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Jürgen Habermas: "Auch eine Geschichte der Philosophie"
Auf der Suche nach den Spuren der Vernunft

Fast 2000 Seiten von Deutschlands wichtigstem Intellektuellen, Jürgen Habermas: "Auch eine Geschichte der Philosophie" ist eine Art Werkbilanz seines wissenschaftlichen Lebenslaufs - der davon bestimmt ist, sich seit den 1950er-Jahren ständig in öffentliche politische Debatten einzumischen.

Von Jörg Später | 17.11.2019
Der Philosoph Jürgen Habermas
Der Philosoph Jürgen Habermas (dpa / picture alliance / Simela Pantzartzi)
Wie beginnen mit diesem Buch des bedeutendsten und renommiertesten gegenwärtigen deutschen Philosophen, der in diesem Sommer 90 Jahre alt geworden ist? Dies ist womöglich sein letztes großes Buch, ein letztes Wort in eigener Sache, eine zusammenfassende Bilanz. Trotzdem, so bin ich mir sicher, würde es der Autor nicht mögen, wenn man seine Schrift nicht als solche erst einmal zur Kenntnis und ernstnehmen würde, ohne Ehrfurcht, ohne weihevollen Ton, ohne Abschiedsgeschenkkorb, so als wäre der Habermas schon der Gegenwart entrückt und in das Pantheon der Klassiker eingezogen. Das würde ihm nicht gefallen, unserem Hegel der Bundesrepublik.
Also keine Gedenkveranstaltung, sondern hinein in das Buch. Mit Vorfreude und mit Spannung, aber auch mit den Mühen der Ebene. Es wird eine voraussetzungsvolle Lektüre, am besten hat man Philosophie studiert. Das Buch stützt sich auf ein überaus komplexes Gedankensystem wie schon Habermas‘ Hauptwerk, die "Theorie des kommunikativen Handelns". Manche Passagen muss man zwei Mal lesen. Ein Stift in der Hand ist unentbehrlich. Die nüchterne Sprache, die wissenschaftliche Diktion verlangt große Konzentration. Aber immer wieder gibt es kurze Momente des Glücks und des Staunens über dieses schier unglaubliche Universum an Wissen und komplexen Denkens.
"Auch eine Geschichte der Philosophie" heißt es in Anspielung auf Herders "Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit". Zu Herders Zeit hat man eine Philosophie zur Geschichte gemacht, heute im postmetaphysischen Zeitalter, in dem die letzten Gründe, Ursachen und Prinzipen der Welt nicht mehr erkennbar sind, schreibt man nur noch Philosophiegeschichte. Auch darum geht es in diesem Buch. Bei Habermas darf man zudem sicher sein, dass seine Philosophiegeschichte durchaus ein Kommentar zur Zeit sein soll. "Auch eine Geschichte der Philosophie" heißt nämlich: nicht nur eine weitere Philosophiegeschichte, sondern auch eine aktuelle Einmischung. Daher – weil es eine Frage der Gegenwart an die Geschichte ist – wählt Habermas die Konstellation von Glauben und Wissen für seinen Gang durch die Philosophiegeschichte Europas. Die Religion ist ja keineswegs verschwunden, wie viele Modernisierungstheoretiker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angenommen hatten. Im Gegenteil. Die Säkularisierungsthese, die solches behauptet hat, ist auf den Prüfstand geraten. Habermas gehörte selbst zu dieser Strömung und geriet nach den Anschlägen von 9/11 ins Grübeln. Um diese Zeit traf er sich mit dem damaligen Kardinal Ratzinger, um über die Dialektik der Säkularisierung, Vernunft und Religion zu diskutieren.
Einwanderung theologischer Gehalte ins profane Denken
Also, warum das Verhältnis von Glauben und Wissen? Habermas bezieht sich auf einen enigmatischen Satz von Adorno:
"Nichts an theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen; ein jeglicher wird der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern."
