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Judenbücherstreit
"Verbrennt nicht, was ihr nicht kennt ..."

Wenige Jahre vor Luther kam es zu einem Intellektuellen-Disput: zum sogenannten Judenbücherstreit. Johannes Pfefferkorn, vom Juden- zum Christentum konvertiert, forderte, jüdische Schriften sollten verbrannt werden. Der Hebraist Johannes Reuchlin konterte. Flugschriften entstanden - und das neue Medium Buchdruck wurde erstmals offensiv genutzt.

Von Kirsten Serup-Bilfeldt | 18.01.2017
    Ein Buch mit hebräischen Schriftzeichen in einer Talmud-Hochschule
    Reuchlin und Pfefferkorn läuten die Reformation durch einen Kampf um das Schrifttum der Juden ein (Tobias Felber / dpa)
    Ein geselliger Abend unter Freunden. Im Schein unzähliger Kerzen schimmern Pokale mit Wein, tragen Diener Schüsseln mit Braten und Körbe mit Früchten und Gebäck herein. Schließlich will man dem deutschen Gast den Aufenthalt so angenehm wie möglich machen.
    Reuchlins Interesse an der hebräischen Sprache wird geweckt
    An diesem Herbstabend des Jahres 1490 hat sich im gastlichen Haus des Philosophen Pico della Mirandola in Florenz eine kleine Schar illustrer Gäste eingefunden. Unter ihnen der Grieche Elia Del Medigo, der in Florenz Philosophie lehrt und ein Deutscher - der Doktor Johannes Reuchlin aus Tübingen. Für den ist diese italienische "Bildungsreise" die Erfüllung eines langgehegten Wunsches.
    "Er ist Teil dieser humanistischen Bewegung, die ihren Schwerpunkt und ihren Ursprung in Italien hat, und gehört zu der Generation, mit der der Humanismus nördlich der Alpen Fuß fasst."
    Der Kirchenhistoriker Volker Leppin:
    "Es ist eine ganze Gruppe von Gelehrten, die auch untereinander Kontakt haben, die sich schätzen, sich Briefe schreiben und die sagen: Wir müssen gegenüber der mittelalterlichen, an Aristoteles orientierten verkrusteten scholastischen Wissenschaft neu beginnen, uns auf die Antike besinnen."
    Dieser Abend wird reiche Früchte tragen. Denn die Gespräche mit Del Medigo, dem gelehrten griechischen Juden, und die Debatten über jüdische Texte wecken Reuchlins Interesse an der hebräischen Sprache und an den Schriften des Talmuds. Besonderes Interesse haben alle Diskutanten an der Kabbalah, also den Texten der jüdischen Mystik, deren Wurzeln sich im Tanach finden, der hebräischen Bibel - für Christen das "Alte Testament".
    All diese Themen sind für Johannes Reuchlin intellektuelles Neuland. Sie werden ihn von nun an sein gesamtes Leben begleiten. Denn als Del Medigo Neugier und Wissensdurst des deutschen Gastes spürt, empfiehlt er ihn weiter - an den berühmten Talmudisten und Bibelkommentator Rabbi Obadja Ben Jacob Sforno in Rom.
    Verschüttete Quellen freilegen und zugänglich machen
    Bei diesem Lehrer vertieft Reuchlin seine Hebräisch-Kenntnisse und verfasst eine hebräische Grammatik. Später wird er mit seinen Studenten die Bücher Mose und die Propheten in der Originalsprache lesen. Damit gibt er ihnen den Schlüssel zum Verständnis des Alten Testaments in die Hand. So beginnt mit diesem Mann eine neue Ära der christlichen Bibelexegese auf der Basis des hebräischen Urtextes.
    "Seine konkurrenzlose Leistung für das deutsche Geistesleben war die Einführung des Hebräischen, das er von jüdischen Lehrern gelernt hatte."
    Der Philosoph Karl Dieter Ulke:
    "Es war Reuchlin, der in Deutschland die Voraussetzungen schuf, das Alte Testament wissenschaftlich zu erschließen. Seine Hinwendung zum Alten Testament hatte kein anderes Ziel, als den Menschen seiner Zeit verschüttete Quellen freizulegen und neu zugänglich zu machen."
    Eine hebräische Handschrift ist am 03.04.2014 im Jüdischen Museum in Berlin zu sehen.
