DLF: Es hat ja auch schon zuvor Glaubensstreitereien gegeben, Häresien und Spaltungen, zum Beispiel Monophysitismus, da ging es um die Gestalt Jesu, oder Nestorianismus - welche Rolle hat die Gottesmutter inne? Sehen Sie in diesen Konflikten eine List der Geschichte, immer wieder daran zu erinnern, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt, denn heute würde diese Frage ja kaum einen Menschen mehr kümmern, oder verbergen sich dahinter vielleicht auch ganz andere Strukturen, gesellschaftliche, soziale oder auch nationalistische, denn im Briefwechsel der Reformatoren beispielsweise erscheint ja durchaus eine Abneigung gegen die ‚Walen', also die Italiener?
Käßmann: Es ist auf jeden Fall so, dass die Frage ‚Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?', wie Luther sie gestellt hat, für viele Menschen sicher heute so nicht zu stellen wäre. Aber ich denke, dass die theologischen Auseinandersetzungen ‚Wie wird der Mensch vor Gott gerecht' schon eine ist, die die Menschen umtreibt, wenn wir sie übersetzen in die Frage unserer Zeit, nämlich: ‚Kann ich irgendetwas durch Leistung, durch mein eigenes Tun, erlangen - sei es denn ewiges Heil oder anderes?' Das treibt Menschen schon um, und in unserer Zeit ist es sicher so, dass Anerkennung des Einzelnen sehr stark über Leistung, Konsum und ähnliches erfolgt. Und wenn wir als reformatorische Kirchen dazu sagen: ‚Vor Gott bist Du - so wie Du bist, oder obwohl Du bist wie Du bist - erst einmal angenommen, unabhängig von dem, was Du tust und Deinen Werken, durch die Du etwas erlangen kannst' -, dann ist das - finde ich - schon eine relativ revolutionäre Ansage in so einer Zeit, die so auf Leistung geprägt ist.
DLF: Aber gerade deswegen, wenn man sich auf das Rechtfertigungsdogma oder die Dogmen bezieht, dass gute Werke nicht schaden - andererseits, wer gute Werke tut, von der Gnade vielleicht bereits berührt ist, diese Einsicht liegt doch jedem nahe, der - ob er nun von eine persönlichen Gott ausgeht oder Gott als Chiffre versteht - wohl kaum Zweifel daran hat, dass Gott ganz sicher kein Bürokrat ist. Hat die Rechtfertigungsproblematik ihre Brisanz verloren, weil man sie heute auch unent-schieden lassen könnte?
Käßmann: Ich sehe es nicht so, dass sie unentschieden gelassen werden kann, sondern denke, gerade die Freiheit eines Christenmenschen, von der Martin Luther spricht, ist diejenige, die mich frei macht von dieser Leistungsorientierung und zunächst mir mit dieser Lebenszusage Gottes die Freiheit gibt, auch zu handeln in dieser Welt. Das ist dann natürlich die Konsequenz. Es ist ja nicht so, dass die lutherischen Kirchen ohne die Werke leben würden, sondern sie sehen sie als Konsequenz dieser Befreiungstat der Rechtfertigung, die immer vorausgeht.
DLF: Nun wurde die Kirchenspaltung auch zu Anfang der ökumenischen Bewegung beklagt. Läßt sich aber nicht doch im Rückblick vielleicht von einer ‚List der Geschichte' sprechen - im Sinne einer gegenseitigen Bereicherung insofern, als die reformatorische Bewegung zum Trienter Konzil - eine Art Selbstreinigung der katholischen Kirche - führte, andererseits die Protestanten - doch sehr verstrickt mit ihren nationalen oder regionalen Regierungen - durchaus davon Gewinn zogen, dass es eine nicht derart gebundene Stimme in Rom gab?
