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Jung: Teilweiser NATO-Abzug aus dem Kosovo ist richtig

Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung hält einen schrittweisen NATO-Rückzug aus dem Kosovo für vertretbar. Inzwischen sei in dem Land eine eigene Sicherheitsstruktur gewachsen, sagte Jung. Die NATO-Verteidigungsminister hatten gestern beschlossen, die KFOR auf 10.000 Soldaten zum Jahresende zu reduzieren.

Franz Josef Jung im Gespräch mit Silvia Engels |
    Silvia Engels Die Entscheidung zur Truppenreduzierung im Kosovo fiel zu einem historischen Datum, denn heute vor zehn Jahren marschierte die KFOR ins Kosovo ein. Kurz zuvor war ein Abkommen über das Ende der Kämpfe und den Abzug der jugoslawischen Truppen getroffen worden. Der damalige Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping, SPD, kommentierte 1999 den Einsatzbeginn so:

    Rudolf Scharping: Es wird ein sehr gefährlicher Einsatz, man soll sich da nichts vormachen, die Präsenz der Bundeswehr und der internationalen Friedenstruppe, das wird eine lange Zeit, und wer in drei Jahren denkt, der denkt zu kurz. Bis auf der Grundlage von Gewaltfreiheit so etwas wie Versöhnung wachsen kann, da muss man sehr viel tun, da müssen schreckliche Erfahrungen verarbeitet werden. Frieden ist die schwierigere, aber auch die schönere und faszinierendere Aufgabe.

    Silvia Engels Rudolf Scharping hatte Recht, es wurde ein langer Einsatz und auch mit der Versöhnung ist das so eine Sache. Zehn Jahre später sind immer noch NATO-Truppen im Kosovo. Am Telefon ist nun Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung, guten Morgen, Herr Jung!

    Franz Josef Jung: Guten Morgen, Frau Engels.

    Silvia Engels Die Truppe im Kosovo wird deutlich kleiner werden. Ist es denn mittlerweile schon so ruhig geworden in der Krisenregion, dass das möglich ist?

    Jung: Na, man muss Folgendes feststellen: Erstens hat die KFOR einen wichtigen Beitrag geleistet zur Stabilisierung der Lage im Kosovo, wir haben aber mittlerweile auch ein Aufwachsen der zivilen Kräfte – das heißt, EULEX, Polizei und Rechtsstaatsmission – auf 2500 Kräfte. Ferner bilden wir die Kosovo Security Force aus, also eine eigene Sicherheitsstruktur für den Kosovo. Wir rechnen damit, dass bis Ende September, also bis Herbst, auf jeden Fall diese Truppe mit 2500 Kräften auch ausgebildet ist, sodass es dann auch eine eigene Struktur gibt und wir einen schrittweisen Übergang insofern verantworten können. Das hat also nichts damit zu tun, dass es hier um Angst geht, dass Einzelne abziehen, sondern wir sind gemeinsam in den Kosovo gegangen und wir gehen auch gemeinsam wieder heraus, aber in einer stufenweisen Verantwortung nach der Lageentwicklung im Kosovo, denn wir wollen nicht das gefährden, was wir innerhalb dieser zehn Jahre positiv aufgebaut haben.

    Silvia Engels Vor fünf Jahren hatte man ja erlebt, dass es im serbisch dominierten Norden Ausschreitungen gab, auch als man hoffte, man könne dort die Truppen etwas zurückführen. Was macht Sie so sicher, dass das dieses Mal nicht geschieht?