    Mit Reuchlin beginnt eine neue Ära der christlichen Bibelexegese auf der Basis des hebräischen Urtextes (dpa / Tim Brakemeier)
    "Ad fontes" will Reuchlin seine Studenten führen. Der Kirchenhistoriker Volker Leppin:
    "Das war unter den Humanisten eine verbreitete Forderung: 'Zurück zu den Quellen', zurück zu den Originalsprachen. Der Gedanke: Wenn wir an die Originalsprache gehen, dann befreien wir diese Texte von Verfremdung."
    Das Bellen bissiger Gegner
    "Im Vorwort seiner hebräischen Grammatik beschreibt er, was ihn dazu trieb."
    "Nachdem ich oftmals über den allgemeinen Verfall des Studiums der Heiligen Schrift nachgedacht habe, kam mir schließlich ein geeignetes Hilfsmittel in den Sinn: nämlich das Alte Testament in seiner Ursprache, dem Hebräischen zu lesen und zu verstehen. Darum habe ich mich als Allererster daran gewagt, diese schwere Last auf meine Schultern zu nehmen und mich zugleich dem Bellen bissiger Gegner auszusetzen."
    Eine hellsichtige Einschätzung. Das 'Bellen bissiger Gegner' wird die nächsten Lebensjahre des Verfassers überschatten. Denn die Sorge um das bedrohte jüdische Schrifttum und seine auf der Italienreise erworbenen Kenntnisse - all das macht Reuchlin, den Begründer der modernen Hebraistik, nur wenig später zu einer der Hauptfiguren in einem erbitterten Streit. Es wird ein Streit, der die Gelehrtenwelt der Zeit bis auf ihre Grundfesten erschüttert.
    "Meine allerliebsten Christen. Tut den Juden diese Gewalt an. Nehmt ihnen ihre Bücher fort, in denen Gott und Maria, die Mutter Gottes gelästert werden!"
    Schleudert der zum Christentum konvertierte, geborene Jude Joseph Pfefferkorn seinen ehemaligen Glaubensbrüdern entgegen - in seiner Schmähschrift "Der Juden Spiegel". Der Jurist, Theologe und Philosoph Johannes Reuchlin kontert in seiner Schrift "Augenspiegel".
    "Derartige Schriften der Juden sind noch nie, weder nach geistlichem noch nach weltlichem Recht, verworfen oder verurteilt worden. Auch sollen die Juden ihre Synagogen in Ruhe, ohne Belästigung und Beeinträchtigung aufrechterhalten können. Als Untertanen des Heiligen Römischen Reiches haben sie überdies einen Anspruch auf den Schutz durch das Kaiserliche Recht."
    Eine Zeit der Revolutionen und Seelenwanderungen
    Mit diesen beiden Positionen ist der Kern des Konflikts umrissen. Die ganze Sache wird zu einem bühnenreifen Lehrstück: mit den Büchern der Juden als vordergründigem Motiv, der Freiheit des Geistes und der Toleranz des Glaubens als hintergründigem Motiv, mit einem Kaiser und einem Papst, einem Kölner Inquisitor und einem Tübinger Gelehrten in den Hauptrollen.
    In diesem Zwist stehen sich zwei Lager unversöhnlich gegenüber: die Vertreter der mittelalterlichen Scholastik und der Inquisition einerseits und die Anhänger eines neuen humanistischen Weltbildes und seiner Wissenschaft andererseits. Es ist ein Streit, der seine Faszination auch auf Menschen unserer Tage nicht verloren hat.
    "Als ich vor mehr als drei Jahren daran ging, für meine Zeitgenossen dieses großartige Leben neu zu beschreiben, leiteten mich zwei Motive: der Kampf, den Reuchlin auszufechten hatte, war ein Kampf um die Freiheit des Geistes, um die Freiheit der Meinungsäußerung, dem sich damals an der Schwelle der Renaissance ein Rest des Mittelalters, der Inquisition entgegenstellte."
    Berichtet 1966, zwei Jahre vor seinem Tod der Schriftsteller und Franz-Kafka-Freund Max Brod über die Arbeit an seiner historischen Monographie "Johannes Reuchlin und sein Kampf".
    Max Brod im Mai 1959
    Max Brod verfasst 1966 seine historische Monographie "Johannes Reuchlin und sein Kampf" (imago stock&people)
    "Der Kampf galt der Abwehr eines gefährlichen Anschlags gegen die Geisteswelt des Judentums - dort wo sie am blühendsten war."
