Dienstag, 19. März 2024

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Isaak Babel: "Wandernde Sterne“
Jubeltexte für die sowjetische Welt

Der Jude Isaak Babel aus Odessa war ein gefeierter Kurzprosaist der Sowjetunion. 1940 ließ Stalin ihn ermorden. Jetzt erscheint eine Textsammlung, die Babels Balance-Akt zwischen Anpassung und künstlerischer Autonomie vor Augen führt.

Von Cornelius Wüllenkemper | 16.05.2022
Der Schriftsteller Isaak Emmanuilovich Babel 1926 und sein Buch "Wandernde Sterne"
Der Schriftsteller Isaak Emmanuilovich Babel 1926 und sein Buch "Wandernde Sterne" (Foto: imago stock&people/Imago ITAR TASS, Buchcover: Carl Hanser Verlag)
„Die einen werden die Revolution machen, und ich werde, werde das besingen, was sich abseits befindet, das, was tiefer sitzt.“
....schrieb Isaak Babel 1920 in einem Briefentwurf an einen unbekannten Adressaten. Das schillernde Werk des damals auch in der Sowjetunion hochgerühmten Autors führt gerade in Zeiten des Krieges und der Verfolgung Andersdenkender fundamentale Fragen vor Augen: Welche Verantwortung tragen Künstler in einem diktatorischen Staat? Als Reporter einer bolschewistischen Propaganda-Zeitschrift begleitete Babel 1920 die Reiterarmee des gefürchteten Marschalls Budjonnyj im russisch-polnischen Krieg. In der jetzt vorliegenden Textsammlung „Wandernde Sterne“ finden sich unter anderem Babels erstmals 1990 vollständig veröffentlichten, jetzt neu aufgelegten  Tagebücher.
„All das ist entsetzlich, ich erzähle Märchen über den Bolschewismus [...] Die Ukraine in Flammen. Neue Banden sind aufgetaucht, in der Gegend um Cherson – ein Aufstand. [...] Beratung in Kozin, Ansprache Budjonnyjs, wir haben aufgehört zu manövrieren, nur noch Frontalangriffe, wir verlieren die Verbindung zum Gegner, keine Aufklärung, keine Sicherung, die Divisionskommandeure haben nicht die Initiative, es sind tote Aktionen.“

Frontberichte fürs Propaganda-Heft

Unmöglich, bei Babels Betrachtung der ebenso brutalen und letztlich erfolglosen Gefechte nicht an den gegenwärtigen russischen Angriffskrieg zu denken. Gegen seine stenographischen Tagebuchaufzeichnungen wirken Babels für das Propaganda-Heft „Der Rote Kavallerist“ geschriebenen und jetzt von Bettina Kaibach neu übersetzten Frontberichte wie Jubeltexte für die neue sowjetische Welt. Im Nachruf auf den gefallenen Regimentskommandeur Konstantin Trunov heißt es etwa:
„In unsere heroische, blutige und betrübliche Liste muss ein weiterer Name eingetragen werden [...] Ein weiteres Grab birgt der Schatten der dichten Wälder Wolhyniens, ein weiteres berühmtes Leben, voller Selbstaufopferung und treuer Pflichterfüllung, wurde hingegeben für die Sache der Unterdrückten, ein weiteres Proletarierherz hat aufgehört zu schlagen, um mit seinem heißen Blut die roten Fahnen der Revolution zu röten. Die Geschichte der letzten Lebensjahre des Genossen Trunov ist untrennbar verbunden mit dem Titanenkampf der Roten Armee.“
Babels einzigartige literarische Fähigkeiten, seine messerscharfen, stets hintergründigen Beobachtungen sind in seinen berühmten Prosasammlungen „Die Reiterarmee“ und „Geschichten aus Odessa“ nachzulesen. Im Band „Wandernde Sterne“ will die Herausgeberin und versierte Babel-Übersetzerin Bettina Kaibach nun den „vitalen Drehbuchautor“ und „glänzenden Dramatiker“präsentieren, wie es in ihren empathischen Anmerkungen heißt. Zu lesen sind neben Babels neu übersetzten Dramen und Reportagen unter anderem fragmentarische „Kinoerzählungen“ und Drehbücher. Darunter auch das 1926 von Sergej Eisenstein verfilmte Szenario „Benja Krik“, dem jüdischen Verbrecherkönig aus Odessa, der berühmtesten Figur aus Babels Kurz-Prosa.

Ist Isaak Babel sich bis zuletzt treu geblieben ?

In der Vorrede zum titelgebenden Drehbuch „Wandernde Sterne“ nach Scholem Aleichems gleichnamigen Roman über eine Gruppe vertriebener jüdischer Künstler wird eines deutlich: Babel verstand sich eigentlich nicht als Drehbuchautor, sondern sah das dialogische Schreiben eher als Auftragsarbeit. Die Textauswahl und Kommentierung des vorliegenden Bandes werfen eine weitere Frage auf: Ist Babel sich, wie es Bettina Kaibach pauschal interpretiert, bis zuletzt treu geblieben und hat für die Freiheit des Wortes gekämpft? Seine Reiseberichte für das Parteiblatt „Morgenröte des Ostens“ und seine Reportagen aus der sowjetischen Arbeitswelt lesen sich wie lupenreine Staatspropaganda. In einer Rede, die Babel 1930 vor der Föderation sowjetischer Schriftstellerverbände hielt, heißt es:
„Wir Literaten haben die Pflicht, zum Sieg eines neuen, bolschewistischen Geschmacks in unserem Land beizutragen. [...] Der Stil der bolschewistischen Epoche besteht in Mut, Selbstbeherrschung, er ist voller Feuer, Leidenschaft, Kraft, Fröhlichkeit. Wo lässt sich das erlernen? Was das Wort betrifft, will ich auf einen Menschen verweisen, der von Berufs wegen mit dem Wort keine Berührung hat: Seht, wie Stalin seine Reden schmiedet, seht, wie kraftvoll gehämmert, wie muskelstrotzend seine sparsamen Worte sind.“
„Wandernde Sterne“ ist ein Lesebuch für bedingungslose Babel-Fans, mit Dialogwerken, Arbeitsfragmenten und zum Teil unvollendeten Nebenwerken. Es zeigt auch, dass Babels Balance-Akt zwischen politischer Anpassung und künstlerischer Autonomie scheiterte, vielleicht scheitern musste.

Literarische Meisterschaft und Selbstzensur

Auch sein 1937 verfasstes, im Band neu übersetztes Drehbuch über den Bau des ersten sowjetischen Luftschiffes, konnte Babel vor Stalins Terror nicht retten. Aufgrund frei erfundener Spionage-Vorwürfe wurde er angeklagt und 1940 in Moskau erschossen. Als Autor war Isaak Babel damals schon verstummt, wobei auch seine Liebschaft mit der Ehefrau des ebenfalls in Ungnade gefallenen Geheimdienst-Chefs Nikolai Jeschow bei seinem Ende eine Rolle gespielt haben dürfte. Ist von Schriftstellern eine größere Verantwortung in einem diktatorischen Staat zu erwarten? Der Band „Wandernde Sterne“ zeigt jedenfalls, dass literarische Meisterschaft nicht vor Selbstzensur und verdienter Ruhm nicht vor wahlloser Verfolgung schützen, sie sich manchmal aber gegenseitig befördern.
Isaak Babel: "Wandernde Sterne. Dramen, Drehbücher, Selbstzeugnisse"
Aus dem Russischen von Bettina Kaibach und Peter Urban
Hgg. von Urs Heftrich und Bettina Kaibach
Carl Hanser Verlag, München. 848 Seiten, 38 Euro