    Jung: Erstens, dass wir hier eine zivile, durch die Europäische Union aufgestellte EULEX-Mission haben, also Polizei und Rechtsstaatsmission, die auch gut mittlerweile im Kosovo arbeitet – ich habe gestern mit dem serbischen Verteidigungsminister beispielsweise ein Gespräch gehabt, um auch diese Frage noch einmal abzuklären, denn es ist ganz wichtig, dass auch Serbien hier mit diese Situation verantwortet –, und zweitens, dass wir auch jetzt eigene Kräfte ausbilden im Kosovo, das heißt, damit eine eigene Sicherheitsstruktur im Kosovo haben, wie gesagt, 2500 Kräfte, und das ist genau der Punkt, der sich erheblich unterscheidet zur Situation vor fünf Jahren.

    Silvia Engels Herr Jung, Sie haben es schon angesprochen – es geht nicht darum, einem Abbröckeln des Engagements entgegenzuwirken, aber einige Nationen haben ja schon ihren Abzug angekündigt, beispielsweise die Spanier. Sind am Ende die Deutschen die Letzten, die übrigbleiben?

    Jung: Nein, das wird nicht der Fall sein, und wir haben genau gestern noch einmal sehr klar und deutlich unterstrichen: Wir haben gemeinsame Verantwortung vonseiten der NATO für den Kosovo übernommen und deshalb haben wir auch gemeinsame Beschlüsse zu fassen, wie jetzt die nächste Stufe, das heißt, der abschreckenden Präsenz, umgesetzt wird. Es werden ja Ende des Jahres dann auf jeden Fall noch 10.000 Kräfte auch im Kosovo sein, und wir werden danach zu entscheiden haben – und das wird dann aber eine weitere politische Entscheidung sein –, wie die nächsten Stufen eingeleitet werden. Das hängt dann sehr konkret von der Lageentwicklung ab. Und auch andere Kollegen haben noch einmal sehr deutlich unterstrichen, dass wir hier eine gemeinsame Verantwortung für den Kosovo auch in Zukunft haben.

    Silvia Engels Wie viele deutsche Soldaten werden denn im ersten Schritt abziehen?

    Jung: Das muss jetzt im Einzelnen ausgeplant werden. Ich habe gestern deutlich gemacht – wir haben ja noch das stärkste Kontingent mit 2200 Soldaten im Kosovo –, dass wir hier eine adäquate Beteiligung sehen, das heißt, dass hier im Verhältnis zur Gesamtzahl auch dann deutsche Truppen zurückkommen können nach Deutschland.

    Silvia Engels Herr Jung, hängt denn dieser Rückzug aus dem Kosovo nun auch damit zusammen, dass Sie die Soldaten an anderen Krisenherden brauchen, vor allem in Afghanistan?

    Jung: Nein, das ist nicht der Fall. Wir haben eine klare Struktur, auch in der Perspektive, in welcher Anzahl wir die Auslandseinsätze unterstützen wollen. Sie wissen, dass wir in Afghanistan eine Obergrenze im Mandat haben von 4500 Kräften. Wir haben jetzt aktuell 3700 Kräfte vor Ort. Aber wir werden jetzt diese Zahl um 600 Kräfte verstärken, weil wir erstens in etwa 200 vorsehen für die Absicherung der Präsidentschaftswahlen in Afghanistan, die am 20. August sein werden; weil wir die Quick Reaction Force, also die schnelle Einsatztruppe in Afghanistan verstärken wollen, auch und gerade im Hinblick auf die Verschärfung der Sicherheitslage – Sie müssen bedenken: Im Norden, wo wir Verantwortung haben, von West nach Ost sind das 1200 Kilometer –, und drittens wollen wir auch unsere Ausbildung verstärken, die Ausbildung der afghanischen Kräfte, das heißt konkret, der Streitkräfte. Aber wir bilden ja auch noch mit Polizei aus, so dass wir also hier auch im Hinblick auf die künftige Sicherheitsstruktur Afghanistans einen zusätzlichen Beitrag leisten wollen.

    Silvia Engels Sie haben auch US-Verteidigungsminister Gates am Rande des NATO-Treffens getroffen zu separaten Gesprächen. Wissen Sie nun genauer, wie eine veränderte Strategie der US-Amerikaner in Afghanistan und ja auch in Pakistan aussieht?