    Schauplatz des Kampfes ist Köln. Die Hauptakteure sind: der Doktor Johannes Reuchlin - übrigens ein Großonkel des Luther-Weggefährten Philipp Melanchthon - und der Konvertit Joseph Pfefferkorn, der sich nun "Johannes" nennt. Statisten sind die Kölner Dominikaner unter ihrem Prior, dem Inquisitor Jakob van Hoogstraaten. Kaiser und Papst ziehen die Fäden im Hintergrund. Die staunenden Kölner Bürger schauen zu.
    Dieses Spektakel, das sich von 1509 bis 1520 hinziehen wird, geschieht am Vorabend des der Reformation - in einer Zeit also, in der die deutsche Christenheit zum ersten Mal eine Erfahrung machen wird, die den Juden seit Jahrhunderten vertraut ist: dass Religion blutig enden kann, dass Menschen ihres Glaubens wegen verfolgt, vertrieben und ermordet werden.
    Das frühe 16. Jahrhundert ist eine unruhige Zeit - voller Umbrüche und Widersprüche: eine Zeit, in der das Alte wankt und das Neue seine endgültige Form noch nicht gefunden hat. Eine Epoche in der Spannung zwischen Inquisition und Humanismus, zwischen altem und neuem Denken, zwischen dem "Herbst des Mittelalters" und dem Heraufdämmern einer neuen Zeit. Max Brod:
    "Es ist die gefährliche, abenteuerliche Luft der Renaissance, die uns anweht, wenn wir uns mit Johannes Reuchlin beschäftigen. Alles geriet damals in Bewegung, die Grundlagen wankten, alles schien gleichzeitig in Frage gestellt und schien doch auch wieder neu aufzublühen. Eine Zeit der Revolutionen und Seelenwanderungen."
    Der Zankapfel Talmud
    Und so wird die Reformation durch einen Kampf um das Schrifttum der Juden eingeläutet. Der wesentliche Zankapfel dabei ist der Talmud. Seit Jahrhunderten nämlich gilt diese geheimnisumwitterte Schrift als christenfeindlich. Allerdings - kaum ein Christ kennt den Talmud.
    "Selbst Reuchlin sagt von sich, dass er den Talmud eigentlich nicht im Original gelesen hat, das ist ein sprachlich schwer zugänglicher Text, in dem an ein paar wenigen Stellen das Judentum sich vom Christentum abgrenzt. Im Wesentlichen ist der Talmud ein Produkt dessen, was das Judentum sich in der Zeit, in der es nicht mehr den Tempel in Jerusalem als Zentrum hatte, neu als Schriftreligion verständigt hat und im Talmud die verschiedenen Auslegungstraditionen gesammelt hat."
    Der Konvertit Pfefferkorn will den Talmud konfiszieren lassen. Er ist überzeugt, dass diese Schrift den Grund dessen bilde, was Christen jahrhundertelang als jüdische "Verstocktheit" diffamiert hatten. Volker Leppin:
    "Pfefferkorn, der in verschiedenen Schriften sich massiv gegen das Judentum gewandt hatte und diesen Schriften eine besondere Wucht dadurch gegeben hatte, dass er sagen konnte: Ich komme aus dem Judentum, habe mich dann zum Christentum bekehrt und nun weiß ich genau Bescheid über das Judentum und zeige den Christen, was problematisch ist am Judentum."
    Mandat des Kaisers: Pfefferkorn überprüft jüdische Bücher
    Immer wieder fordert Pfefferkorn in seinen Schmähschriften reichsweit dazu auf, den Talmud zu verbrennen. Juden sollen zwangsweise bekehrt und ausgewiesen werden, wenn sie sich der Taufe widersetzen. Überdies verspottet er seine früheren Glaubensgenossen.
    "Bedenkt, dass ihr betrogen seid! Wo bleibt denn euer Messias?
    Die einzig richtige Konsequenz, die aus der enttäuschten messianischen Hoffnung zu ziehen sei, so folgert er, sei der Übertritt zum Christentum, in dem der jüdische Glaube seine eschatologische Erfüllung gefunden habe. In seinem Konvertiten-Eifer ist Pfefferkorn kaum zu bremsen. 1508 veröffentlicht er die "Judenbeichte", 1509 den "Judenfeind", alle zunächst in lateinischer Sprache. Doch - der gelernte Metzger kann kaum Latein.
    Die Handschrift ist unverkennbar: Es sind die Dominikaner, die ihn unterstützen; gehört doch zu ihren Aufgaben seit jeher die Judenmission. Intuitiv ergreifen sie die Chance, einen übergetretenen Juden für ihre Ziele zu instrumentalisieren. Und tatsächlich: Mit tatkräftiger Unterstützung der Kölner Dominikaner landet Pfefferkorn den großen Coup.
