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Jüdischer Alltag vor 1933
"Wir können der Vergangenheit nicht entkommen"

Rafael Seligmann hat einen Roman über seinen Vater Ludwig geschrieben. Der lebte als angesehener Kaufmann in Ichenhausen - bis die Nazis kamen. Ein Pfarrer rief ihm den rettenden Satz zu: Lauf, Ludwig, lauf. Der Vater floh. An ihn erinnert wenig in der schwäbischen Stadt, in der Hitler noch Ehrenbürger ist.

Christiane Florin im Gespräch mit Rafael Seligmann |
Porträt von Rafael Seligmann mit verschränkten Armen, im Hintergrund das Brandenburger Tor
Der Publizist Rafael Seligmann vor dem Brandenburger Tor in Berlin (dpa / Sebastian Kahnert)
Christiane Florin: "Lauf Ludwig, lauf so schnell du kannst." Das sagt der katholische Pfarrer im Frühjahr 1933 dem Kaufmann Ludwig Seligmann, als der ratlos und verzweifelt in der Kirche von Ichenhausen sitzt, einer Kleinstadt in Schwaben. Ludwig Seligmann ist Jude und dieser Satz des Priesters öffnet ihm die Augen. Lange hat er geglaubt, es werde doch nicht so schlimm kommen in Deutschland, schließlich spielt er in der Fußballmannschaft, führt mit seinem Bruder zusammen eine erfolgreiche Firma und der Vater hat im ersten Weltkrieg gedient.
Aber die Warnung des Pfarrers setzt diesem Glauben ein Ende. Ludwig Seligmann flieht aus Deutschland und gelangt über Umwege nach Palästina. Ende der 50er Jahre kehrt er mit seiner Familie nach Deutschland zurück. Sein Sohn Rafael Seligmann hat die Geschichte des Vaters aufgeschrieben und der rettende Satz "Lauf Ludwig, lauf" ist der Titel des Buches geworden. Mit Rafael Seligmann bin ich nun verbunden. Er lebt in Berlin und dort ist er in unserem Studio. Guten Morgen Herr Seligmann.
Rafael Seligmann: Guten Morgen, Frau Florin.
Florin: Sie erzählen ausführlich von den Jahren zwischen 1914, 1918 und 1933 und nur sehr kurz von der Zeit danach. Warum dieser Schwerpunkt auf dieser Zeit?
Seligmann: Weil ich der Meinung bin, dass das eine ganz entscheidende Zeit war, in der sich der Umbruch der deutschen Gesellschaft entwickelt hat. Das Bürgertum war zu unentschlossen, zu gekränkt nach der Niederlage des Ersten Weltkriegs und zu müde, und das hat den Nazis ermöglicht, an die Macht zu kommen.
Es ist auch gleichzeitig die Zeit des Umbruchs in der jüdischen Gemeinde von einer zufriedenen Gemeinschaft, die froh war, in der deutschen Gesellschaft zu leben. Ludwig, mein Vater war ein leidenschaftlicher Sänger in der Synagoge im Gesangsverein Zion. Aber auch ein Fußballer und das ‚Lauf Ludwig, lauf‘ hört er zum ersten Mal, als er als einziger Jude in der Stadtmannschaft mit dem Ball aufs Tor zustürmt und die Zuschauer sangen eigentlich ‚Lauf Wiggerl, lauf‘. Aber Wiggerl versteht außerhalb Bayerns niemand, also sagten sie ‚Lauf Ludwig, lauf‘.
"Wir sind wieder deutsche Juden"
Florin: Wie bezeichnen Sie die Familie, in der ihr Vater aufwuchs, also Ihre Familie? Ist es eine jüdische Familie in Deutschland, eine deutsche Familie jüdischen Glaubens? Was trifft es am besten?
Seligmann: Na, es waren Menschen und es waren gläubige Juden, die Deutsche waren. Also das haben wir ja erst nach 1945 auseinanderdividiert oder nach 1941. Das waren Deutsche, selbstverständlich. Die fühlten sich als Deutsche, sonst wäre mein Großvater auch nicht freiwillig in den Ersten Weltkrieg gezogen. Und natürlich waren sie auch Juden, das war selbstverständlich. Erst nach 1945, als die Displaced Persons nach Deutschland kamen, sagte er: Ja, wir sind Juden, aber temporär in Deutschland. Inzwischen ist man 70 Jahre da. Wir sind wieder deutsche Juden.
Florin: Sie haben es vorhin schon erwähnt, Ihr Vater war ein leidenschaftlicher Sänger im Synagogenchor, der Rabbiner war ihm ein wichtiger Ratgeber. Welche Rolle spielte die Religion in Ihrer Familie?
