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Judenverfolgung in den Niederlanden
"Nach dem Krieg wurde vieles unter den Teppich gekehrt"

Während der deutschen Besatzungszeit wurden in den Niederlanden fast 75 Prozent der jüdischen Bevölkerung in Vernichtungslager deportiert. Entscheidend dafür waren Effizienz und Folgsamkeit der dortigen Behörden. Lange hat es gedauert, bis das Land sich mit der eigenen Rolle auseinandergesetzt hat.

Von Kerstin Schweighöfer |
Aufschrift "Voor Joden verboden" - Niederländisch für "Für Juden verboten"
"Für Juden verboten": Auch in den Niederlanden wurden Juden während des Zweiten Weltkriegs verfolgt (Imago/ Ann Ronan Picture Library)
Es ist eine jener Amsterdamer Grachten, deren Ufer weder durch eine Kaimauer noch durch Stahlbügel extra gesichert sind. Pflastersteine bis zum Wasser. Nichts als Pflastersteine, scheint es auf den ersten Blick. Bis die Sonne durch die Wolkendecke bricht. Dann blitzen sie auf einmal auf: unzählige silbrig glänzende Plättchen, die oberhalb des Wasser in das Straßenpflaster eingelassen sind.
Über eine Länge von 200 Metern säumen sie das Nordufer der "Nieuwe Keizersgracht" und sorgen für Gänsehaut: Denn auf den Plättchen stehen die Namen jener Menschen, die einst in den Grachten-Häusern gegenüber gewohnt haben. Mehr als 200 jüdische Männer, Frauen und Kinder, die während der deutschen Besatzungszeit aus ihren Häusern geholt und deportiert wurden. So wie die Familien Salomon und Kalf. Elf Menschen, alle 1943 ermordet im Vernichtungslager Sobibor.
Erinnerungen am Schattenkai
Maria Kroll steht vor der kleinen Namensplatte, die zu ihrem Haus gehört. Nachdenklich blickt die 67 Jahre alte Holländerin übers Wasser - und dann auf ihren Enkelsohn, den sie an der Hand hält. Drei Jahre ist er alt. So alt war Lion, der jüngste Sohn der Salomons, als er in Sobibor umkam. "Einerseits wohnen wir hier sehr gerne, aber wenn ich mir das bewusst mache, werde ich jedes Mal sehr traurig."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe 75. Jahrestag der Befreiung - Die Niederlande und das Trauma der deutschen Besatzung.
So wie viele der jetzigen Bewohner waren auch die Krolls bei ihrem Einzug in den 1980er-Jahren ahnungslos. Um der ermordeten Jüdinnen und Juden zu gedenken, in deren Wohnungen sie nun leben, haben sie 2015 die Silberplättchen anbringen lassen. Seitdem heißt das Nordufer "Schaduwkade", Schattenkai, erklärt Maria beim Überqueren der Brücke zurück zu ihrem Haus.
Großteil der niederländischen Jüdinnen und Juden wurde deportiert
Insgesamt lebten vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs rund 80.000 Jüdinnen und Juden in Amsterdam. Nur 15.000 haben die deutsche Besatzungszeit überlebt. Entscheidend dafür, dass die Zahl der ermordeten Juden in keinem anderen westlichen Land so hoch war, waren Effizienz und Folgsamkeit der niederländischen Behörden. Die Amsterdamer Beamten legten 1941 sogar Überstunden ein, um herauszufinden, wo genau in der Stadt Juden lebten. Davon zeugt noch heute eine mit schwarzen Punkten übersäte Karte. Überschrift: "Elke stip 10 Joden" – "Jeder Punkt zehn Juden". Sie hängt im Widerstandsmuseum von Amsterdam, erzählt Marias Mann Willem:
"Damals ist vieles geschehen, was sich nicht gehörte. Wie wir uns gegenüber unseren jüdischen Mitbürgern verhalten haben, war nicht immer richtig. Aber das haben wir lange Zeit ignoriert."