    "Wir, Maximilian von Gottes Gnaden Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, tun allen Juden, die in des Reiches Städten, Märkten und Flecken wohnen, kund: Wir sind glaubwürdig unterrichtet worden, dass ihr in euren Synagogen und Bibliotheken etliche unnütze Bücher habt, die unseren heiligen christlichen Glauben schmähen. Uns als Römischem Kaiser und Schwert der Christenheit gebührt es, darauf ein Auge zu halten.
    Wir haben daher unseren Getreuen Johannes Pfefferkorn aus Köln, der wohlbeschlagen in eurem Glauben ist, beauftragt, all eure Bücher zu überprüfen."
    Im Auftrag des Kaisers: Ein Gegengutachten von Reuchlin
    Der Kaiser hat den Bock zum Gärtner gemacht. Denn Pfefferkorn ist alles andere als "wohlbeschlagen". Volker Leppin dazu:
    "Pfefferkorn ist es gelungen, den Kaiser davon zu überzeugen, dass die jüdischen Bücher konfisziert werden sollen. Aber sobald er das versucht hat, vor allem in der Gemeinde Frankfurt, gab es Ärger. Und darauf reagierte der Kaiser, indem er das Mandat wieder angehalten hat und gesagt hat: Nun gebe ich mehrere Gutachten in Auftrag von bekannten Gelehrten."
    Das letzte Porträt von Kaiser Maximilian I. (1459-1519), im Sommer 1518 von dem von ihm geförderten Albrecht Dürer geschaffen. |
    Kaiser Maximilian I. erlaubte Pfefferkorn, jüdische Schriften zu beschlagnahmen, und beauftragte Reuchlin mit einem Gutachten, ob die Konfiszierung jüdischer Bücher rechtens sei. (dpa / Foto: Votava)
    Das ist die Stunde des Johannes Reuchlin.
    "Der sich durch eine doppelte Kompetenz auszeichnete: Er war Jurist; insofern jemand, der in der Lage war, zu beurteilen: wie steht es mit Konfiskation von Büchern nach Reichsrecht? Und er war ein hochgelehrter Hebraist. Der Kern ist in der Tat das Gutachten, in dem er reagiert auf die Anfrage von Kaiser Maximilian: Soll man die jüdischen Bücher konfiszieren und vernichten? Und er antwortet, wie man das als guter Wissenschaftler macht: Muss man alles differenziert sehen. Zu den jüdischen Schriften gehören auch die Schriften dessen, was die Christen als das Alte Testament bezeichnen. Das kann man schlecht konfiszieren."
    Überdies, so stellt Reuchlin klar, sei es auch falsch, die Juden als Häretiker zu bezeichnen:
    "Weil sie ja nicht abgefallene Christen sind. Deswegen gelten für sie ganz andere Kategorien - eben Kategorien für eine andere Religion. Insofern nützt er sehr viel an Argumentationsmöglichkeiten des 16. Jahrhunderts und zeigt uns eigentlich, dass das, was wir so als Modernität stolz vor uns hertragen, in vielen Argumentationsfiguren der Vormoderne auch schon präsent gewesen ist."
    Reuchlins "Augenspiegel" verteidigt die Bücher der Juden
    Aus Gutachten und Gegengutachten entwickelt sich nun ein mehrjähriger erbitterter Streitschriftenkrieg, in dessen Verlauf Reuchlin 1511 seine berühmte Schrift "Augenspiegel" veröffentlicht. Diese Abhandlung, in der er seinen Gegner Pfefferkorn persönlich angreift, gilt als offizielle Verteidigungsschrift für die Religions-Bücher der Juden.
    Vehement tritt Reuchlin für das Recht der Juden auf ihre Bücher ein. Ebenso vehement wendet er sich gegen die Vertreibung der jüdischen Bürger im Reich. Dennoch tragen die Juden nach seiner Ansicht - und hier ist auch Reuchlin ganz Kind seiner Zeit - Schuld an der Kreuzigung Jesu. Mit seinen Schriften hofft er, die Juden zum rechten Glauben zu bekehren, will ihnen aber ihre eigenen Bücher und Schriften nicht nehmen:
    "Verbrennt nicht, was ihr nicht kennt! Die Bücher der Juden enthalten die Lehre ihres Glaubens. Damit beleidigen sie keinen anderen Menschen. In ihrem Glauben sind sie, genau wie die Christen, allein Gott verantwortlich."