Käßmann: Nun, eine Bereicherung ist die Ökumene auf jeden Fall, weil die Kirchen in großer Vielfalt in aller Welt leben. Und ich denke auch, die Unterschiede der Konfessionen müssen heute nicht mehr trennend und spaltend wirken, sondern können die versöhnte Verschiedenheit oder Konziliarität der Konfessionen - wie auch gesagt wird - darstellen. Christlicher Glaube zeigt sich in vielen Formen und auch in unterschiedlichen Grundüberzeugungen. Ich bin immer der Meinung, dass die einzelnen wissen müssen, wer sie sind - lutherische Tradition, reformierte, römisch-katholische, orthodoxe -, und von da aus in ein Gespräch, in eine Gemeinsamkeit treten können. Aber wie gesagt: Ich denke, es müßte zumindest - wie bei den europäischen Kirchen, die aus der Reformation hervorgegangen sind -eine gemeinsame Anerkennung der Ämter, eine gegenseitige, geben, eine gegenseitige Anerkennung der Taufe ohnehin, und dann eine Gemeinschaft im Abendmahl, die nach innen wie nach außen deutlich macht: Wir sind letzten Endes doch ‚die eine Kirche' - die eine ‚Una Sancta' -, wenn auch in verschiedenen Ausprägungen. Ehrlich gesagt sehe ich diese Ausprägungen schon als Bereiche-rung. Allerdings muss rückblickend gesagt werden, dass die Spaltungsgeschichte der Kirche natürlich auch viel Leid über die Menschheit gebracht hat.
DLF: Damit haben Sie schon angedeutet, dass Augsburg heute natürlich kein Schlussstein für die ökumenische Bewegung sein könne. Was könnte denn als nächster Schritt vorstellbar sein?
Käßmann: Also, es ist ja schon des öfteren gesagt worden, dass es inzwischen bei Ausnahmen, bei beispielsweise konfessionsverschiedenen Ehen oder ähnlichem eine Möglichkeit gegeben hat zum gemeinsamen Abendmahl. Ein solcher Wunsch besteht für den ökumenischen Kirchentag 2003, dass wir wenigstens bei besonderen Gelegenheiten diese gegenseitige Zulassung praktizieren. Und ich denke - wie gesagt -, das ist für die Christinnen und Christen vor Ort sehr wichtig. An vielen Punkten leben sie heute sehr eng zusammen in großer Gemeinschaft und fragen sich dann, warum sie das Zeichen der Gemeinschaft um den Tisch herum nicht miteinander feiern können. Das ist sicher ein Punkt. Das andere ist, dass Kirchen in bestimmten sozialen Fragen gemeinsam reden, also das ‚Sozialwort der Kirchen' beispielsweise halte ich da für einen sehr guten Schritt. Und an vielen Punkten ist es gerade in so einer säkularen Gesellschaft wie unserer wichtig, dass die Kirchen gemeinsam sprechen zu großen Herausforderungen unserer Zeit.
DLF: Gemeinsam ist den Kirchen beispielsweise auch, den Sonntag freihalten zu wollen. Die Evangelische Kirche gibt für eine Kampagne sehr viel Geld aus. Den Feiertag zu heiligen ist nun eine persönliche Aufgabe. Die palästinensischen Christen müssen das in Israel tun, wo der Samstag arbeitsfrei, die koptischen Christen in einem Land, das den Freitag zum Feiertag hat. Und gerade das Neue Testament lehrt ja, dass man auch an einem Sabbat seinen Esel oder Ochsen aus dem Brunnen zieht. Verbeißt sich die Evangelische Kirche in einer Äußerlichkeit?