Seligmann: Eine ganz entscheidende, aber auch eine selbstverständliche. Also man hatte die Freude an den Ritualen, am Gesang, an der Synagoge, an den Gebeten, an Schofarhorn, an dem - ich würde sagen - Religionstheater. Man glaubte an Gott. Aber was mir mein Vater erzählt hat, das Entscheidende ist nicht so sehr das Verhältnis zu Gott, sondern Gottes Gebote zu den Mitmenschen. Also es nützt nichts, wenn man täglich drei Mal betet und sich gegenüber seinen Mitmenschen kalt und wenig hilfreich oder negativ benimmt.
"Man war damals nicht so wehleidig, wie man es heute ist"
Florin: Ein Gebot ist ‚Du sollst Vater und Mutter ehren‘, ein sehr bekanntes Gebot. Es wurde in Ihrer Familie sehr hochgehalten. So hoch, dass Ihr Vater das Gymnasium abbrechen und im elterlichen Betrieb aushelfen musste, weil dessen Vater, also Ihr Großvater, traumatisiert war durch den Ersten Weltkrieg und eine Zeit lang nicht mehr arbeiten konnte. Warum hat sich Ihr Vater diesem Gebot so gefügt? Da würde man heute sagen, das ist eigentlich eine Zumutung, das zu verlangen.
Seligmann: Wir leben in einer Wohlstandsgesellschaft, da ist schon alles heute fast eine Zumutung. Nein, es war selbstverständlich; die Familie war in Not und die zwei Brüder, mein Vater Ludwig und dann Onkel Heinrich, sein Bruder, die mussten helfen, weil der Vater eben nicht fähig war, die Familie zu ernähren. Das war am Ende der Inflation, das war keine spezifisch-jüdische Sache.
Florin: Hat er bedauert, dass er das Gymnasium verlassen musste?
Seligmann: Nein. Mein Vater war ein robuster Optimist. Einen Moment hat er es bedauert und dann war er Lehrling in Ulm in einem Kaufhaus und er fand sich sofort mit seiner Situation zurecht und erlang das Wohlwollen seines Chefs und vor allem, er hatte den Sport, er hatte den Glauben. Also man war damals nicht so wehleidig, wie man es heute ist.
"Wer gegen Menschen und Glauben ist, ist eine Gefahr für alle"
Florin: Antisemitismus gehörte zum Alltag, auch schon vor 1933. ‚Ihr Juden haltet zusammen wie Pech und Schwefel‘, sowas musste sich Ihr Vater schon vor 1933 anhören. Oder ‚Eben noch war man bester Freund, doch läuft etwas schief, ist man Jud‘ steht auch in Ihrem Buch. Ihre Großeltern und auch Ihr Vater haben geglaubt, wenn wir rechtschaffende Bürger sind, wenn wir uns etwas aufbauen, ja wenn wir Fußball spielen, für Deutschland in den Krieg ziehen, dann sind wir akzeptiert. Woher kam diese Hoffnung, Illusion muss man ja rückblickend sagen?
Seligmann: Rückblickend ist man immer klüger. Ich glaube auch nicht, dass mein Vater Fußball gespielt hat, um der deutsch-jüdischen Beziehung weiterzuhelfen. Er hat es getan, weil es ihm Spaß gemacht hat, er war ein leidenschaftlicher Sportler. Der Mensch denkt das, was er glauben will, worauf er hofft. Und ab 1866/1871 waren die Juden ja formal gleichberechtigt. Dann erlebte mein Großvater während des Ersten Weltkrieges die Judenzählung, mit deren Hilfe man beweisen wollte, dass die Juden Drückeberger sind, was nicht geklappt hat, also hat man es nicht veröffentlicht. Und dann erlebte er ab 1930 vor allem aber 1931/1932, wie der Nazismus, wie die Unmenschlichkeit immer härter wurde.
Florin: Ich habe den Satz des Priesters in der Anmoderation nur unvollständig zitiert, also ‚Lauf Ludwig, lauf so schnell du kannst‘. Denn er sagt danach noch zu Ihrem Vater: ‚Wer das Kreuz verachtet und die Juden hasst, ist des Teufels‘. Ihr Buch ist ein biografischer Roman. Ist dieser Satz wirklich so gefallen? Denn das Verhältnis zwischen Christentum und Judentum war, um es milde zu formulieren, nicht spannungsfrei. Es gab christlichen Antijudaismus.
Seligmann: Selbstverständlich. Und auf diesen vom Glauben teilweise gelösten Antijudaismus haben die Nazis zurückgegriffen. Die kamen ja nicht aus dem Nichts.
Florin: Aber der Satz ist so gefallen? Den hat der Priester so gesagt?
Seligmann: Ja, und er sagte, er drückte es zunächst erstmal anders aus. Er sagte ‚wer gegen Knoblauch und Weihrauch ist, - also die Juden standen für Knoblauch und die Christen für Weihrauch -, der ist des Teufels‘, weil auch die klugen Christen begriffen haben: Wer gegen Menschen ist, und wer auch gegen den Glauben ist, der ist eine Gefahr für alle.