Erst in diesem Jahr hat sich Premierminister Mark Rutte überraschend für die Haltung der damaligen niederländischen Regierung entschuldigt. Höchste Zeit, finden Maria und Willem. Sie wissen, wie sehr die jüdische Gemeinde darauf gewartet hat, seit Jahrzehnten schon. Denn auch an der "Nieuwe Keizersgracht" wohnen heute wieder Juden.
Ein Mann legt eine Rose auf den Gleisen des ehemaligen Konzentrationslagers Westerbork in den Niederlanden ab. Niederländische Jüdinnen und Juden wurden während des Zweiten Weltkriegs von dort aus in die Vernichtungslager der Nazis deportiert. 
Gedenken an den Holocaust: Vom ehemaligen Konzentrationslager Westerbork in den Niederlanden wurden niederländische Jüdinnen und Juden während des Zweiten Weltkriegs in die Vernichtungslager der Nazis deportiert (picture alliance/ AP)
"Nach dem Krieg wurde vieles unter den Teppich gekehrt"
Suzanne Pereira zum Beispiel. Suzannes Großvater kam in Auschwitz ums Leben. Ihre Eltern konnten durch gefälschte Dokumente vor der Deportation gerettet werden.
"Die Entschuldigungen der Regierung sind schön und gut, aber sie hätten früher kommen müssen. Viele Betroffene konnten Ruttes Worte nicht mehr hören, weil sie inzwischen gestorben sind."
Aber dass die Niederländer ihr Selbstbild einer heldenhaften Nation endlich korrigiert haben, das kann die 69-Jährige nur begrüßen:
"Nach dem Krieg wurde vieles unter den Teppich gekehrt. Offiziell waren wir geschlossen in den Widerstand gegangen. Es brauchte Jahrzehnte, um zu erkennen, dass es nicht so schwarz-weiß war, sondern vor allem grau."
Denn in Wirklichkeit gab es genauso viele Widerstandskämpfer wie Kollaborateure, nämlich vier Prozent. Die große Mehrheit habe wie die meisten Menschen im Krieg nur eines gewollt: überleben.
"Ich bin lange Zeit sehr böse gewesen auf die Menschen, die damals mitgemacht und Dinge nicht verhindert haben. Aber viele hatten einfach Angst. Auch die Beamten hatten Angst. Und Menschen, die Angst haben, machen seltsame Dinge. Kann man ihnen das vorwerfen? Ich weiß es nicht."
Suzanne Pereiras in ihrer Wohnung an der "Nieuwe Keizersgracht" in Amsterdam
Suzanne Pereiras Großvater kam in Auschwitz ums Leben. Ihre Eltern konnten durch gefälschte Dokumente vor der Deportation gerettet werden. (Deutschlandradio/ Kerstin Schweighöfer)
Zweifel bleiben: Hätte das in jedem Land passieren können?
Um Deutschland hat Suzanne lange Zeit einen großen Bogen gemacht. Mit den "Moffen" wollte sie nichts zu tun haben. Doch eigentlich sei dieses Schimpfwort nicht mehr angebracht:
"Vor zwei Jahren war ich zum ersten Mal in Berlin. Die Zahl der Gedenkstätten hat mich regelrecht überrumpelt. Unglaublich, wie sich Deutschland mit seiner Vergangenheit auseinandersetzt. Und wie nett die Leute alle zu mir waren!"
Aber wenn sie Filme über den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus sieht oder darüber liest - und gerade jetzt, 75 Jahre nach Kriegsende, gibt es viele solcher Filme und Berichte - dann beginnt sie wieder zu zweifeln: Hätte das in jedem anderen Land auch passieren können?
Vermutlich schon, seufzt sie dann. Sie hat beschlossen, sich auf die Mutigen zu konzentrieren. Auf die komme es an. Die Mutigen machten den Unterschied.