Käßmann: Also, die Evangelische Kirche hätte sicher nichts dagegen, dass hier jemand seinen Esel oder Ochsen aus dem Brunnen zieht, aber die Frage ist, ob der Sonntag zu einem Konsumtag wird in einer Gesellschaft, die ohnehin davon wirklich gegeißelt ist, dass die gesamte Gesellschaft auf Konsum ja fixiert wird durch die Situation, in der sie lebt. Und gerade die Wirtschaft beispielsweise oder auch gerade die leitenden Menschen in unserem Land fragen immer wieder: ‚Was sind die Werte, was ist das Gemeinsame, was die Gesellschaft zusammenhält?' Und der Sonntag ist ein solch hohes Gut - in unserem Lande durch Tradition gewachsen, gewiss. In einem anderen Land, in einem anderen Kontinent ist das zum Teil anders. Aber dieser Sonntag ist ein Tag, an dem Familien beispielsweise noch einen Tag haben, den sie zusammen verbringen. Wir merken schon - schwierig genug, weil sie da auch vielfach entwöhnt sind. Freunde können sich treffen. Der Mensch hat einen Rhythmus von Schaffen und Ruhe. Ich glaube nicht, dass die Kirche sich verbeißt, sondern ich sehe das als stellvertretenden Einsatz der Kirchen für eine Gesellschaft, die aus dem Blick verliert, was sie zusammenhalten muss. Der Sonntag ist ein Feiertag, der soll geheiligt werden, und das kann auf vielfältige Weise geschehen. Wir würden sagen - natürlich durch den Kirchgang. Aber es geht nicht nur darum, sondern es geht auch um diesen Rhythmus von Ruhe und Schaffen, wie er schon in der Bibel bei der Schöpfungsgeschichte vorgegeben ist.
DLF: Aber nun gibt es doch Probleme, die jeden Christen umtreiben müssen, angesichts des Tötungsverbotes die Abtreibungsrate beispielsweise. Mit Blick auf eine Bewertung der Verhältnismäßigkeit: Wären die Millionen nicht besser für eine Kampagne für das Leben ausgegeben als für einen arbeitsfreien Tag, den der Durchschnittsbürger dann eben doch auf dem Sportplatz oder beim Frühschoppen verbringt?
Käßmann: Also, das ist nicht miteinander zu vermischen. Das ist genau so, dass die Evangelischen Kirchen mehr als zweihundert Beratungsstellen unterhalten, in denen sie sich sehr engagieren - auch mit großem finanziellen Einsatz -, für das Leben zu beraten. Ich würde das nicht gegen diese Sonntagskampagne ausspielen. Ich denke, die Kampagne ist wichtig, weil sie aufmerksam macht: Was ist diese gemeinsame Kultur, von der ich gesprochen habe, und sie kann vielleicht auch Christinnen und Christen anregen, eben den Sonntag nicht nur auf dem Sportplatz zu verbringen, sondern auch einzuüben, was christliche Feiertagskultur sein kann. Mir geht es vor allen Dingen darum, dass der Tendenz, auch den Sonntag zu einem Werktag zu machen - vor allen Dingen den Sonntag zu einem Konsumtag zu machen -, zu widerstehen ist, weil wir sehen, was dieser Konsumdruck wirklich anrichtet. Dass die ifo-Umfrage nun gerade vorgeschlagen hat, zu allererst mit den vier Adventsonntagen anzufangen, da die Ladenöffnung durchzusetzen, das - finde ich - zeigt die Tendenz, in die das geht. Und dann ist Weihnachten beispielsweise, Vorweihnachtszeit - ‚Warten auf Gottes Ankunft' hieß das mal und Fastenzeit -: Dann ist das wirklich pervertiert zu einer solchen Kommerzialisierung, aus der wir überhaupt nicht mehr herauskommen.
DLF: Die Bürger empören sich ja, dass sie bereits jetzt Weihnachtsangebote im Laden finden.
Käßmann: Ich empöre mich auch darüber. Warum muss ich Spekulatius im September essen? Also, wir nehmen uns jede Form von Geheimnis, von Warten, von Wunder, und damit hat Weihnachten was zu tun, und nicht mit Kaufen, Kaufen, Kaufen.
DLF: Das führt natürlich zu einer anderen Frage. In der Binnenstruktur gründet sich Kirche auf das Evangelium, im Außenverhältnis bedeutet sie ja ein Kulturmuster. Insoweit bekommt die Sonntagskampagne einen etwas anderen Sinn. So es zu Kairo gehört, dass der Muezzin vom Minarett ruft, gehört es zu Augsburg, dass die Glocken läuten - katholische wie evangelische. Äußert sich hier nicht doch die Auffassung vom christlichen Abendland, wo am Sonntag - wie ein 68er Barde sang - die Stadt eben ‚ihr Bäuerchen macht'?