Die Einwanderung theologischer Gehalte ins profane Denken als ein philosophisch nachvollziehbarer Lernprozess ist die eine Säule des Buches. Die andere entsteht aus folgender Motivation:
"Die säkulare Moderne hat sich aus guten Gründen vom Transzendenten abgewendet, aber die Vernunft würde mit dem Verschwinden jeden Gedankens, der das in der Welt Seiende im Ganzen transzendiert, selber verkümmern. Die Abwehr dieser Entropie ist ein Punkt der Berührung des nachmetaphysischen Denkens mit dem religiösen Bewusstsein […]"
Das ist ein Angebot zur Verständigung, das der säkulare Philosoph den religiösen Kollegen macht. Habermas interessiert sich dafür, wie die Kommunikation zwischen einerseits Philosophie und andererseits Theologie und Religion nach der Trennung von Glauben und Wissen fortgesetzt werden kann. Aber er ist nicht bedingungslos gesprächsbereit. Zum einen trennt er die Säkularisierung des Welt- und Selbstverständnisses von der Säkularisierung der Staatsgewalt und der Gesellschaft. Zum anderen stellt er fest, dass die Theologie selbst seit Kierkegaard eine anthropologisch-nachmetaphysische Gestalt angenommen hat und sie damit ein legitimer Konkurrent geworden ist. Aber eben nur dadurch. Die Grenzen der Toleranz sind für Habermas erreicht, wenn der Universalitätsanspruch der Vernunft vom dogmatischen Wahrheitsanspruch des religiösen Glaubens bestritten wird.
Leitfaden der Philosophiegeschichte ist "die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen" – es geht astronomisch ausgedrückt darum, wie diese beiden Planeten von Glauben und Wissen in verschiedenen historischen Epochen zueinander standen. Die Philosophie speiste sich stets aus beidem, aus Religion und Wissenschaft. Die Genealogie des nachmetaphysischen Denkens soll zeigen, "wie sich die Philosophie – komplementär zur Ausbildung einer christlichen Dogmatik in Begriffen der Philosophie – ihrerseits wesentliche Gehalte aus religiösen Überlieferungen angeeignet und in begründungsfähiges Wissen transformiert hat."
Spezialisierung des Wissens
Die Frage, die Habermas beschäftigt heißt: Was kann heute noch ein angemessenes Verständnis der Aufgabe von Philosophie sein? Das hatte er 1971 schon einmal in einem brillanten Aufsatz, "Wozu Philosophie?" thematisiert. Er sah im nachmetaphysischen Zeitalter für die Philosophie drei Möglichkeiten: Philosophiegeschichte, Erkenntnistheorie, Fachspezialisierung. Heute schreibt er:
"Mich bewegt die Frage, was von der Philosophie übrigbleiben würde, wenn sie nicht nach wie vor versuchte, zur rationalen Klärung unseres Selbst- und Weltverständnisses beizutragen […] Auch die Philosophie ist eine wissenschaftliche Denkungsart, aber sie ist keine Wissenschaft, die daran arbeitet, immer mehr über immer ‚weniger‘, das heißt enger und genauer definierter Gegenstandsbereiche zu lernen; sie unterscheidet nämlich zwischen Wissenschaft und Aufklärung, wenn sie erklären will, was unsere wachsenden wissenschaftlichen Kenntnisse von der Welt für uns bedeuten – für uns als Menschen, als moderne Zeitgenossen und als individuelle Personen." […] "Die Frage, was sich die Philosophie noch zutrauen kann und soll, entscheidet sich heute, ungeachtet ihres unverhohlen säkularen Charakters, an jenem transformierten Erbe religiöser Herkunft."
Auch wenn die Gesellschaft also immer komplexer wird und wir wegen der Spezialisierung des Wissens als Einzelne immer weniger wissen und können, obwohl wir immer mehr Informationen haben und auch Zeit, uns diese anzueignen, fordert Habermas seine Leser und Leserinnen auf, von ihrer Vernunft autonomen Gebrauch zu machen und ihr gesellschaftliches Leben praktisch zu gestalten. Dieser innere Zusammenhang von theoretischer und praktischer Vernunft, den Kants Gedanke des Transzendentalen enthält, geht nach Habermas verloren, wenn Philosophie rein szientistisch wird.
