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Jüdisches Neujahrsfest
Wachrütteln mit dem Schofarhorn

In Synagogen auf der ganzen Welt wird zum jüdischen Neujahrsfest das Schofarhorn geblasen. Es ist ein uraltes Instrument, gefertigt meistens aus einem Widderhorn. Im Christentum wurde daraus später die Posaune. Das hat auch mit Martin Luther zu tun.

Von Tobias Kühn | 30.09.2019
Erik Lehmann, der Schofarbläser der neuen Münchner Ohel-Jakob-Synagoge, zeigt am Montag (10.09.2007), wie am jüdischen Neujahrsfest Rosch haSchana das Schofarhorn geblasen wird. Rosch Haschana (Anfang des Jahres) ist das jüdische Neujahrsfest.
Zum jüdischen Neujahrsfest wird das Schofarhorn geblasen (dpa / picture alliance / Robert B. FishmanFrank Mächler)
"Rosch Haschana ohne Schofartöne wäre wie ein Butterbrot ohne Brot", sagt Elijahu Tarantul, Rabbiner aus Nürnberg. Am jüdischen Neujahrsfest Rosch Haschana und in den vier Wochen zuvor wird in den Synagogen auf der ganzen Welt das Schofarhorn geblasen. Auch am Ende des Versöhnungstages Jom Kippur ertönt sein Klang.
Elijahu Tarantul sagt: "Ein Schofar ist ein Musikinstrument aus der uralten Zeit. Es ist ein Widderhorn mit einem Hohlraum innen. Es ist so naturbelassen wie möglich. Es gibt kleine und große Schofaroth. Hier, in Zentral- und Westeuropa, ist es üblich, kleine Schofaroth zu bauen. Unter orientalischen Juden ist es eine Tradition, lange, fast einen Meter lange Schofaroth herzustellen."
Wie ihre Nachbarn im Vorderen Orient waren die Israeliten ursprünglich Nomaden. Aus den Hörnern ihrer Tiere bauten sie Musikinstrumente: sogenannte Schofaroth. Melodien konnten sie darauf nicht spielen. Aber die Instrumente waren gut geeignet, um Menschen zusammenzurufen oder um Alarm zu schlagen.
Schon früh diente der Schofar auch zu kultischen Zwecken. Die Thora berichtet, er sei bei religiösen Anlässen gespielt worden: etwa, wenn die Priester bei Prozessionen neben der Bundeslade herzogen. In der Bundeslade sollen die Gesetzestafeln gelegen haben, die Mose laut biblischer Überlieferung am Berg Sinai von Gott erhalten hatte.
Lob statt Warnung
In den meisten deutschen Bibelübersetzungen ist allerdings nicht vom Schofar die Rede oder von einem Widderhorn, sondern von Posaunen. Der Grund dafür: Martin Luther übersetzte vor 500 Jahren das hebräische "Schofar" mit dem deutschen "Posaune" und in einigen Fällen auch mit "Trompete".
Nicht nur Luther, auch viele andere Bibelübersetzer wählten für "Schofar" ein zu ihrer Zeit gebräuchliches Blasinstrument mit einem besonders lauten Ton. Sie wollten das biblische Geschehen für ihre Zeitgenossen sinnlich erlebbar machen.
Im Judentum soll der Klang des Schofars den Menschen wachrütteln – bis heute. Der Klang des Schofars an Rosch Haschana ermuntert den Menschen, achtsam zu leben und religiös-moralisch Bilanz zu ziehen.
Der Mensch soll darüber nachdenken, wie er sich im zu Ende gehenden Jahr verhalten hat, sagt der Nürnberger Rabbiner Elijahu Tarantul: "Der Tag des Gerichts kommt, man soll aufwachen und versuchen, das Urteil des Gerichts zum Positiven zu beeinflussen."
Ganz anders als beim Schofar im Judentum verhält es sich mit der Posaune im Christentum. Ihre liturgische Funktion unterscheidet sich vollkommen von der des Schofars. An die Stelle des Mahnenden tritt das Lob Gottes. So wie es in Martin Luthers Übersetzung von Psalm 150 heißt:
"Lobet Gott in seinem Heiligtum! Lobet ihn mit Posaunen!"
Schrill und archaisch
Im hebräischen Originaltext ist nicht von Posaunen die Rede, sondern vom Schofar. Dass Luther das hebräische Wort nicht mit "Widderhorn", sondern mit "Posaune" übersetzte, hatte weitreichende Folgen für die Entwicklung der Kirchenmusik.
Anders als die Posaune eignet sich der Schofar nicht zum Musizieren, sagt der Nürnberger Rabbiner Elijahu Tarantul. Er beschreibt den Ton des Widderhorns so: "Schrill, durchdringend, archaisch, von der musikalischen Seite her gesehen wahrscheinlich auch primitiv, nicht zur Unterhaltung und nicht zum Genuss bestimmt, sondern zum Wachrütteln."
Manchmal ist das Rütteln so stark, dass sogar Steine vom Ton erweicht werden. Die berühmten "Posaunen von Jericho" sollen die Mauern der alten kanaanitischen Stadt zum Einsturz gebracht haben.
