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Jürgen Theobaldy: "Rückvergütung"
Mitläufer braucht es immer

Jürgen Theobaldy war in den 1970er Jahren eine wichtige Stimme der jungen lyrischen Szene, zog sich Mitte der 80er aber zurück. Seit ein paar Jahren macht er wieder auf sich aufmerksam. Sein neuer Roman richtet ein Mikroskop auf das Innenleben einer Schweizer Versicherungsgesellschaft. Zum Vorschein kommt ein verkommenes System.

Von Ulrich Rüdenauer | 23.09.2015
    Unterschrift und Stempel "Krankenversicherung" auf einem Blatt Papier, auf dem der Stempel mit der Aufschrift "Krankenversicherung" liegt
    "Rückvergütung" geht den betrügerischen Machenschaften einer Krankenkasse nach (imago stock&people / McPhoto)
    Zuweilen wird beklagt, dass sich die deutschsprachige Literatur viel zu selten auf den morastigen Feldern unserer krisenhaften Gegenwart aufhält. Ganz richtig ist diese Klage nicht - man denke nur an Autoren wie Kathrin Röggla, Ulrich Peltzer oder Ernst Wilhelm Händler. Und man könnte nun auch noch Jürgen Theobaldy hinzuzählen, der einen schmalen Roman über das Innenleben einer Schweizer Versicherungsgesellschaft geschrieben hat: Es ist eine Farce, deren Bestandteile man leicht auf den Wirtschaftsseiten der Zeitungen finden kann und deren Protagonisten einem manchmal siegesgewiss lächelnd in den 20-Uhr-Nachrichten begegnen - dann, wenn sie eines Wirtschaftsdelikts angeklagt vor Gericht stehen.
    Harmlos fängt die Skandalgeschichte um die Krankenkasse Corsa an, die im Mittelfeld der Versicherungsanstalten ihr Dasein fristet, aber sich durch kleine Manipulationen einige Vorteile verschafft. Renner, aus seinem letzten Job wegen ein paar Unregelmäßigkeiten entlassen, findet bei Corsa eine neue Anstellung. Er wird von seinen Vorgesetzten damit betraut, 2658 Versicherte, allesamt im Rentenalter, zu betreuen. Nun ist es so, dass keine Krankenversicherung gerne alte Menschen durchschleppen möchte - die liegen ihr nämlich mit chronischen und allen möglichen anderen Krankheiten auf der Tasche. Weshalb es Ausgleichszahlungen unter den Versicherungsgesellschaften gibt. Wer viele Alte aufnimmt, bekommt Geld aus einem Topf.
    Millionen mit Senioren
    Die Corsa profitiert erheblich von ihren Senioren - Millionen spülen sie in ihre Kasse. Das Seltsame an diesen 2658 Kunden allerdings ist, stellt Renner bald fest, dass keiner von ihnen Rückerstattungen für Arztbesuche, Medikamente oder Reha-Maßnahmen eingereicht hat. Sie müssen in einen "Jungbrunnen gestiegen sein", um dort "bis zum Hals im dampfenden Thermalwasser zu schwelgen". Mit anderen Worten: Die Sache stinkt zum Himmel. Die 2658 Kunden existieren nur auf dem Papier. Und Renner wurde nicht umsonst eingestellt. Er soll ein wenig tricksen und den Versicherten Krankheiten erfinden, damit die Aufsichtsbehörde keinen Verdacht schöpft.
    "Während das Leben die körperlichen Beeinträchtigungen mit sich brachte, das endliche, aller Not und allen Altersgebresten gegenüber gleichgültige, gemeine Leben, hatten die Schäden, die Renner jetzt ersann, eine andere Ursache. Von ihr erhoffte er inständig, sie würde über seine Pensionierung hinaus, bis zu der es allerdings Jahrzehnte hin war, nur ihm selber und Muhrer und Iseli bekannt bleiben. Sonst, kein Zweifel, würde sich für Renner die Lage umkehren."
    Die Lage, man muss kein Prophet sein, kehrt sich um. Und das gleich in mehrfacher Hinsicht: Die Affäre, die der glückliche Familienvater Renner mit der Frau seines Chefs Muhrer eingegangen ist, fliegt auf. Oder, wahrscheinlicher, war ohnehin eine abgekartete Sache zwischen Muhrer und seiner Gattin. Und auch die Versicherungsaufsicht kommt dem Betrug auf die Schliche. Dass nämlich vier lange Jahre keiner der greisen Karteileichen gestorben ist, musste einem Prüfer irgendwann auffallen. Nun geht es Renner an den Kragen. Er soll als Sündenbock herhalten - dafür war er engagiert worden. Denn ...