Eine große Erzählung der Moderne
Habermas‘ Genealogie nachmetaphysischen Denkens geht von der der Achsenzeit aus. Damit ist das von Karl Jaspers so bezeichnete halbe Jahrtausend von 800 bis 200 vor Christus gemeint, in der die bis heute wirkenden Religionen entstanden sind. Habermas verfolgt hier – immer mit Blick auf die sich verändernden Formen der Sozialintegration – kognitive Schritte im Selbst- und Weltverständnis von intellektuellen Eliten mit gesellschaftlicher Wirkungspotenz. Solche kognitiven Schritte sind zum Beispiel die Entwicklung vom Mythos zum Logos oder der diskursive Streit um die Wahrheit, der den mythischen Erzählungen noch fremd war, oder die Moralisierung des Heiligen durch das Gesetz, das Gehorsam fordert und rettende Gerechtigkeit verspricht. Das sind gemeinsame Vorgänge, die den jüdischen (später den christlichen und islamischen) Monotheismus wie die griechische Metaphysik, die ineinander verschränkt sind, prägen. Ähnliches beobachtet Habermas im indischen Buddhismus und in den chinesischen Lehren. In der Achsenzeit findet also nach Habermas eine kognitive Revolution statt: vom mythischen zum metaphysischen Denken.
"Ich erkläre die achsenzeitliche Weltbildrevolution damit, dass das mythologische Selbstverständnis der Hochkulturen infolge des Wachstums eines ausdifferenzierten Wissensstandes und der fortgeschrittenen Sensibilisierung und Entwicklung des moralischen Bewusstseins kognitive Dissonanzen verarbeiten musste, die sich in diesen grundbegrifflichen Rahmen schließlich nicht integrieren ließen."
Und auf diese Weise verfolgt er den Strukturwandel von Weltbildern und Weltwissen, Mensch- und Menschheitsvorstellungen weiter in der Philosophiegeschichte. Seit der Weltbildrevolution der Achsenzeit verzweigen sich die Entwicklungspfade der großen Zivilisationen. Habermas konzentriert sich auf den okzidentalen Entwicklungspfad, der zu der spezifisch westlichen Konstellation von Glauben und Wissen geführt hat, und beschreibt ihn als einen Lernprozess. Der große Erzählstrang ist dabei, wie Glauben und Wissen im christlichen Platonismus und unter dem Dach der römisch-katholischen Kirche zueinander finden, sich dann im späten Mittelalter ausdifferenzieren und schließlich in der frühen Neuzeit sich voneinander trennen. Die große Wegscheide ist das 17. Jahrhundert, in dem die Philosophie und die Wissenschaft auf Distanz zum Christentum gehen, und zwar polemisch, da das Christentum mächtig und repressiv ist.
Die Trennung von Glauben und Wissen bedeutete für den sakralen Komplex eine Veränderung seiner Substanz, vor allem in machtpolitischer Hinsicht. Der Philosophie wies sie den konsequenten Weg der Verwissenschaftlichung – "als ob es Gott nicht gäbe" –, aber mit zwei alternativen Wegen nachmetaphysischen Denkens innerhalb des Rahmens der Subjektphilosophie. Und das ist der Höhe- und Wendepunkt in Habermas‘ Narration: Mit Hume und Kant verzweigen sich die Pfade in eine szientistische, also verwissenschaftlichte, und eine komprehensive, also das rationale Welt- und Selbstverständnis umfassend betreffende Philosophie, in Empirismus und nichtkognitivistische Auffassung der praktischen Vernunft einerseits und eine transzendental welterzeugende als auch praktische gesetzgebende Vernunft andererseits. Hier entsteht eine neue Konstellation zwischen Philosophie, Wissenschaft und Religion.
Voraussetzungen nachmetaphysischen Denkens
"Das philosophische Wissen soll erklären, was das wissenschaftlich akkumulierte Weltwissen für uns als Menschen, für uns in unserer persönlichen und gesellschaftlichen, unserer historischen und zeitgenössischen Existenz bedeutet. In diesem – implizit politischen Sinne – sind David Hume und Immanuel Kant herausragende Repräsentanten der Aufklärung. […] Die beiden Entwicklungspfade scheiden sich an der Frage, ob und gegebenenfalls wie die Philosophie auch in ihrer nachmetaphysischen Gestalt an dem Anspruch festhalten kann und soll, das im lebensweltlichen Hintergrund verankerte intuitive Welt- und Selbstverständnis der jeweils gegenwärtigen Generationen zu erklären und so weit wie möglich im Lichte des wissenschaftlich akkumulierten und jeweils verbesserten Weltwissens kritisch zu prüfen und zu korrigieren."
