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Junge polnische Prosa
Präzise Alltagsbeobachtung mit fantastischen Ausschweifungen

Justyna Bargielska ist eine begabte Vertreterin der jungen polnischen Literatur. Mal wird man von der Tristesse ergriffen, die das Leben ihrer Protagonistinnen umgibt, mal mag man nur noch darüber lachen. Man muss diese mitunter miniaturhafte Prosa genau lesen, manchmal sogar zurückblättern, um keine Anspielung, keine Pointe zu verpassen.

Von Martin Sander | 15.05.2015
    Es ist etliche Jahre her, da trieb in Warschau ein Messerstecher namens Pajda sein Unwesen. Nach zahlreichen Diebstählen und brutalen Überfällen nahm die Polizei den damals Zwanzigjährigen im Wald von Białołęka fest, einem östlichen Außenbezirk der polnischen Hauptstadt. An wechselnden Plätzen im Wald lebte der obdachlose Gewalttäter in einem Zelt - gemeinsam mit einer jungen Frau und deren zwei kleinen Kindern. Mit einem dritten, das Pajda gezeugt hatte, war sie gerade schwanger. So berichtete es die Lokalpresse.
    Die 1977 in Warschau geborene Justyna Bargielska hat dieser Ausschnitt aus der Kriminalchronik zu einem schmalen Prosaband inspiriert, der 2013 in Polen erschien und nun auch auf Deutsch vorliegt. Bargielskas Pajda, auf Deutsch: Stulle, bildet den Dreh- und Angelpunkt der zehn Kapitel umfassenden Erzählung. Gleichwohl verbirgt er sich stets im Hintergrund. In den Vordergrund rückt die Autorin Aga und Magda, zwei junge Frauen, Nachbarinnen in einer Neubausiedlung von Białołęka. Beide Frauen suchen unabhängig voneinander Sexabenteuer mit Stulle, um so aus ihrem Alltag auszubrechen.
    "Hey Mädels, hattet ihr mal was mit einem Gangster aus dem Wald?
    Denn ich schon, Mädels.
    Aber heute ist erst mal der Dienstag, bevor alles anfing, und ich bin immer noch Laborforscherin und Stiftungsvolontärin. Forschontärin. (...) Nicht ausgeschlossen, dass ich irgendeinen Sport machen sollte. Wenn ich irgendwas Kontroverses lese, muss ich nämlich meinen Zustand zunehmend als psychosomatisch bezeichnen: Dann zittern mir die Knie oder die Hände oder mein ganzes kritisches Selbst wird erschüttert."
    So stellt sich Aga vor, alleinstehend, intellektuell, eine Tagträumerin, der die Liebe - wie sie sagt - auf bestimmte Zeit abhanden gekommen ist. Sie hatte einmal einen Freund. Doch der war verheiratet. Außerdem kam er bei einem Autounfall ums Leben. Ihr Westie-Hund führt Aga immer wieder in den Wald und hilft so, die Beziehung zum Gangster zu knüpfen. Auch für Magda, die mit Aga kapitelweise im Wechsel erzählt, bahnt ein Vierbeiner den Weg zur Affäre im Waldlager. Magda war Journalistin. Nicht allein der schlechten Bezahlung wegen hat sie sich für diesen Beruf nie wirklich begeistert - und ihn willig gegen traditionelles Familienmanagement eingetauscht. Ihr Ehemann ist ein gefühlsarmer Typ, meist in Arbeit versunken. Für den Fall der Geburt eines von seiner Frau erwünschten dritten Kindes droht er mit Selbstmord. Die Anschaffung des Setters Jim kann er gerade noch verkraften. Magda hat mit depressiven Stimmungen zu kämpfen. Mitunter gleitet sie aus ihrer äußerlich komfortablen und doch zugleich öden familiären Lage in makabre Fantasien ab.
    "Manchmal liebe ich meine Kinder so sehr, dass ich ihnen geradezu durch den Wannenabfluss entrinnen könnte. Klara hüpfte auf einem Bein vor Angst, das abfließende Wasser könnte sie mit sich ziehen. "Ich lasse mich da manchmal mitziehen, wisst ihr", sagte ich. "So mache ich Reisen."
    (...) "Wodenn", fragte Klimek, "hin?" Klara übernahm seine schadhafte Syntax. "Wodenn hin?", fragte sie.
    Justyna Bargielska schreibt in einem der mündlichen Rede verwandten, oft schnoddrigen Stil. Dabei vermischt sie präzise Alltagsbeobachtung mit fantastischen Ausschweifungen. Die schnöde Wirklichkeit weitet sich bei Bargielska ins Surreale; Obszönitäten kommen ganz und gar skurril daher. So vertieft sich Aga, während sie von einer redseligen Witwe im Zugabteil beansprucht wird, in eigene Gedanken von sonderbarer Logik.
    "Das Abteil war voll, es war einer dieser "Tour de Pologne et d'autour de Pologne"-Züge, an die niemand glaubt, aber unter deren Räder so viele kommen, von Białystok über Warschau und Stettin nach Ölmütz und auch Berlin, ohne Platzreservierung und Zugrestaurant, und im Waschbecken in der Toilette lagen zwei vertrocknete Blätter, eines braun und eins schmuddelgrün.(...) Das Zugteam in diesen Zügen wird gemäß der Zugvorschriften alle vier Stunden unmerklich gegen ein anderes genau gleiches Zugteam ausgetauscht, das sich vom früheren nur immanent unterscheidet, was in der Praxis bedeutet, dass du, wenn du dem Schaffner einen bläst, damit er dich schwarzfahren lässt, in spätestens drei Stunden und siebenundfünfzig Minuten dem nächsten genau gleichen Schaffner genauso einen blassen musst, wobei der sich von dem früher Geblasenen nur darin unterscheidet, dass er sich als Mitglied des späteren Zugteams nicht an das frühere Blasen erinnert. Wenn also nicht die Erinnerung die Identität ausmacht, dann was? Der Papst hatte recht.
    Leider hat er in keiner Enzyklika geschrieben, dass es für die Wirbelsäule besser ist, sich eine Fahrkarte zu kaufen."
    Erst auf den letzten Seiten dieses Buches bringt Bargielska ihre beiden Heldinnen, die sich vorher nur flüchtig begegneten, schicksalsträchtig zusammen. Aga entdeckt die depressive Magda samt ihren beiden kleinen Kindern, vollgepumpt mit Tabletten vor dem verschneiten Lager des Gangsters. Sie kann den Selbstmordplan vereiteln. Stulle, der nur äußerst selten auf den Plan tritt, bleibt auch hier außen vor.
    Justyna Bargielska ist eine ungewöhnliche Stilistin und begabte Vertreterin der jungen polnischen Literatur. Mal wird man von der Tristesse, die das Leben ihrer Frauen umgibt, ergriffen, mal mag man nur noch darüber lachen. Man muss diese knappe, mitunter miniaturhafte Prosa - in der gelungenen Übersetzung von Lisa Palmes - genau lesen, manchmal sogar zurückblättern, um keine Anspielung, keine Pointe zu verpassen: ein Aufwand, der sich lohnt - allemal.
    Justyna Bargielska, Kleine Füchse, Erzählung, Aus dem Polnischen von Lisa Palmes, Klak Verlag Berlin, 134 Seiten, 12,90 Euro.