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Juden in Italien
Die Epoche der Emanzipation

Juden spielten in der italienischen Nationalbewegung eine wichtige Rolle. Nach 1870 machten Italiens Juden emanzipatorisch einen großen Sprung - anders als im damaligen geeinten Deutschland, in dem Juden mehr oder weniger nur geduldet wurden. In Italien hingegen waren sie aktiv an der der Gründung eines geeinten Italien beteiligt.

Von Thomas Migge | 02.09.2015
    Das Restaurant Taverna del Ghetto im jüdischen Stadtviertel von Rom, aufgenommen am 05.09.2005.
    Roms Juden lebten bis 1870 unter schwierigen Bedingungen in einem überfüllten Ghetto. (picture alliance / dpa / Lars Halbauer)
    Sightseeing im ehemaligen römischen Ghetto: Die Gruppe italienischer Touristen steht vor dem "Tempio Maggiore", der größten und wichtigsten Synagoge Italiens. Die Touristenführerin der jüdischen Gemeinde erklärt, dass 1901 mit dem Bau dieses mächtigen Bauwerks im, wie es heißt, orientalisch-assyrisch-babylonesischen Baustil begonnen wurde. Nach drei Jahren war die Synagoge fertig.
    Für den Bau der "Großen Synagoge" wurde ein Teil des einstigen Ghettos abgerissen: uralte Häuser und enge dunkle Gassen. Roms Juden lebten bis 1870 unter schwierigen Bedingungen in einem überfüllten Ghetto. Geschaffen wurde es 1555 durch Papst Paul IV. - nach der Veröffentlichung der Bulle "Cum nimis absurdum". Darin beschloss der Papst, Juden im Kirchenstaat hätten in Ghettos zu leben. Rund 300 Jahre später: Die Epoche der Emanzipation beginnt. Mit der Eroberung Roms durch die Truppen des "Risorgimento", der italienischen Vereinigungsbewegung, werden die Mauern dieses Ghettos im Stadtviertel Rione Sant'Angelo eingerissen. Das "Risorgimento" bedeutet für alle Juden Italiens den Beginn einer neuen Zeit. Die Zeit der Freiheit, berichtet der an der venezianischen Hochschule unterrichtende Historiker Simon Levis:
    "Mitte des 19. Jahrhunderts lebten nur etwa 40.000 Juden in Italien. Eine kleine Volksgruppe also. Dass sie durch die Nationaleinigung Italiens als Volksgruppe aufgewertet werden, und volle Bürgerrechte erhielten, das liegt daran, dass das Risorgimento nicht von katholischen Kräften angeführt wurde. Unter den wichtigsten Anhängern des Risorgimento gab es viele Kirchengegner."
    Juden in der italienischen Nationalbewegung
    Die italienische Nationalbewegung wird von Anfang an auch von Juden unterstützt. 1870 wird Giuseppe Finzi - er ist Jude - Mitglied des ersten italienischen Parlaments, das zunächst in Turin und dann in Florenz tagt. Luigi Luzzatti wird 1910 italienischer Regierungschef - auch er Jude. Unter den Männern, die militärisch und politisch Italien einigen, ein Prozess, der 1870 mit der Eroberung Roms seinen Höhepunkt erreichte, sind - im Gegensatz zur deutschen Nationalbewegung - viele Juden. Von Antisemitismus keine Spur. Der Grund: Das Königshaus von Savoyen, maßgeblich an einer italienischen Staatseinigung unter seiner Krone interessiert, ist seit jeher offen gegenüber Juden. Es treibt die jüdische Emanzipation im piemontesischen Staat voran. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts steigen viele jüdische Bürger in wichtige politische und militärische Positionen auf. Immer mit dem Segen der Savoyer. Simon Levis:
    "Italien war anders als Frankreich und Deutschland - und auch deshalb hat sich hier kein Antisemitismus entwickelt, der die Juden als 'Geldjuden' verunglimpft. Es gab hier keine wichtigen jüdischen Bankiers. So entstand in Italien nie ein auf ökonomischen Aspekten basierender Judenhass. Antisemitische Argumente dieser Art entstanden erst später in Italien."
    Vor allem ab 1938, mit der Einführung der Rassengesetze auch in Italien. Doch bis dahin vollzieht sich im ehemaligen Kirchenstaat, eine vollständige Integration dieser Bevölkerungsgruppe. Und: Sie steigt vor allem in der neuen Hauptstadt Rom gesellschaftlich schnell auf. Das hat seinen Grund auch in der guten Ausbildung italienischer Juden.
    Bildung und Handel
    In den Ghettos trieben die Juden nicht nur Handel, sondern konzentrierten sich auf Bildungsinhalte. So verwundert es nicht, dass 1861 in Italien nur etwa 6 Prozent aller Juden Analphabeten sind. Unter den übrigen Italienern sind es immerhin 65 Prozent. So sind jüdische Italiener an vorderster Front beim Aufbau eines modernen Italien. Dass Juden von bestimmten sozialen und gesellschaftlichen Organisationen ausgeschlossen sind, wie etwa bei den deutschen Burschenschaften, ist in Italien undenkbar.
    Doch gibt es auch im 19. Jahrhundert antisemitische Ausschreitungen, vor und während des Risorgimento. Unter dem nun sozial aufsteigenden Bürgertum sind viele Juden. Zu antisemitischen Tumulten kommt es, seit die sozialen Absteiger die Argumente des Judenhasses vergangener Zeiten nutzen, um die Aufsteiger zu treffen. Dennoch: Das Risorgimento und die Gründung des italienischen Nationalstaats - diese rund 60 Jahre - waren eine Epoche, in denen Italiens Juden das Ghetto überwanden und zu gleichberechtigten Bürgern werden konnten. Eine Epoche, die auch nach der Machtergreifung durch Benito Mussolini 1922 zunächst nicht endete.