Es waren aber keine Posaunen. Auch hier ist im Originaltext von Schofarhörnern die Rede. Die Posaunen von Jericho sind also ebenfalls Luthers Übersetzung zu verdanken - der Einsturz der Mauer hingegen Widderhörnern.
Im hebräischen Original berichtet die Bibel davon, wie Gott zu Josua, dem Heerführer der Israeliten, spricht:
"Siehe da, ich habe Jericho samt seinem König und seinen Kriegsleuten in deine Hände gegeben. Lass alle Kriegsmänner rings um die Stadt her gehen einmal, und tue das sechs Tage so. Und lass sieben Priester sieben Schofarhörner tragen vor der Lade her, und am siebten Tag geht siebenmal um die Stadt, und lass die Priester die Schofarhörner blasen. Und wenn man dann das Schofarhorn bläst, so soll das ganze Volk ein großes Kriegsgeschrei machen. Dann werden die Mauern der Stadt einfallen, und das Volk soll hineinsteigen."
"Die Posaune ist ein Menschenwerk"
Im alten Israel gab es zahlreiche Instrumente, mit denen man – anders als mit dem Schofar – tatsächlich Musik machen konnte. So erzählt die Bibel im 1. Buch der Chronik davon, wie König David nach Jerusalem einzieht:
"Und David zog hinauf mit ganz Israel. Und sie spielten vor Gott aus ganzer Macht mit Liedern, mit Harfen, mit Psaltern, mit Pauken, mit Zimbeln und mit Trompeten."
Die Bibel kennt neben dem Schofar also auch Trompeten. Sie unterscheiden sich grundlegend von heutigen Trompeten. Es waren kurze Blasinstrumente mit Schalltrichter. Sie wurden aus Holz, aber auch aus getriebenem Bronze- oder Silberblech gefertigt.
Die Israeliten nannten die Trompete "Chazozera". Auf Deutsch bedeutet dies so viel wie "die Zusammenruferin". Nachdem diese Trompete in den Tempelkult eingeführt worden war, übernahm sie viele Funktionen des weitaus älteren Schofars.
Von all den Instrumenten, die im alten Israel bei kultischen Zeremonien gespielt wurden, erklingt seit der Tempelzerstörung vor bald 2000 Jahren nur noch der Schofar.
Rabbiner Elijahu Tarantul betont, dass der Klang des Schofars ganz anders ist als der einer Trompete oder Posaune. "Posaune ist ein Menschenwerk, ein Instrument, das von der Herstellung viel mehr beeinflusst ist als ein Schofar. Ein Schofar ist so weit wie möglich naturbelassen. Die Posaune, die aus dem Metall entsteht, hat eine längere Technologiekette hinter sich. Die Posaune befindet sich weiter entfernt von der ursprünglichen Schöpfung als ein Schofar."
In vielen biblischen Geschichten wird immer dann Schofar geblasen, wenn man aufhorchen soll, weil etwas Wichtiges passiert. So schreibt der biblische Prophet Jesaja:
"Alle Bewohner des Erdkreises und die ihr auf Erden wohnt: Wenn ein Kriegsbanner auf den Bergen aufgepflanzt wird, so seht hin, und wenn man den Schofar bläst, so horcht auf!"
Symbolgehalt des Schofarhorns
Die meisten Schofaroth werden aus einem Widderhorn hergestellt, manche auch aus dem Horn einer Antilope. Doch eigentlich kann das Horn eines jeden koscheren Tieres verwendet werden. Mit einer Ausnahme: Das Horn eines Rindes ist verboten – denn es erinnert an die biblische Geschichte vom Goldenen Kalb.
Schofaroth aus dem Horn des Widders haben einen hohen Symbolgehalt. Sie erinnern an eine der bekanntesten antiken Erzählungen. Die Bibel berichtet im 1. Buch Mose davon, wie Abraham auf den Berg Moria hinaufsteigt. Er soll dort, auf Befehl Gottes, seinen Sohn Isaak opfern. Doch im letzten Moment nimmt die Geschichte eine unerwartete Wendung:
"Da rief der Engel des Herrn vom Himmel zu Abraham: ‚Lege deine Hand nicht an den Knaben und tue ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deinen einzigen Sohn nicht verschont.‘ Da hob Abraham die Augen und sah, dass sich hinter ihm ein Widder mit seinen Hörnern in einer Hecke verfangen hatte. Abraham ging hin und nahm den Widder und opferte ihn als Brandopfer an seines Sohnes statt."
Der mittelalterliche jüdische Gelehrte Sa‘adja Ben Josef schreibt:
"Der Klang des Schofars erinnert an die Erschaffung der Welt. Er soll den Menschen berühren und ihn dazu bewegen, seine Verfehlungen zu bereuen. Zudem erinnert der Klang an die Zerstörung des Jerusalemer Tempels und an den Tag des Gerichts."
Außerdem heißt es, der Schall eines Schofars werde das Kommen des Messias ankündigen. Damit verbunden ist auch die Hoffnung, dass eines Tages alle Toten auferstehen.
Dieser Beitrag ist in seiner Langfassung als Feature erstmals am 17.07.2019 in der Reihe "Aus Religion und Gesellschaft" erschienen.