Kant teilt also mit Hume die Voraussetzungen nachmetaphysischen Denkens, doch er vollzieht eine transzendentalphilosophische Wende der Subjektphilosophie, um das universalistische Begriffspotential der jüdisch-christlichen Überlieferung zu rekonstruieren. Und er gibt sich mit den nachmetaphysischen Grenzen der Vernunft nicht zufrieden. Anders als Hume will Kant jene aus dem theologischen Erbe der praktischen Philosophie stammenden Grundfragen so rekonstruieren, dass sie noch unter den Voraussetzungen nachmetaphysischen Denkens mit guten Gründen beantwortet werden können.
Nach Hume und Kant folgt im Zuge der Revolutionen in Amerika und Frankreich sowie der Ausweitung und Verselbständigung kapitalistischer Wirtschaftskreisläufe und der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft und ihrer Wissenschaften im 19. Jahrhundert ein weiterer Paradigmenwechsel von der Subjekt- zur Sprachphilosophie. Denn der Mensch, so Habermas, ist zuerst ein kommunikativ vergesellschaftetes Subjekt. Geschichte, Gesellschaft und Kultur werden von der Philosophie wahrgenommen und dringen in sie ein. Hegels Schüler betreiben die soziale und linguistische Wende.
Ein Kind der Aufklärung
Stimmt das überhaupt alles, was Habermas über die Achsenzeit, das römische Kaiserreich, das frühe und hohe Mittelalter etc. schreibt? Über den Weg und die Weichenstellungen in die Moderne, von der Metaphysik zur Subjektphilosophie, dann zum Objektivismus der Naturwissenschaften, schließlich zur Sozial- und Sprachphilosophie? Man darf gespannt sein, was die Spezialisten der einzelnen Epochen und wissenschaftlichen Disziplinen zur den Einzelheiten dieser philosophiegeschichtlichen Großschau sagen werden. Oder die Vertreter der analytischen Philosophie, also die "Jünger von Hume", und jener philosophischen Strömungen, die sich jenseits von Kant und Hume begreifen. Ist die Philosophiegeschichte bloß eine Evolution zum vernünftigen Diskurs? Was ist mit der Kunst? Wie werden die Kritiker der Säkularisierungsthese reagieren, denen Habermas zwar entgegengekommen ist, ohne aber den Begriff selbst zu verabschieden? Habermas ist ein Freund von Prozessbegriffen wie funktionale Differenzierung, Rationalisierung und Objektivierung. Gab es nicht auch gegenläufige Prozesse: Sakralisierung, Entdifferenzierung, Emotionalisierung? Ist die Philosophiegeschichte wirklich ein großer Lernprozess und somit eine Erfolgsgeschichte?
Das Projekt der Moderne nach wie vor noch nicht beendet
Desungeachtet ist sicher: Das neue Werk von Habermas ist ein großer Wurf, ein ganz großer Wurf sogar. Aber gerade wegen der Weite des Wurfes muss doch gefragt werden, ob diese Philosophiegeschichte nicht einen geschichtsphilosophischen touch hat. Nun, nicht direkt, dazu ist die Beweisführung zu argumentativ und empirisch – und somit "fallibel", um in Habermas‘ eigenen Worten zu sprechen. Aber sie steht noch in Kontakt zum geschichtsphilosophischen Erbe von Kant, Hegel und Marx. Letztendlich ist Habermas auf der Suche nach den Spuren der Vernunft in der Philosophiegeschichte. In Anlehnung an und in Abweichung von Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung könnte man seine These so ausdrücken: Schon im Mythos ist Aufklärung, aber Aufklärung muss nicht in Mythologie zurückschlagen, wenn sie anders als der Szientismus an einer "komprehensiven" Vernunft interessiert ist – also einer umfassenden Vernunft, die mehr ist als die instrumentelle der Selbsterhaltung und Naturbeherrschung und alle menschlichen Lebensbereiche umfasst. Für Habermas ist das Projekt der Moderne nach wie vor noch nicht beendet. Er selbst sieht sich noch immer als ein Kind der Aufklärung: Man soll die Welt nicht nur beobachten und feststellen was ist. Man soll und darf sie auch beurteilen, sich an ihr beteiligen, sie politisch gestalten. Wir können lernen, wir können fortschreiten, wie können Nein sagen. Eine vernünftige Freiheit ist möglich.