    Die fingierten "Dunkelmännerbriefe"
    Damit ist das Maß voll für den Inquisitor van Hoogstraaten und die Doctores der theologischen Fakultät der Universität Köln. Sie wüten, der Verfasser begünstige in 43 Punkten seines "Augenspiegels" die Juden auf unerlaubte Weise. Sie strengen eine offizielle Anklage gegen Reuchlin an: wegen Ketzerei. Und stürzen das christliche Europa in einen heftigen Konflikt.
    Noch rund 300 Jahre später setzt Heinrich Heine diesem Konflikt ein Denkmal, als er notiert:
    "Es herrschte die Geistlichkeit im Dunkeln durch die Verdunkelung des Geistes."
    Dieser "Verdunkelung" treten nun die hellsten Köpfe ihrer Zeit entgegen: die gelehrten Humanisten, Parteigänger Reuchlins. Sie wählen eine ganz besondere Art der Verteidigung: die "Dunkelmännerbriefe". Volker Leppin:
    "Nun fingieren einige Humanisten um Ulrich von Hutten Briefe der Kölner Dominikaner und schreiben unter deren Namen Briefe, die erstens in unglaublich schlechtem Latein geschrieben sind - das ist die Arroganz der Humanisten, die sagen, dieses scholastische Latein das ist ja nicht so ordentlich wie ein Cicero, was wir als Humanisten können - und die zweitens zeigen, wie diese Dominikaner von Dummheit und Vorurteil geprägt sind."
    Reuchlin beeindruckt Papst Leo X.
    Doch der Streit schwelt weiter und zieht Kreise. Bis nach Rom. Dafür hat Jakob van Hoogstraaten gesorgt. Dort sitzt Leo X. auf dem Stuhl Petri, ein frommer Mann, der seine unsterbliche Seele seinem Herrn Jesus Christus anvertraut, seinen sterblichen Körper jedoch seinem jüdischen Leibarzt Bonetto de Lattes. Der ist nicht nur eine medizinische Koryphäe, sondern auch ein kluger Mann, der mit Reuchlin korrespondiert. Er mag das Denken des Heiligen Vaters durchaus in Reuchlins Sinn beeinflusst haben.
    Papst Leo X. (orig. Giovanni de Medici) 1513-1521
    Papst Leo X. (imago stock&people)
    Reuchlin widmet dem Pontifex sein Werk "De arte cabbalistica", in dem er sich mit der jüdischen Mystik befasst. Und er beeindruckt den Papst offenbar so sehr, dass er die religiösen Schriften der Juden nicht verbietet. Stattdessen gestattet er mehreren Buchdruckern, Werke in hebräischer Sprache auf den Markt zu bringen.
    Der Hebraist Reuchlin zettelte eine europaweite Debatte an
    Am Ende seines Lebens - es endet am 30. Juni 1522 - hat Johannes Reuchlin drei Ketzerprozesse überstanden und - halb Europa in Aufruhr versetzt. Ohne es zu wollen, zettelte ein Hebraist eine europaweite Debatte an, die so viele einschloss und erreichte:
    Kaiser Maximilian und seinen Nachfolger Karl V., Papst Leo X. und dessen Nachfolger Hadrian VI., zwei französische Könige, eine stattliche Anzahl geistlicher und weltlicher Fürsten, rund 50 Reichsstädte, Universitätsfakultäten, Professoren und Gelehrte.
    Die Prozesse, die Reuchlin durchstehen musste, zeigen die Bruchlinien im Geistesleben des damaligen Europas auf. Aus diesen Brüchen entwickeln sich in den folgenden Jahrhunderten immer öfter gewalttätige Auseinandersetzungen. Bis in unsere Zeit. Der Tübinger Historiker Sönke Lorenz:
    "Angesichts der Bücherverbrennung der Nazis und der bleibenden Wunde des Holocausts, wächst für die Nachlebenden dem von Reuchlin geführten Streit um Judenrechte eine besonders kostbare Bedeutung zu, scheint doch bei diesem Gelehrten die rare historische Alternative zur Ideologie des Antijudaismus auf."
    Max Brod:
    "Ganz abgesehen davon, dass Bücher überhaupt nicht verbrannt werden sollen - diese Bücher enthielten unersetzbares Gedankengut, an dem Jahrhunderte, Jahrtausende gearbeitet hatten. Sie mussten nicht nur im jüdischen, sondern im allgemein menschlichen Interesse gerettet werden."
    Das getan zu haben, bleibt das unbestreitbare Verdienst des Johannes Reuchlin.