Mario Dobovisek: Eine Volksabstimmung also. Diese Idee geistert bereits seit Wochen durch das politische Berlin, zuletzt von FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle und CSU-Chef Horst Seehofer für gut befunden. Am Telefon begrüße ich den Politikwissenschaftler Otmar Jung, an der Freien Universität in Berlin lehrt und erforscht er direkte Demokratie. Guten Morgen, Herr Jung!
Otmar Jung: Guten Morgen!
Dobovisek: Das klingt ja alles recht einfach, Herr Jung: Das Volk soll befragt werden, in welche Richtung sich die EU künftig entwickeln darf. Wie müsste denn eine solche Frage formuliert sein, die mit einem Referendum über ein so komplexes Gebilde wie die EU ihren Weg zu den Befragten findet?
Jung: Das kommt darauf an. Es ist ja nicht eindeutig, was Herr Brüderle und die anderen Politiker meinen. Es gibt zwei Interpretationsmöglichkeiten: Entweder sie denken wirklich an eine neue deutsche Verfassung, die ist im Artikel 146 des Grundgesetzes vorgesehen, sie soll das Volksbegehren, Volksentscheid enthalten und sollte durch ein Referendum angenommen werden. Und jetzt eine Etage höher: Auf der europäischen Ebene ein Schritt Richtung europäischer Bundesstaat, eine neue Verfassung. Auch die könnte man durch Referendum annehmen. Das Problem ist nur: Das sind doch beides langfristige, wohl zu überlegende Projekte, die eigentlich in die aktuelle Finanzkrise gar nicht hineinpassen. Das sind Projekte, die in einigen Jahren zum Abschluss kämen.
Dobovisek: Also reiner politischer Aktionismus?
Jung: Ich befürchte, dass ein anderes Szenario uns bevorsteht, dass wir in einigen Monaten die Frage vorgelegt bekommen: Soll der Euro als europäische Gemeinschaftswährung mit aller Kraft gestützt werden, ja oder nein. Und das wäre dann ein Ad-hoc-Plebiszit, das wäre der Versuch, das vorausgeahnte negative Urteil des Bundesverfassungsgerichts plebiszitär zu überspielen. Dazu sollte man nicht die Hand reichen.
Dobovisek: Aber wie wäre solch eine Volksabstimmung auf Bundesebene durch das Grundgesetz, ja, gesichert? Sie haben ja selber gesagt, 146, Artikel 146 sieht das nur vor, wenn das Grundgesetz durch eine Verfassung ersetzt würde.
Jung: Ja, wenn man das unter dem Grundgesetz machen wollte, müsste man den Artikel 20, der ja Wahlen und Abstimmungen grundsätzlich vorsieht, aktualisieren. Das heißt, man müsste das Grundgesetz entsprechend ergänzen. Aber ob eine Ergänzung des Grundgesetzes ausreicht für einen solchen Fall, dass wirklich substanziell Souveränitätsrechte nach Brüssel übertragen werden, oder ob das nicht der Fall einer neuen Verfassung wäre, das ist noch der Punkt.
Dobovisek: Und damit stünden wir vor der Frage einer Diskussion, die möglicherweise Jahre oder sogar Jahrzehnte dauern könnte?
Jung: Grundsätzlich ist das nicht für die aktuelle Finanzkrise als Instrumentarium geeignet, es sei denn, wie ich schon sagte, man baut das auf als Gegenschachzug gegen ein Urteil aus Karlsruhe.
Dobovisek: Was, denken Sie, steckt hinter diesem Vorstoß der genannten Politiker? Sie sprechen von einem Schachzug, ich habe vorhin Aktionismus genannt. Was ist das kurzfristige Ziel dessen?
Jung: Also, ganz kurzfristig ist es vermutlich – da will ich den Leuten kein Unrecht tun –, ich argwöhne, dass man Druck auf die Richter in Karlsruhe ausüben will, die ja noch der Beratung sind, indem man schon einmal winkt mit dieser Möglichkeit. Dann, in einer etwas weiteren Perspektive, ein plebiszitäres Überspielen, wie ich sagte. Ansonsten: Eine langfristige Diskussion über eine neue Verfassung oder eine neue … für Deutschland oder für Europa jetzt anzustoßen, würde ich für zeitlich vollkommen verfehlt halten.
Dobovisek: Wäre eine solche Debatte aber insgesamt wünschenswert?