"Mein Versuch einer Genealogie nachmetaphysischen Denkens soll dazu ermutigen, den Menschen nach wie vor als das ‚Vernunft habende‘ Tier zu begreifen und dabei an einem komprehensiven Begriff der Vernunft festzuhalten." […] "Aus dieser Sicht zieht sich die subjektive Vernunft in handelnde und lernende Subjekte zurück, die in ihren jeweiligen lebensweltlichen Kontexten miteinander vergesellschaftet sind. So verschränkt sich die Vernunft der Subjekte mit einer kommunikativen Vernunft, die in der historischen Vielfalt der einander überlappenden sozialen Lebenswelten nur noch auf prozedurale Weise Einheit stiften kann."
Das ist Habermas‘ eigene Sozialtheorie auf den Punkt gebracht. Nun wird die gesamte Philosophiegeschichte auf sie zugerichtet. Atemberaubend. Und gleichzeitig sehr optimistisch, wenn man sich die gegenwärtigen Krisenerscheinungen der kapitalistischen Demokratien in Amerika und Europa vor Augen hält, die Rückkehr von Diktatur und völkischen Mythen oder die globalen Probleme von Finanzkrisen und Flüchtlingsdramen, Kriegen, Kulturkämpfen und Klimawandel, nicht zu vergessen die Onlinekulturindustrie und die asozialen Netzwerke. Habermas glaubt gleichwohl an den sozialkognitiven Fortschritt, ja sogar an den moralkognitiven Fortschritt als Denkbewegung. In diesem Sinn beantwortet er seine Frage von 1971, wozu und vor allem wie Philosophie heute zu betreiben sei: Philosophie müsse vom Geist der Wissenschaft durchdrungen sein – Habermas folgt damit Humes unumkehrbaren Lernschritt der Ausdehnung des grundsätzlich fallibilistischen Bewusstseins auf Aussagen der Philosophie. Aber in den Fragen der praktischen Philosophie steht Habermas auf Kants Seite, denn hier sei die religiöse Hoffnung auf rettende Gerechtigkeit, auf Erlösung von Leid, auf Versöhnung durch eine vernünftige Gesellschaft bewahrt. Habermas ist Kantianer. Vor allem aber ist er, der an die kommunikative Vernunft und den sozialkognitiven Fortschritt glaubt, Habermasianer.
Postskriptum
Habermas dankt am Ende nicht seinen Lehrern, sondern seinen Schülern, von denen nicht mehr alle leben, so betagt ist er der Meister bereits. Er nennt sie natürlich seine "ehemaligen" Schüler und setzt den Begriff Schüler sogar in Anführungszeichen. Wenn man im Sommer die vielen Artikel dieser Schüler zu seinem 90. Geburtstag gelesen hat, dann weiß man, dass dies die pure Bescheidenheit ist. Es ist allerdings eine professionelle Bescheidenheit, keine zur Schau gestellte und auch keine falsche. Habermas weiß, was er geleistet hat. Aber er weiß auch, was er der Diskussion mit anderen und der Kritik durch Andere verdankt. Das gehört alles zu seiner eigenen Philosophie, die auf die vernünftige Kraft von Sprache, Kommunikation und Streit hofft. Auf solchen Ideen beruht eine offene Gesellschaft. Wenn dann einmal, vielleicht in 150 Jahren, vielleicht auch früher, wieder jemand in Anspielung an Herder und Habermas "auch" eine Geschichte der Philosophie vorlegt, wird diese aus dem Jahr 2019 darin gewiss ihren Platz finden.
Jürgen Habermas: "Auch eine Geschichte der Philosophie"
Band 1: "Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen" Band 2: "Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen"
Suhrkamp Verlag, Berlin. 1752 Seiten, 98 Euro.