Fall Julia Ruhs
Hier geht es nicht um Meinungsvielfalt

Links, rechts, konservativ. Schnell werden Menschen in Schubladen gesteckt. Doch das nutzt weder der Gesellschaft noch dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Journalisten müssen das öffentliche Interesse über das eigene stellen.

Ein Kommentar von Kathrin Kühn |
Die Journalistin Julia Ruhs in im Studio der ARD-Talkshow "maischberger" am 13.05.2025.
Der NDR hat sich von der Journalistin und Moderatorin Julia Ruhs getrennt. Für den BR ist sie weiterhin tätig. (picture alliance / Geisler-Fotopress / Thomas Bartilla)
Das ging schnell. Der NDR trennt sich von einer Moderatorin und schwupps – gibt es eine Empörungswelle. Sogar die Unions-Ministerpräsidenten Markus Söder und Daniel Günther springen für Julia Ruhs in die Bresche. Der Vorwurf, obwohl Ruhs für den BR im Moderationsteam bleibt: Ihre Absetzung beim NDR gefährde die Meinungsfreiheit, konservative Stimmen würden unterdrückt. Ein Fall, der zeigt, wie gut Personalisierung und Inszenierung funktionieren.

Was heißt eigentlich "konservativ"?

Wer in eine Suchmaschine zum Beispiel "Julia Ruhs" und "konservativ" eingibt, der kommt gar nicht mehr nach mit dem Lesen. Porträtiert wird auch eine junge Journalistin, die auszog, um endlich die Meinungsvielfalt in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu bringen und mit diesem Label schnell hinaufgehoben wird auf den Sprossen der Karriereleiter.
So ein Narrativ ist problematisch, denn Meinungsfreiheit hängt auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht von einzelnen Personen ab. Und unter der Empörung stecken auch diese großen Fragen: Was heißt es eigentlich genau, „konservativ“ zu sein? Und: Passt unsere Sprache noch zu dem, was hier eingefordert wird?
Konservativ sein, das heißt auch, zu bewahren – und zwar nicht im Sinne von alles bleibt, wie es ist oder wie es früher war, sondern, wo sich etwas verändert, dies besonders zu hinterfragen. Und auch zu bremsen, wenn etwas zu schnell geht, Menschen überfordert.
Noch ein Beispiel: Nehmen wir den Klimaschutz, der oft als links geframt wird. Bei ihm geht es um das Bewahren von Natur und Umwelt, wie wir sie kennen, eine urkonservative Einstellung.

Wann ist man "links"?

Auch die Unterteilung in politisch links oder rechts passt bei genauerer Betrachtung selten pauschal. Sind die Grünen links? Mit Blick auf den Vermögensstand der Wählerschaft sind sie mit Sicherheit nicht für den Umsturz des Systems.
In der Bibel heißt es: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst. Ist also eine gläubige CDU-Wählerin, die für ein Miteinander und Nächstenliebe eintritt, links? Das pauschale Hantieren mit überholt besetzten Begriffen verhindert, die tatsächlichen Reibungspunkte zu benennen.

Gesellschaftlicher Wandel braucht Zeit

Die entstehen aktuell auch deshalb häufig, weil gesellschaftlicher Wandel zu schnell vorangeht. In der Soziologie ist neben Bildungs- und Einkommensklassen inzwischen auch von sozialen Geschwindigkeitsklassen die Rede. Menschen sind vor allem Gewohnheitstiere. Und gleichzeitig überfordern wir uns mit immer neuen Entwicklungen, die sich gegenseitig multiplizieren und neue Anforderungen an uns stellen.
Menschen brauchen Zeit für Wandel. Gesellschaften brauchen Zeit für Wandel. Das zu benennen wäre hilfreicher als den Kulturkampf nur noch weiter anzufeuern.
Stattdessen beginnt bei manchen Verantwortlichen der öffentlich-rechtlichen Sender plötzlich die Zählerei, welcher Moderator in welches politische Lager gehört. Eine Gesinnungsabfrage. Um es mal ganz klar auszusprechen.

Journalismus muss unabhängig sein

Journalisten einen politischen Stempel zu verpassen, widerspricht dem journalistischen Handwerk. Im Programmauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, aber auch im Pressekodex ist festgeschrieben: Niemand darf im eigenen Interesse arbeiten. Zitat aus dem Pressekodex: „Die Achtung von Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und eine wahrhaftigte Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote.“
Regeln, die Journalisten aus gutem Grund auferlegt wurden, weil – das zeigen Studien aus der Neuropsychologie – das menschliche Gehirn die eigene Perspektive gerne voranstellt und andere Perspektiven oft sogar übersieht. Diese Regeln gelten für jede und jeden, egal, wen man wählt. Daran muss sich jede Moderatorin, jedes journalistische Format, messen lassen. Und alle, längst nicht nur NDR und BR, täten gut daran, das immer wieder zu überprüfen, und zwar nicht erst, wenn Kritik kommt.