Jung: Selbstverständlich! Ich bitte Sie, das Grundgesetz ist doch wirklich über 50 Jahre alt, in einer ganz anderen Zeit entstanden, mannigfach geändert worden. Das Grundgesetz hat sich selbst als provisorisch betrachtet. Das heißt, hier eine neue Verfassung nicht noch unter dem Eindruck des Weltkriegs und unter der Teilung zu entwerfen, das wäre ja schon nach der Wiedervereinigung angezeigt gewesen. Selbstverständlich hätte Deutschland eine neu konzipierte, eine moderne Verfassung nötig. Das jetzt in die Finanzkrise hinein vorzuschlagen, das ist nichts Gutes.
Dobovisek: Wird eine neue Verfassung, die nötig sei, wie Sie sagen, würde die auch direkt-demokratische oder mehr direkt-demokratische Elemente enthalten müssen?
Jung: Sie sollte sie enthalten. Sehen Sie, man hat 1948, 49 im Kalten Krieg davon abgesehen, plebiszitäre Elemente aufzunehmen ins Grundgesetz. Mittlerweile haben wir in allen 16 Bundesländern, auf Landesebene also, Volksbegehren und Volksentscheid, wir haben in allen Kommunalverfassungen Bürgerbegehren und Bürgerentscheid. Also, dieser Trend zu einer Mitsprache, zu mehr Partizipation, ist ganz deutlich, lässt sich auch gut erklären, wie das kommt. Und insofern sollte eine moderne, neue deutsche Verfassung auch diesen Trend aufnehmen.
Dobovisek: Nun sagt das Volk ja nicht immer das, was die Regierenden gerne hören wollen. Ist denn die Bundespolitik Ihrem Eindruck nach bereit für eine solche Diskussion?
Jung: Das wäre natürlich das Wunschbild, dass die Leute das sagen, was die Politiker wollen, und dann hätten wir schon längst den Volksentscheid. Nein, das ist natürlich ein Risiko, dass die Leute anders entscheiden. Und dieses Risiko scheut die Politik und deswegen tut sie sich – jedenfalls im Bund – so schwer. In den Ländern hat sie sich ja überwunden und hat gemischte Erfahrungen gemacht. Es gibt, ja, Landesregierungen, die Niederlagen einstecken mussten, Landesregierungen, die bestätigt wurden. Aber man sollte jetzt nicht konkret von der einzelnen Entscheidung ausgehen, sondern sagen: Grundsätzlich, langfristig, 21. Jahrhundert, sollte man von der rein repräsentativen Demokratie hinwegkommen und sie durch direkt-demokratische Elemente anreichern.
Dobovisek: Otmar Jung, Politikwissenschaftler an der freien Universität Berlin, zu einem möglichen und viel diskutierten Referendum über die Zukunft Europas. Ich danke Ihnen!
Jung: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Otmar Jung: Guten Morgen!
Dobovisek: Das klingt ja alles recht einfach, Herr Jung: Das Volk soll befragt werden, in welche Richtung sich die EU künftig entwickeln darf. Wie müsste denn eine solche Frage formuliert sein, die mit einem Referendum über ein so komplexes Gebilde wie die EU ihren Weg zu den Befragten findet?
Jung: Das kommt darauf an. Es ist ja nicht eindeutig, was Herr Brüderle und die anderen Politiker meinen. Es gibt zwei Interpretationsmöglichkeiten: Entweder sie denken wirklich an eine neue deutsche Verfassung, die ist im Artikel 146 des Grundgesetzes vorgesehen, sie soll das Volksbegehren, Volksentscheid enthalten und sollte durch ein Referendum angenommen werden. Und jetzt eine Etage höher: Auf der europäischen Ebene ein Schritt Richtung europäischer Bundesstaat, eine neue Verfassung. Auch die könnte man durch Referendum annehmen. Das Problem ist nur: Das sind doch beides langfristige, wohl zu überlegende Projekte, die eigentlich in die aktuelle Finanzkrise gar nicht hineinpassen. Das sind Projekte, die in einigen Jahren zum Abschluss kämen.
Dobovisek: Also reiner politischer Aktionismus?
Jung: Ich befürchte, dass ein anderes Szenario uns bevorsteht, dass wir in einigen Monaten die Frage vorgelegt bekommen: Soll der Euro als europäische Gemeinschaftswährung mit aller Kraft gestützt werden, ja oder nein. Und das wäre dann ein Ad-hoc-Plebiszit, das wäre der Versuch, das vorausgeahnte negative Urteil des Bundesverfassungsgerichts plebiszitär zu überspielen. Dazu sollte man nicht die Hand reichen.
Dobovisek: Aber wie wäre solch eine Volksabstimmung auf Bundesebene durch das Grundgesetz, ja, gesichert? Sie haben ja selber gesagt, 146, Artikel 146 sieht das nur vor, wenn das Grundgesetz durch eine Verfassung ersetzt würde.
