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Jugendliteratur:
"Der Krieg und das Mädchen" von Jürgen Seidel

Jürgen Seidels Buch über den Ersten Weltkrieg spielt fernab der Kriegshandlungen. Er erzählt von zwei jungen Erwachsenen und den Herausforderungen ihrer Zeit. Ein Lesevergnügen auch für Erwachsene.

Von Tonia Koch | 28.07.2014
    Die Wirklichkeit in Schützengräben spielt in diesem Roman nicht mehr als eine Nebenrolle, sagt der Autor Jürgen Seidel:
    "Ich habe versucht, den ganzen Krieg auf einen Granatsplitter zu verdichten."
    Fritz, eine der beiden Hauptfiguren, fängt sich in Sichtweite eines namenlosen französischen Dorfes gegen Ende der Geschichte diesen Granatsplitter ein. Er erliegt diesem Splitter schließlich, und zwar in doppelter Hinsicht: physisch und psychisch. Fritz ist mit Mila eng befreundet, sie treffen sich zu zweit oder in einer größeren Gruppe Gleichgesinnter, die einen Künstlerkreis gegründet hat, um über Literatur zu reden, sich auszutauschen. Fritz entwickelt trotz der engen Verbundenheit mit Mila jedoch starke Gefühle für seinen Freund Bloemacher:
    "Er hatte auf Bloemachers Oberlippe schauen müssen, auf ihren schönen Schwung, der ihm zuvor nie aufgefallen war, auf die feinen Linien in der zartrosa Haut, nur für Bruchteile von Herzschlägen, länger wagte er es nicht." (Seite 50)
    Fritz weiß seine homoerotischen Empfindungen nicht zu deuten. Der Krieg kommt ihm daher gerade recht. Er meldet sich wie die meisten jungen Männer freiwillig, obwohl er Zola gelesen hat und eine Ahnung von den Schrecken des Krieges haben müsste. Aber er verdrängt die Gefahr, der Krieg so hofft er, würde ihn heilen.
    "Du blickst der Mobilmachung voller Hoffnung entgegen. Das verwundert mich. Mobilmachung, das bedeutet doch Hackepeter, oder nicht?" Fritz musste schmunzeln. "Hackepeter ist gut für mich", sagte er. "Ich werde entweder sterben oder ich komme gesund nach Hause." (Seite 221)
    Der vermeintliche Heilungsversuch scheitert und die Unberechenbarkeit des Granatsplitters in seinem Körper treibt ihn ein zweites Mal an die Front, Fritz stirbt im November 1914. In der Logik der Zeit den Heldentod, den auch die jungen Leute, der aufgeklärte Künstlerkreis, nicht infrage stellen. Die Gesellschaft, die sich für den Krieg begeistert hat, habe eben so empfunden und keine Diskussionen geführt über das Für und Wider, sagt Seidel:
    "Es kam mir sehr darauf an, in dem Roman das zu finden - das ist schon sehr anmaßend, das gebe ich zu, aber, das ist ja auch die Aufgabe von Romanen - und zwar das, was man Kriegsmetaphysik nennt."
    Auch Mila, die junge, selbstbewusste Frau, die einen französischen Vater hat, stellt die Glaubenssätze ihrer Zeit nicht infrage. Erst als sie zufällig auf Sheena, eine Friedensaktivistin, trifft, gerät sie in Zwiespalt:
    "...die leichtsinnige Erwartung des großen Krieges ist überall spürbar", warf sie ein und erschreckte sich selbst. Dagegen muss man doch etwas tun... "Ich bin selbst eine der Leidtragenden mit meinem französischen Namen, obwohl ich keine Französin bin. Überall schürt man Ressentiments."
    Die Begegnung mit Sheena, die von der Kriegstreiberei nicht viel hält, und Milas Nachname Pigeon, rücken das Mädchen und ihre Mutter unerwartet und gänzlich unverschuldet in das Zentrum eines politisch motivierten Komplotts. Die allgemeine Hysterie um den französischen Erbfeind macht es möglich. Die Mutter zerbricht daran, Mila nicht, sie bleibt die selbstbewusste, intelligente junge Frau, die einmal Ärztin werden möchte. Jürgen Seidel beschreibt seine beiden Hauptfiguren Mila und Fritz mit einer auffallenden sprachlichen Vielfalt. Der Autor bleibt in der Sprachwelt des Sommers 1914, er transferiert nicht in die sprachliche Neuzeit, denn er vertraut auf die Kompetenz junger Leser.
    "Die Sprache habe ich versucht, ganz behutsam an dieses etwas Gestelzte, Theaterhafte der Zeit anzupassen. Das ist nicht unverständlich. Es geht eigentlich um so ein paar Begriffe, wie "Ordinarius". Und ich glaube einfach, diese Flucht nach vorne, die ich anträte, wenn ich das jetzt erklärte oder ersetzte, das wäre ein schwerer Fehler, auch didaktisch oder pädagogisch. Bei Jugendliteratur finde ich, sollte man versuchen, die Jugendlichen dazu zu bringen, vielleicht sogar zu zwingen, sich zu strecken, nach oben hin, wo sie auch hingehören."
    Der Krieg und das Mädchen sind 470 Seiten Beschreibung eines verhängnisvollen Sommers ohne den Versuch einer Deutung, ein Lesevergnügen auch für Erwachsene.
    Jürgen Seidel: "Der Krieg und das Mädchen". Cbj Verlag, 470 Seiten. 16,99 Euro.