Käßmann: Ja, aber wir leben in einem Land, das von der christlichen Kultur geprägt ist. Das kann niemand anfechten, der in diesem Lande lebt. Es leben natürlich Muslime hier, auch leben Menschen hier, die nicht Christinnen oder Christen sind. Trotzdem gehört zu einem guten europäischen Historiker beispielsweise, dass er die Kirchengeschichte kennt, weil das Geschichte ist, die unser Land geprägt hat. Also ich denke, hier geht schon einiges zusammen. Kultur und Protestantismus haben beispielsweise ein langes und intensives Verhältnis, das sehen Sie im Bereich der Musik, das sehen Sie im Bereich der bildenden Kunst, im Bereich der unterschied-lichsten kulturellen Ausprägung unseres Landes, im Bereich der Schule und an anderen Punkten. Wir sind nicht an dem Punkt, an dem das alles über Bord geworfen wird und gesagt wird: ‚Wir haben überhaupt keinen kulturellen Hintergrund'. Unser kultureller Hintergrund ist christlich geprägt, und ich weiß gar nicht, warum wir das unbedingt anfragen sollten, sondern hier gibt es Maßstäbe, Richtlinien, ein Zusammenhalt von Gesellschaft, der erhaltenswert ist. Und das Interessante ist, dass gerade die Menschen, die sonst so groß Klage oft führen - ‚nichts ist so, wie es war, keine Werte mehr', dass die nun sagen: ‚Der Sonntag müßte ein Tag sein wie jeder andere und wir brauchen diese tragenden Kräfte nicht mehr'. Die Evangelische Kirche hat beim Buß- und Bettag ja erlebt, wie ruck-zuck und schnell so ein Feiertag erledigt ist, und deshalb haben wir gesagt: An dem Punkt jetzt müssen wir von vornherein sagen, dass wir Widerstand leisten und ganz klar zum Sonntag uns bekennen.
DLF: Der gestalterische Anspruch richtet sich ja nicht nur an die Gläubigen, sondern eben auch an den Gesetzgeber, also den Staat. Ist das nicht viel Anlehnung an den Staat?
Käßmann: Ich denke, dass wir nach 1945 eigentlich ein ganz gutes, kritisch distan-ziertes, aber doch auch solidarisches Verhältnis zum Staat gefunden haben als Evangelische Kirchen. Die Evangelische Kirche hat nicht immer ihre Lektion so gut gelernt wie nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Zeit der Weimarer Republik war sie in großer Kritik zur Republik, in den Zeiten davor oft zu nahe angelehnt ans Kaiserreich. Und ich denke, diese Geschichte aufzuarbeiten und heute zu sagen: Wir leben in diesem Staat, wir bekennen uns dazu, Bürgerinnen und Bürger dieses Staates zu sein, zu den Grundrechten, zur Verfassung, unterstützen diese. Es gibt Punkte, wo wir kooperieren mit dem Staat, an vielen Punkten: Kindergärten und anderes mehr. Aber wir haben auch eine kritische Distanz, die Fragen der Menschenwürde, Asylrecht und an anderen Punkten einzuklagen und zu mahnen. Das Wächteramt gehört auch zur Kirche.
DLF: Das heißt im Falle des Sonntags: Sie würden auch vor dem Bundesver-fassungsgericht klagen, wenn es sein muss?
Käßmann: Also, das kann nicht immer der erste Schritt sein, und ich weiß auch gar nicht, ob das rechtlich geht. Aber ich denke, Widerstand geht durch mehrere Instanzen.
