte Roman ist als Brief angelegt. Albert lässt darin sein Leben Revue passieren: Die erste Begegnung mit Eirin. Ihr erstes Date, das in eben jener Hütte endete, in der Albert nun sitzt. Damals waren sie heimlich in das Häuschen eingebrochen und hatten überall rote Fusseln hinterlassen. Jahre später kauften sie die Hütte. Eirin hatte für die Besichtigung wieder den alten Flauschpulli aus dem Schrank gekramt. Denn der Hüttenkauf war ein Neustart nach einer Beziehungskrise, während der Albert seine Frau mit einer anderen betrogen hatte. Was er ihr erst jetzt gesteht, im Angesicht des nahen Todes. In seiner existenziellen Situation erscheint alles relativ: Fehltritte, Krisen – vor allem aber die Zeit.
"Jahre können unüberschaubar lange sein, während man mitten darin steht und gewissermaßen versucht, sich zu einer unbekannten Zukunft vorzutasten, aber wenn man später an diese Jahre zurückdenkt, scheint es, als seien sie im Sturmschritt vorübergegangen."
Der Leser ist live dabei
Da ist es also: das philosophische Thema des Romans. Wie so viele große Philosophen vor ihm, grübelt Gaarders Protagonist Albert über das Wesen der Zeit. Er weiß, dass ihm nicht mehr viel von ihr bleibt – wie viel genau, ist ihm allerdings selbst überlassen:
"Nun kommt die entscheidende Frage: Muss ich diese erniedrigenden letzten Monate eigentlich erleben? Oder kann ich es mir erlauben, der ganzen Sache eigenhändig ein Ende zu machen? Es ist vielleicht verletzend für euch, diese Frage zu hören, aber es treibt mich in diese Richtung."
Die Erzählung strebt auf diese Entscheidung hin: Wird Albert noch in dieser Nacht seinem Leben ein Ende setzen? Der Leser folgt der Entscheidungsfindung in Echtzeit. Und so makaber es klingen mag: Das macht die Erzählung spannend bis zum Schluss.
Und es ist diese Spannung, die über die Schwächen des Textes hinweg hilft: Denn seltsamerweise hält der Roman die Briefform nicht konsequent durch. Hier und da weicht er ohne ersichtlichen Grund von ihr ab. So ist nie ganz klar, ob Albert die Zeilen gerade an seine Familie adressiert oder ob er nur uns, die Leser, an seinen Gedanken teilhaben lässt. Das irritiert und stört den Erzählfluss.
Der rote Fusselpulli trägt nicht
Genau wie der ein oder andere mäandernde Gedankengang des Protagonisten, der immer wieder kleine Exkurse in die Sphären der Astronomie oder der Physik unternimmt – dann aber selbst feststellt, dass die weder ihn, noch uns, noch den Roman voran bringen:
"Worauf will ich nun mit diesen ganzen Überlegungen hinaus? Ich schreibe und schreibe, und jetzt bin ich gespannt, ob die Seiten noch ausreichen, um meinen Gedankengang zu Ende zu führen. Ich habe bereits erwähnt, dass ich einen roten Faden ahne, aber nicht, wohin er mich führen wird. Jetzt geht auch das mir langsam auf."
Da kann der rote Fuselpulli noch so oft Erwähnung finden. Etwa wenn Albert den Sonnenuntergang betrachtet und darin einen "fernen Gruß des roten Flauschpullovers aus lange vergangener Zeit" erkennt. Auch dieses an sich schöne, wiederkehrende Bild schafft es nicht, die Erzählung zusammenzuhalten. Sie franst aus, genau wie das alte Kleidungsstück.
Der Roman macht es sich zu leicht
Gaarders große Stärke ist und bleibt seine leichte Herangehensweise an komplexe philosophische Fragestellungen. Aber dieser Roman macht es sich etwas zu leicht. Angesichts seines existenziellen Themas hätte etwas mehr emotionaler Tiefgang gut getan: Stattdessen sind Schock und Wut des Protagonisten über die furchtbare Diagnose überraschend schnell verraucht. Innerhalb weniger Stunden versöhnt sich Albert mit seinem Schicksal und kommt lapidar zum Schluss: Alles ist, wie es sein soll – nämlich "genau richtig". Und so ist dies zwar ein Roman, den man gerne bis zur letzten Zeile liest – dann aber aus der Hand legen kann, ohne dass er einen sonderlich berührt hätte.
Jostein Gaarder: "Genau richtig. Die kurze Geschichte einer langen Nacht"
aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Carl Hanser Verlag, München, 128 Seiten, 16 Euro