    "... was Renner da nicht ausgeklügelt, aber weitergeführt und verfeinert hatte, es war nun einmal nicht dafür geschaffen, aus nächster Nähe angeschaut zu werden."
    Sehenden Auges Richtung Abgrund
    "Aus nächster Nähe", so hieß Jürgen Theobaldys letzter, vor zwei Jahren erschienener Roman, der im Berlin der Wendejahre ein paar Altlinke auf die Desolation Row schickt, eine Desillusionierungsgeschichte in der dahindämmernden Bundesrepublik, die es plötzlich durch die Wiedervereinigung nicht mehr gab. Inhaltlich hat dieses Buch mit dem neuen wenig zu tun, aber aus nächster Nähe werden sie doch beide erzählt: Theobaldy wählt einen kleinen Wirklichkeits-Ausschnitt, schaut sich diesen genauestens und sprachlich präzise an, lässt seine Figur fast schon sehenden Auges gen Abgrund stolpern und erfasst aber, das ist das Erstaunliche, durch diese Nahsicht ein ganzes verkommenes System. Die Versicherungsgesellschaft Corsa steht pars pro toto: Auch in der Banken- und Finanzwelt ließen sich ähnliche Geschichten finden und erzählen; ihre Protagonisten würden sich gleichen. Es gibt Strippenzieher und Mitläufer. Und solche, die sich rechtzeitig in Deckung bringen und ungeschoren aus den vermutlich viel zu selten stattfindenden Scharmützeln mit der Justiz herauskommen. Andere erwischt's.
    Renner selbstverständlich sitzt tief im Schlamassel und anschließend im Gefängnis. Die wirklich Verantwortlichen versucht er, der nicht gerade ein Sympathieträger und schon gar nicht ohne Schuld ist, noch ein bisschen mitzureißen in den schmachvollen Abgrund. Aber erst einmal steht er ganz alleine mit nichts da: Job weg, Familie zerbrochen, die Geliebte hat ihn verraten.
    "Renner sah auf, suchte nach etwas in der Zelle, an das er seinen Blick heften konnte, das vergitterte Fenster nicht, und sah sich weiter um in dieser halbwegs annehmbaren Zelle, mit der Schüssel dahinten. Der Kloschüssel dahinten. Auf den Knien kroch er hin, beugte sich darüber, stierte in den Schlund. Übergab sich. Erbrach sich. Ach was, kotzte hinein."
    Wenn allerdings der Name ein wenig auf seinen Charakter schließen lässt, dann wird dieser Renner wieder aufstehen und neuerlich durchstarten - Mitläufer braucht es immer. Der 71-jährige, in Straßburg geborene, in Mannheim aufgewachsene, heute in der Schweiz lebende Jürgen Theobaldy hat einen solchen angestellten Jedermann ironisch und hellsichtig in eine Romanfigur verwandelt - sage noch einer, die deutsche Gegenwartsliteratur habe nichts mit der Gegenwart zu tun.
    Jürgen Theobaldy: "Rückvergütung"
    Wunderhorn Verlag. Heidelberg 2015. 146 Seiten. 19,80 Euro.

    Jürgen Theobaldy, 1944 in Straßburg geboren, stammte aus einer Arbeiterfamilie, einige seiner Bücher beschreiben dieses Milieu; er wuchs in Mannheim auf, wo er eine kaufmännische Lehre absolvierte, bevor er über den zweiten Bildungsweg an die Universität gelangte, wo ihm dann die Literatur dazwischen kam. Die Lyrikbände der 70er-Jahre heißen "Sperrsitz" oder "Blaue Flecken". Immer wieder werden biografische Momente in seinen Texten aufgerufen.
    Seit Mitte der 80er-Jahre lebt Theobaldy, fern vom Literaturbetrieb und von diesem auch ein wenig vergessen, in der Schweiz. In den letzten Jahren aber macht er wieder stärker auf sich aufmerksam: 2012 erschien der Gedichtband "Suchen ist schwer", 2013 der Roman "Aus nächster Nähe" und nun wiederum ein Romanwerk mit dem Titel "Rückvergütung".