DLF: Nun ist Religion - trotz dieser Verbindung zu den Bürgern, auch zu dem Staat - in der Gesellschaft wenigstens randständig geworden. Sie fungiert, wie es so schön heißt, als ‚Sinngebungsinstanz für Kontingenzerfahrung', das heißt also, sie soll Antwort geben auf Fragen, wie: ‚Warum ist gerade dieses Kind von Aids betroffen, warum ist gerade dieser Vater, diese Mutter bei einem Verkehrsunfall ohne eigenes Verschulden getötet worden?' Kirche ist weiter zuständig für Passagerieten wie Geburt, Heirat und Tod, in Deutschland außerdem für Heilig Abend - wir sprachen davon. Hat Kirche sich in diese neue Rolle - nun, so neu ist sie auch nicht mehr - eingefunden, oder hält sie doch noch an ihrer alten zentralen Rolle fest?
Käßmann: Also, ich sehe das eine nicht im Gegensatz zu dem anderen. Natürlich ist es so, dass die Kirche auch dazu da ist, gerufen ist, die Menschen zu begleiten in den Krisen- und in großen Freudenzeiten ihres Lebens. Und das sehen wir, dass da auch Kirche sehr stark gesucht wird, in den letzten Jahren vielleicht mehr als früher. Also die Besuche bei Weihnachtsgottesdiensten sind in den letzten Jahren erheblich gestiegen. Aber es hat sich was gewandelt in der Zeitwahrnehmung der Menschen. Es ist nicht mehr so, dass sie wöchentlich beispielsweise zum Gottesdienst kommen. Es gibt Menschen, die kommen einmal im Jahr, die kommen zweimal im Jahr oder viermal im Jahr zu bestimmten Zeiten. Und ich denke, da müssen wir uns dran gewöhnen, das ernst nehmen und nicht mehr meinen, der Sonntagsgottesdienst ist der einzig mögliche, wie wir ihn um zehn Uhr durchführen. Ich habe beispielsweise jetzt gesehen bei den Schulanfängergottesdiensten, die relativ neu in dieser Form eingeführt sind. Da haben wir große Zuwachszahlen und sollten das auch ernst nehmen und wahrnehmen. Gleichzeitig würde ich beanspruchen, dass wir als Volkskirche auch Kirche für das Volk sind und an einigen Stellen - Sonntag hatten wir schon - stellvertretend reden müssen und aufmerksam machen müssen auf Problemkonstellationen.
DLF: Auf einer sensibleren Ebene gibt es also immer noch genug Menschen, die wissen, dass der Mensch nicht von Brot allein lebt, die sich leer fühlen, wenn sie nicht etwas Sinnvolles über den Broterwerb hinaus tun können. Doch die Antworten geben auch zunehmend Sekten, esoterische Strömungen, Gurus - meist ausgesprochen simpel gestrickt. Warum verpasst die Kirche da ihre Chancen?
Käßmann: Ja, das ist ein Punkt, der mich natürlich auch selbst sehr umtreibt. Ich habe den Eindruck, dass viele auch zu Sekten gehen mit ihren religiösen Fragen oder esoterischen Elementen, weil das zum Teil einfachere Antworten sind. Die Protestanten sind der Komplexität des Lebens im Grunde nie ausgewichen und haben auch die Vielfalt der Antworten zugelassen. Wir sagen. Wenn ein Mensch sich persönlich auseinandersetzt und begründet eine Haltung - begründet vor Gott und vor den Menschen -, findet zu einer bestimmten - sagen wir - ethischen Frage, dann ist die Vielfalt dieser Antworten möglich innerhalb der Evangelischen Kirche. Deshalb kommen wir ja auch viel zu bunt und vielfältig vor, während in anderen Bereichen, beispielsweise bei Sekten, die Antworten vorgegeben sind, fest und unhinterfragbar. Der Einzelne muss sich nicht mehr so hart auseinandersetzen. Also, das ist ein ganz großer Unterschied. Mir tut es leid, dass wir als Kirchen anscheinend Menschen auf der religiösen Suche die Schwelle nicht so niedrig hängen, dass sie auch bei der Kirche