In Ichenhausen ist Hitler immer noch Ehrenbürger
Florin: Sie haben kürzlich in Ichenhausen gelesen. Wie waren da die Reaktionen?
Seligmann: Die Menschen, die Zuhörer, die ehemalige Synagoge, die nach dem Krieg zum Feuerwehrhaus umfunktioniert wurde und erst Mitte der 80er Jahre zur Synagoge wieder zurückgebaut wurde, zum Museum - es gibt keine Juden mehr in Ichenhausen: Die Leute machten die Synagoge voll bis auf den letzten Platz und darüber hinaus. Sie waren da, sie sind mitgegangen mit dem Buch. Vielleicht hat der ein oder andere gesagt, schade, dass wir keine Juden mehr haben, wir haben da eine reiche Tradition. Ich habe auch Leserbriefe oder Briefe von Anwesenden bekommen. Gleichzeitig hat sich der Stadtrat bis heute noch nicht entscheiden können, Adolf Hitler die Ehrenbürgerschaft abzuerkennen, das muss man sich vorstellen.
Florin: Ja, das muss man sich wirklich vorstellen. Ich habe in der Stadtchronik auch nachgelesen - also in der, die man im Internet nachlesen kann: da steht 1541 erster urkundlicher Nachweis von Juden, dann die Erbauung der ersten Synagoge, sogar Erweiterung und Umbau des Synagogengebäudes, all das steht drin. Von 1938 steht aber nichts drin und auch eben nichts davon, dass die Synagoge zu einem Spritzenhaus der Feuerwehr gemacht wurde. Wie erklären Sie sich das?
Seligmann: Weil man nicht den Mut besitzt, zum großen Teil zu seiner Vergangenheit zu stehen. Und das ist gefährlich. Wer seine Vergangenheit negiert, wer nichts davon wissen will, der gerät in Gefahr, die gleichen Fehler wieder zu begehen. Aber ich wollte nochmal zurückkommen; mein Vater hat ja nach 1957, als er wieder nach Deutschland kam, mich nach Ichenhausen mitgenommen. Wir haben den Friedhof besucht und mein Vater hat an die Aussöhnung geglaubt, bis zuletzt, obwohl er Schmerzen hatte, dass er aus dem Fußballvereinsregister gelöscht wurde.
Und jetzt beginnt man so langsam mit dem Lauf der Schnecke oder der Schildkröte, während meiner Anwesenheit hat mir der Fußballverein ein kleines Stück Papier überreicht, darauf geschrieben, der erste Vorsitzende: ‚Wir sind froh, dass Ludwig Seligmann ein Sportkamerad war‘. Aber ihn in die Liste wieder reinzutun, so weit ist man noch nicht gegangen. Und die Ehrenbürgerschaft für Hitler abzuerkennen, so weit ist man auch noch nicht gegangen.
"Mein Vater hat Menschenliebe gelebt"
Florin: Können Sie verstehen, wenn Menschen sagen, und das sagten ja doch in vergangenen Jahren viele, jetzt muss auch mal gut sein mit der Erinnerung an die Nazizeit? Hat Ihnen das schon mal jemand ins Gesicht gesagt?
Seligmann: Nicht einmal. Nicht hundertmal. Viel öfters. Aber diese Leute begreifen einfach nicht: Wir leben ja in der Vergangenheit. In der Vergangenheit haben wir gelernt zu sprechen, zu lieben, zu leben. Wir können der Vergangenheit nicht entkommen. Wir müssen uns ihr stellen. Nicht aus Rache, nicht aus Bosheit, sondern um uns heute und in Zukunft zu verstehen.
Florin: ‚Nicht alle Hitler-Wähler sind Antisemiten‘ steht in Ihrem biografischen Roman. Das war auch so eine Beschwichtigungsformel. Heute heißt es, nicht alle, die eine rechtsradikale, in Teilen rechtsextreme Partei wählen, sind rechtsradikal und rechtsextrem. Glauben Sie das? Gibt es Parallelen zwischen damals und heute?
Seligmann: Selbstverständlich gibt es Parallelen. Und die werden ja auch ganz bewusst von der AfD genutzt, wenn man sagt, die Nazizeit war ein Vogelschiss in der deutschen Geschichte. Wir müssen - ich will jetzt nicht einzelne Parteien herausheben – aber was ich suche und warum ich dieses Buch geschrieben habe: Mein Vater hat Menschenliebe gelebt. Und deshalb habe ich diesen Roman an sein Andenken geschrieben.
Florin: Das sagt Rafael Seligmann. Vielen Dank Herr Seligmann.
Seligmann: Danke Frau Florin.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Rafael Seligmann: "Lauf, Ludwig, lauf! Eine Jugend zwischen Synagoge und Fußball"
Langenmüller, München 2019. 320 Seiten, 24 Euro