Jung: Ja, wenn man das unter dem Grundgesetz machen wollte, müsste man den Artikel 20, der ja Wahlen und Abstimmungen grundsätzlich vorsieht, aktualisieren. Das heißt, man müsste das Grundgesetz entsprechend ergänzen. Aber ob eine Ergänzung des Grundgesetzes ausreicht für einen solchen Fall, dass wirklich substanziell Souveränitätsrechte nach Brüssel übertragen werden, oder ob das nicht der Fall einer neuen Verfassung wäre, das ist noch der Punkt.
Dobovisek: Und damit stünden wir vor der Frage einer Diskussion, die möglicherweise Jahre oder sogar Jahrzehnte dauern könnte?
Jung: Grundsätzlich ist das nicht für die aktuelle Finanzkrise als Instrumentarium geeignet, es sei denn, wie ich schon sagte, man baut das auf als Gegenschachzug gegen ein Urteil aus Karlsruhe.
Dobovisek: Was, denken Sie, steckt hinter diesem Vorstoß der genannten Politiker? Sie sprechen von einem Schachzug, ich habe vorhin Aktionismus genannt. Was ist das kurzfristige Ziel dessen?
Jung: Also, ganz kurzfristig ist es vermutlich – da will ich den Leuten kein Unrecht tun –, ich argwöhne, dass man Druck auf die Richter in Karlsruhe ausüben will, die ja noch der Beratung sind, indem man schon einmal winkt mit dieser Möglichkeit. Dann, in einer etwas weiteren Perspektive, ein plebiszitäres Überspielen, wie ich sagte. Ansonsten: Eine langfristige Diskussion über eine neue Verfassung oder eine neue … für Deutschland oder für Europa jetzt anzustoßen, würde ich für zeitlich vollkommen verfehlt halten.
Dobovisek: Wäre eine solche Debatte aber insgesamt wünschenswert?
Jung: Selbstverständlich! Ich bitte Sie, das Grundgesetz ist doch wirklich über 50 Jahre alt, in einer ganz anderen Zeit entstanden, mannigfach geändert worden. Das Grundgesetz hat sich selbst als provisorisch betrachtet. Das heißt, hier eine neue Verfassung nicht noch unter dem Eindruck des Weltkriegs und unter der Teilung zu entwerfen, das wäre ja schon nach der Wiedervereinigung angezeigt gewesen. Selbstverständlich hätte Deutschland eine neu konzipierte, eine moderne Verfassung nötig. Das jetzt in die Finanzkrise hinein vorzuschlagen, das ist nichts Gutes.
Dobovisek: Wird eine neue Verfassung, die nötig sei, wie Sie sagen, würde die auch direkt-demokratische oder mehr direkt-demokratische Elemente enthalten müssen?
Jung: Sie sollte sie enthalten. Sehen Sie, man hat 1948, 49 im Kalten Krieg davon abgesehen, plebiszitäre Elemente aufzunehmen ins Grundgesetz. Mittlerweile haben wir in allen 16 Bundesländern, auf Landesebene also, Volksbegehren und Volksentscheid, wir haben in allen Kommunalverfassungen Bürgerbegehren und Bürgerentscheid. Also, dieser Trend zu einer Mitsprache, zu mehr Partizipation, ist ganz deutlich, lässt sich auch gut erklären, wie das kommt. Und insofern sollte eine moderne, neue deutsche Verfassung auch diesen Trend aufnehmen.
Dobovisek: Nun sagt das Volk ja nicht immer das, was die Regierenden gerne hören wollen. Ist denn die Bundespolitik Ihrem Eindruck nach bereit für eine solche Diskussion?
Jung: Das wäre natürlich das Wunschbild, dass die Leute das sagen, was die Politiker wollen, und dann hätten wir schon längst den Volksentscheid. Nein, das ist natürlich ein Risiko, dass die Leute anders entscheiden. Und dieses Risiko scheut die Politik und deswegen tut sie sich – jedenfalls im Bund – so schwer. In den Ländern hat sie sich ja überwunden und hat gemischte Erfahrungen gemacht. Es gibt, ja, Landesregierungen, die Niederlagen einstecken mussten, Landesregierungen, die bestätigt wurden. Aber man sollte jetzt nicht konkret von der einzelnen Entscheidung ausgehen, sondern sagen: Grundsätzlich, langfristig, 21. Jahrhundert, sollte man von der rein repräsentativen Demokratie hinwegkommen und sie durch direkt-demokratische Elemente anreichern.
Dobovisek: Otmar Jung, Politikwissenschaftler an der freien Universität Berlin, zu einem möglichen und viel diskutierten Referendum über die Zukunft Europas. Ich danke Ihnen!
Jung: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.