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Jüngster Abgeordneter
Mahmut Özdemir (SPD): "Unsere Generation muss sich stärker einbringen"

Der aus Duisburg stammende Mahmut Özdemir ist der zurzeit jüngste Bundestagsabgeordnete. Eines seiner Ziele sei es, der Generation Praktikum mehr Sicherheit zu geben, sagt der 26-Jährige im Deutschlandfunk. Trotz seiner neuen Aufgabe in Berlin, möchte er die politische Basisarbeit in seiner Heimatstadt nicht vernachlässigen.

Mahmut Özdemir im Gespräch mit Christiane Kaess | 31.12.2013
    Der Bundestagsabgeordnete Mahmut Özdemir (SPD)
    Der Bundestagsabgeordnete Mahmut Özdemir (SPD) (ps / Soeren Stache)
    Christiane Kaess: Noch nie hat eine Regierungsbildung in Deutschland so lange gedauert wie nach der Bundestagswahl in diesem Jahr. Nachdem man sich über die Inhalte des Koalitionsvertrages geeinigt hatte, musste auch noch die SPD-Basis zustimmen. Der Bundestag konnte in dieser Zeit kaum arbeiten. Alles lag auf Eis. Anstatt der Fachausschüsse wurde unter massiver Kritik ein großer Hauptausschuss eingerichtet. Über ein Drittel der Abgeordneten im Bundestag ist neu – einer von ihnen ist Mahmut Özdemir. Er sitzt für die SPD im Bundestag, und er ist dort der jüngste Abgeordnete. Er kommt aus Duisburg und ist dort auch groß geworden als Arbeiterkind türkischer Herkunft. Guten Morgen!
    Mahmut Özdemir: Guten Morgen!
    Kaess: Herr Özdemir, Ihr Einzug in den Bundestag, ist das auch Ihr persönliches Highlight 2013 gewesen?
    Özdemir: Das persönliche Highlight 2013 so wie jedes Jahr für mich ist, dass man ein gesundes, schönes Jahr verlebt hat mit seiner Familie. Aber es war ein sehr schöner Moment in meinem Leben, wenn nicht der schönste, ja.
    Kaess: Haben Sie auch Bedenken?
    Özdemir: Nein. Bedenken habe ich nicht. Wenn ich Bedenken hätte, wäre ich an der Stelle falsch. Ich weiß, dass ich nicht immer alles richtig machen werde, aber ich habe einen Politikstil versprochen, der sowohl meiner Parteibasis vor Ort, aber auch den Menschen vor Ort ganz klar die Ansage gemacht hat, das ist ein Job, den wir gemeinsam zu machen haben. Ich habe Entscheidungen zu treffen, aber um diese Entscheidungen zu treffen, möchte ich auch vor Ort eine hohe Rückkopplung haben, und diese Rückkopplung kann man nur haben, wenn man wirklich verwurzelt und verfestigt in den Stadtteilen und im Stadtbezirk ist. Und da habe ich keine Zweifel.
    Kaess: Die SPD hat ja mit der Agenda 2010 einen Abstieg erlebt, und viele haben sich große Sorgen gemacht, noch mal in eine große Koalition zu gehen. Haben Sie auch noch Bauchschmerzen?
    Özdemir: Wann hat man schon keine Bauchschmerzen, wenn man einen Kompromiss eingehen muss? Das ist genauso, wenn man einen Koalitionsvertrag mit den Grünen, mit der FDP oder mit der Partei Die Linke verhandelt. Vor dem Hintergrund sind Koalitionsverhandlungen immer Kompromisse, die einem kleinere oder größere Bauchschmerzen machen. Wichtig ist allerdings, und das hat Thomas Oppermann sehr treffend formuliert, mit dem geflügelten Wort "Hüter des Vertrags". Und wenn man auch noch mal den Bogen spannt zu unserem Mitgliedervotum der SPD, dann haben wir neben dem Stück Demokratiegeschichte innerparteilich, aber auch in der Bundesrepublik hat unsere Mitgliederbasis auch die Geschichte geschrieben, zu sagen, ja, wir vertrauen euch als SPD-Bundestagsfraktion, als gewählte Abgeordnete der Partei SPD, dass ihr auch das, was ihr in dem Vertrag verfestigt habt, auch in Gesetze umsetzt. Und das ist der Vertrauensvorschuss, mit dem man sehr sorgsam umgehen muss.
