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Jura an historischem Ort
Angriff und Verteidigung im Saal 600

Argumentieren, widerlegen, insistieren - die Praxis als Anwalt im täglichen Gerichtsbetrieb lernen Studierende nicht allein durch Vorlesungen oder Seminare. Lehrreich sind auch fiktive Gerichtsverhandlungen. Das gilt vor allem, wenn sie an einem historischen Ort wie dem Saal 600 stattfinden, dem Schauplatz der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse.

Von Susanne Lettenbauer | 03.08.2015
    Die Richterbank im Saal 600, dem Gerichtssaal im Prozess gegen NS-Kriegsverbrecher 1945-1949
    Die Richterbank im Saal 600, dem Gerichtssaal der Nürnberger NS-Kriegsverbrecherprozesse. (Imago)
    Babylonisches Sprachengewirr im historischen Saal der Nürnberger Prozesse. 18 Studententeams aus aller Welt sitzen auf den alten Holzbänken. Tuscheln leise. Hier, wo 1945 zum ersten Mal ein internationaler Militärgerichtshof über die Verbrechen an der Menschheit urteilte, hier am Geburtsort der internationalen Völkerstrafgerichtsbarkeit ein Verfahren zu führen, wenn auch nur ein fiktives, ist für alle ein unglaubliches Erlebnis:
    "Ich heiße Winie Chemutai von den Strathmore University Kenia. Für uns ist es ziemlich unglaublich, diesen Ort zu sehen, ich habe mir vorher Filme angeschaut und viel darüber gelesen, es ist ein absolutes Privileg hier dabei sein zu dürfen."
    "Ich habe sehr viel hierüber gelesen und geschrieben, jetzt den Ort mit eigenen Augen zu sehen, ist sehr beeindruckend, vor allem mit so vielen Studierenden aus aller Welt - absolut faszinierend."
    "Das ist hier eine hervorragende Möglichkeit, Jurastudierende aus aller Welt kennenzulernen und vor allem im Saal 600 diese Atmosphäre zu spüren und sich mit anderen Studierenden zu messen."
    Winnie Chemutai von der Strathmore Universität Kenia, Maria Rudko von der Kiewer Mohyla-Akademie und Victoria Campell aus dem britischen Durham.
    Vor sechs Wochen bekamen die 18 Teams aus je drei Studierenden den Fall zum ersten Mal vorgelegt. Im fiktiven Land Arkania hat sich eine Regierungsvertreterin namens Ms. Minsa angeblich Menschenrechtsverletzungen zuschulden kommen lassen. Ein kniffliger Fall, wie das Team Ruanda in der Anklagesituation gegenüber den Verteidiger vom Team England betont.
    Der Andrang, am Nürnberger Moot Court teilzunehmen, sei enorm groß, sagt Michaela Lissowsky von der Akademie Nürnberger Prinzipien. Die Mehrzahl der Plätze reserviere sie daher grundsätzlich für Teams aus Krisengebieten: "Wir haben wirklich vonseiten der Akademie einen starken Focus gelegt auf Studierende, die aus sogenannten Situationsländern kommen. Das sind Situationsländer, in denen aktuell der Internationale Strafgerichtshof Fälle hat oder Untersuchungen laufen hat wie beispielsweise Ukraine oder Libyen. Diese Studierenden haben wir gefördert mit einem Vollstipendium, ihnen die Möglichkeit gegeben, nach Nürnberg zu kommen. Also, das ist der Hauptfokus der Akademie überhaupt in unserer Tätigkeit."
    Während die Studierendenteams abwechselnd Verteidigung und Anklage übernehmen, sitzen auf den Richterstühlen echte Anwälte, Juraprofessoren oder renommierte Richter wie Wolfgang Schomburg. Schomburg war von 2001 bis 2008 der erste deutsche Richter am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. Heute ist er Richter am Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda in Arusha, Tansania.
    Ausgerechnet hier im Nürnberger Saal 600 den jungen Nachwuchsanwälten aus Ruanda, Kenia oder der Ukraine ein Gefühl für Gerechtigkeit mitgeben zu können, das sei für ihn und seine Kollegen eine Herausforderung, so Schomburg: "Von daher ist es nicht nur für die Studenten, sondern auch für uns, die wir hier als Richter auftreten dürfen, auch etwas Besonderes. Es ist ein großer Unterschied zu dem Auftreten in Den Haag oder Arusha, wie ich es früher erlebt habe, beim Ruanda- oder Jugoslawien-Tribunal. Hier ist doch wirklich die Quelle, wo wir auch in unserer Rechtsprechung draus geschöpft haben, was damals die Richter entschieden haben."
    Zwei Tage lang disputierten die Teams im Saal 600. Am Samstagnachmittag um 17 Uhr dann das Urteil: Die ruandischen Studierenden mussten sich im Viertelfinale dem ukrainischen Team geschlagen geben. Gewonnen hat letztlich das niederländische Team aus Maastricht vor Kiew. Welche Auswirkungen der Sieg hat, wird sich jetzt zeigen.
    Im vergangenen Jahr durften die Gewinner hinterher ein Praktikum in Den Haag absolvieren.