    Jung: Ja, das weiß ich sehr genau und ich muss sagen: Das war ein sehr freundschaftliches und sehr gutes Gespräch. Bob Gates hat noch einmal klar und deutlich unterstrichen, dass jetzt auch die neue Strategie – auch in der neuen, militärischen Verantwortung – doch auch mehr den Aspekt, wie wir es nennen, der vernetzenden Sicherheit im Blick hat, oder in der NATO-Sprache: das "comprehensive approach", weil wir gemeinsam der Überzeugung sind, dass wir allein militärisch auf Dauer in Afghanistan nicht erfolgreich sein werden, sondern dass wir sowohl militärische Sicherheit brauchen, aber auch Wiederaufbau und Entwicklung, dass die Menschen spüren, dass auch etwas für sie vorangeht, dass wir hier das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen und dass wir die Ausbildung verstärken in Hinblick auf die künftigen afghanischen Sicherheitsstrukturen, denn unser Ziel ist ja, dass Afghanistan dann am Ende des Tages selbst in der Lage ist, für seine Sicherheit zu sorgen.

    Silvia Engels Verlangt denn der US-Verteidigungsminister mehr deutsche Soldaten als das Kontingent es vorsieht?

    Jung: Nein, das hat er gestern eindeutig nicht, sondern er hat im Klartext sehr, sehr positiv hervorgehoben, das deutsche Engagement ... Sie müssen wissen, wir sind der drittstärkste Truppensteller in Afghanistan, wir haben jetzt noch einmal auch unser ziviles Engagement erheblich verstärkt von 80 Millionen Euro auf 170 Millionen Euro, wir haben die Ausbildungskomponenten verstärkt, auch im Bereich der Ausbildung der Polizei, und das wurde sehr positiv von dem amerikanischen Kollegen Bob Gates zur Kenntnis genommen.

    Silvia Engels Ein weiterer Punkt auf der Agenda Ihrer NATO-Kollegen betrifft den Kampf gegen Piraten vor der somalischen Küste. Die NATO erwägt, den eigenen Einsatz dort auszuweiten, einen EU-Einsatz gibt es ja schon. Wie sinnvoll ist das?

    Jung: Darüber haben wir auch jetzt im Grunde Übereinstimmungen erzielt, das heißt im Klartext, dass die NATO hier einen weiteren Unterstützungsbeitrag leistet. Die Europäische Operation "Atalanta" ist erfolgreich – Sie wissen, wir haben 200.000 Tonnen Lebensmittel sicher in die Häfen verbracht, 180 Handelsschiffe sicher begleitet, 24 Piratenangriffe abgewehrt und auch 70 Piraten festgenommen –, aber es geht jetzt darum, dass das Seegebiet, das zurzeit 3,5 Millionen Quadratkilometer umfasst, erweitert wird auf insgesamt 5 Millionen Quadratkilometer, weil die Piraten sich bis weit in den Indischen Ozean ausbreiten, auch um das Gebiet der Seychellen. Und hier ist eine Unterstützung der NATO sinnvoll. Wir haben jetzt in der Grundtendenz Übereinstimmungen, dass diese Standing NATO Maritime Group, also diese Übungseinheit der NATO, dass die jetzt in Zukunft dann auch im Hinblick auf die Piratenbekämpfung Unterstützung leisten soll.

    Silvia Engels Heißt das: mehr Bundeswehrsoldaten auch in diesen Krisenbereich?

    Jung: Wir werden auch in dieser Standing NATO Maritime Group engagiert sein, aber Sie wissen, wir haben hier ein Mandat in der Obergrenze bis zu 1400 Soldatinnen und Soldaten, und diese Obergrenze werden wir einhalten.

    Silvia Engels Verteidigungsminister Jung im Gespräch mit dem Deutschlandfunk, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit dafür genommen haben!