    Kaess: Viel kritisiert worden ist ja schon, dass der Koalitionsvertrag zulasten der Jungen geht, wenn man mal die ganzen Rentenpläne sich ansieht. Sie sind mit 26 Jahren der jüngste Abgeordnete im Bundestag – vertreten Sie letztendlich eine Generation ohne Einfluss?
    Özdemir: Nein, auf keinen Fall. Und gerade dafür werbe ich auch, und gerade dafür "streite" ich auch, im positiven Sinne. Unsere Generation muss sich stärker einbringen, und wir haben nun einmal die Problematik, ich sag nur mal das Stichwort 'Generation Praktikum', dass insbesondere die jungen Menschen davon betroffen sind. Ich hatte heute Morgen noch einen Lieferanten eines namhaften großen deutschen Logistikunternehmens vor der Tür, der mir eine Bestellung nach Hause geliefert hat, um keine Namen zu nennen, und der mir gesagt, dass er 1200 netto am Ende eines Monats zur Verfügung hat. Dass man natürlich einer Generation, die Kinder kriegen soll, die eine Familie gründen soll, die deutsche Produkte nach Möglichkeit kaufen soll und nebenbei auch noch ein Haus bauen und Bäumchen pflanzen soll, dass man so einer Generation Praktikum auch mehr Sicherheit geben muss. Und das meine ich damit, dass man auch in unser Land wieder reinvestiert. Und das fängt an, dass wir bei der Bildung, für die Kleinsten, für Chancengleichheit investieren, und hört damit auf, dass wir im Ehrenamt investieren. Weil nur jemand, der von seiner Gesellschaft etwas bekommt – nämlich Sicherheit –, der sagt auch, ich investiere wieder in diese Gesellschaft, mit dem Ehrenamt, mit Gründung einer Familie und mit dem Kauf von Produkten, die hier produziert werden. Das ist ein Kreislauf, da muss man endlich wieder diesen Zug vernünftig auf die Schiene setzen.
    Kaess: Auf Ihrer Homepage steht, "ich bin stolz, in einem Land aufgewachsen zu sein, in dem es gleich ist, woher man kommt oder wie man heißt, in dem die eigene Leistung so wie die Gemeinschaft zählen". Haben Sie das tatsächlich immer so empfunden?
    Özdemir: Natürlich. Sonst würde ich das auch nicht so auf meiner Internetseite schreiben. Es gibt hin und wieder mal Momente, an denen man an so etwas zweifeln kann, an denen man fragen kann: Ist es wirklich so gerecht? Aber gerade das sind die Momente für mich immer gewesen, zu sagen, ja natürlich, es kann nur gerechter zugehen, wenn ich mich auch engagiere. Und das war immer auch mein Antrieb, zu sagen, diese Zweifelsmomente waren eigentlich für mich mehr und mehr Bestärkung, mich zu engagieren.
    Kaess: Ist der Migrationshintergrund heute in Deutschland also kein Hemmschuh mehr?
    Özdemir: So pauschal kann man es natürlich auch nicht sagen. Natürlich gibt es immer noch "Benachteiligungen" im weitesten Sinne, die eine nordrhein-westfälische Landesregierung zum Beispiel dadurch behebt, dass sie anonyme Bewerbungsverfahren einsetzt, um unter anderem nicht nur die Benachteiligung aufgrund eines Migrationshintergrundes, aber auch die Benachteiligung aufgrund des Geschlechtes zum Beispiel auszufiltern und wirklich zu sagen, in diesem Land kann es nur gerechter zugehen, wenn die Leistung honoriert wird. Und das ist auch ein Punkt, wo man sagt, diese kleine Ungerechtigkeit hat uns den Antrieb gegeben, für eine Reform zu sorgen. Und das war in Nordrhein-Westfalen zum Beispiel als ein Ansatz das anonyme Bewerbungsverfahren.
    Kaess: Es wird ja gerade eine sehr heftige Diskussion geführt über die sogenannte "Armutseinwanderung". Die CSU fordert für Armutsmigranten, wie sie genannt werden, schärfere Regeln aufzustellen und gerade Städte wie Duisburg, da, wo Sie herkommen, gerade da gibt es Bezirke, wo viele Zuwanderer aus Osteuropa zusammenleben, und die Kommunen schaffen es nicht mehr, die steigenden Sozialausgaben zu schultern und müssen sich auch noch mit wachsender Kriminalität herumschlagen. Hat die CSU also recht mit ihrer Forderung?
    Özdemir: An dieser Stelle zitiere ich immer gerne Willy Brandt und möchte Horst Seehofer höflichst damit belehren, der einst gesagt hat, "ich habe gesehen, wie Krieg zu Armut führt, und ich möchte nicht sehen, wie Armut zu Krieg führt". Und wenn man das Wort "Krieg" durch "gesellschaftlichen Frieden" ersetzt, dann hat man, glaube ich, eine zeitgemäße Interpretation der Armutswanderung innerhalb der europäischen Union. Nur die CSU gibt die Antwort ja selber an der Stelle: Wer im Rahmen der Koalitionsvertragsverhandlungen es Städten wie Duisburg und 25 anderen Städten, die davon betroffen sind, verwehrt, Soforthilfefonds zum Beispiel einzuführen, damit wir die ganzen Unsäglichkeiten, die im Krankenversicherungssystem vorherrschen zum Beispiel, beheben können, um einer Stadt wie Duisburg, die, sag ich mal, mit vielfältigsten Problemlagen konfrontiert ist, zu helfen, zu sagen, ja, die Aufgaben, die eine Stadt wie Duisburg zu erledigen hat, die müssen gesetzgeberisch so fundiert sein, dass überhaupt die Aufgaben, die per Bundesgesetz von Duisburg zu erfüllen sind, erst mal finanziert sind. Dann wäre es überhaupt kein Problem, in unseren Städten mit einer sogenannten EU-Armutszuwanderung umzugehen.
    Kaess: Aber das löst ja jetzt das Problem der steigenden Sozialausgaben nicht.
    Özdemir: Das löst das Problem der Soziallasten nicht. Nur, an der Stelle muss man auch sagen, wir können das Rad nicht zurückdrehen. Die EU-Armutszuwanderung, die hätte man so prognostizieren können, es hätte aber auch ganz anders ausgehen können an der Stelle. Nur, wenn man sich vor diesem Problem jetzt versteckt und sagt, ja, wir haben keine Patentlösung dafür, und dann auch noch mit so flachen Parolen daherkommt und zu sagen, ja, das geht ja alles auf die Soziallasten, das ist, glaube ich, zu kurz gesprungen.
    Kaess: Wir waren dieses Jahr konfrontiert mit einem ganz besonders erschreckenden Beispiel von Hass und Rassismus. In München hat der NSU-Prozess begonnen. Bevor die rechtsextreme NSU aufgeflogen ist, haben Sie sich vorstellen können, dass es so etwas in Deutschland gibt?
    Özdemir: Die ehrliche Antwort darauf lautet, ich hätte mir nicht mal in Ansätzen und auch nicht mal im Entferntesten vorstellen können, dass es in unserem Rechtsstaat zu solchen verdeckten organisatorischen, auf Fremdenhass basierenden Gräueltaten wie Morden kommen könnte. Das hätte ich mir nicht träumen lassen.
    Kaess: Inwieweit hat es Ihr Vertrauen erschüttert in die deutschen Behörden?
    Özdemir: Mein Vertrauen hat es überhaupt nicht erschüttert. Es hat mir definitiv allerdings vor Augen geführt, dass wir über Jahre Opfer zu Tätern gemacht haben aufgrund von Ermittlungspannen, die aufgrund von Unzulänglichkeiten in Behördenabstimmungen, Unzulänglichkeiten in den Ermittlungen oder einseitigen Ermittlungen gefußt haben. Und gerade deshalb bin ich sehr froh, dass dieser Koalitionsvertragsentwurf sehr deutlich auch die Handlungsempfehlungen aus dem Untersuchungsausschussbericht vom Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages zu den NSU-Morden auch in den Koalitionsvertrag Eingang gefunden haben.
    Kaess: Mahmut Özdemir, er sitzt für die SPD im Bundestag und ist jüngster Abgeordneter. Danke für das Gespräch, Herr Özdemir!
    Özdemir: Sehr gerne, Frau Kaess!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.