nachfragen. Ich denke, wir haben im Bereich der Spiritualität beispielsweise vieles anzubieten. Es gibt natürlich mystische Erfahrungen, Traditionen in der Kirche. Meditation ist etwas, was in den Klöstern seit Jahrhunderten eingeübt ist. Oder beispielsweise die Frage der Steine. Wenn ich lese, wieviel Bedeutung das heute in der Esoterik hat: Hildegard von Bingen war eine derer, die schon im Mittelalter ganz stark über Steine meditiert und ihren Glauben auch ausgedrückt hat. Also, da ist noch vieles erreichbar, und ich hoffe, dass wir mit einer Sprache für unsere Zeit auch Zugänge finden. Allerdings ist die Mitte des Evangeliums Jesus Christus auch der Punkt - die Frage nach dem Leiden im Leben. Dem wird im Evangelium nicht ausgewichen und in der Kirche auch nicht. Und der andere Punkt ist, dass wir sagen: Unsere Religion ist eine, die eine ganz starke soziale Komponente hat, die ist auf den Nächsten gewiesen. Ich kann nicht allein und für mich und mein Heil nur sorgen, sondern es geht immer darum, wie der Samariter auf der Straße dem Nächsten zur Seite steht. So haben die Christinnen und Christen in diesem Land da zu gucken, wo Gerechtigkeit in Frage gestellt wird, wo Menschen am Rande liegenbleiben. Das macht das christliche Leben wesentlich anstrengender vielleicht, als manche Antwort von Sekten, bei der ich mich nur um mich selbst kümmern muss.
DLF: Vielleicht kommt noch etwas anderes hinzu. Unbeantwortbar bleibt ja die Frage der Theodizä, also das heißt: Warum läßt ein allmächtiger Gott Leid zu? Man kann sie durch Auserwähltheitswahn umgehen, wie Sekten das tun. Aber das gilt natürlich auch für die Religionen. Wenn man sich vom allgemeinen Schicksal ausnimmt, führt das regelmäßig zu Fundamentalismus. Wie bedeutend sind dann die fundamentalistischen Strömungen in der Evangelischen Kirche?
Käßmann: Wie in allen Religionen gibt es auch im Protestantismus in den Evange-lischen Kirchen fundamentalistische Strömungen, ganz klar. Aber ich möchte zunächst noch mal sagen: Zu der Frage nach Gott und Gottes Präsenz ist es so, dass meine Antwort auf diese Frage ist: Gott ist nicht da oben und läßt Marionetten tanzen sozusagen an seinen Fingern, sondern Gott hat den Menschen in Freiheit in diese Welt entlassen. Der Mensch muss verantwortlich leben und handeln. Und wir können die Frage nach Gott - gerade in Leidenssituationen - immer wieder stellen und wie Hiob auch schreien oder Jesus am Kreuz: ‚Mein Gott, warum hast Du mich verlassen'. Es gibt Zeichen der Abwesenheit Gottes, in der wir um Gottes Präsenz und den Sinn des Lebens ringen müssen. Fundamentalismus ist natürlich auch eine Einschränkung der Vielfalt der Antworten. Ich finde es eher eine ängstliche Reaktion auf die Vielfalt der Welt, in der ich ganz feste Schemata festhalten muss, von denen ich mich nicht wegbewegen darf, weil sonst alles ins Wanken gerät. Ich wünsche mir eigentlich den Mut der Evangelischen, sich mit ihrer Zeit je auseinanderzusetzen und auch den Mut, dann zu fragen: Wie können denn biblische Antworten in unsere Zeit heute übersetzt werden? Die historisch kritische Methode beispielsweise verträgt sich immer schwer mit Fundamentalismus.
DLF: Im Laufe der Geschichte verloren die Kirchen ja Glaubwürdigkeit durch mangelnde Toleranz. Das Augsburger Friedensfest am 8. August - der einzige gesetzliche kommunale Feiertag der Bundesrepublik - erinnert an den interkonfessi-onellen Frieden der Reichsstadt. Dieser Feiertag bleibt eine Ausnahme. Wo ist denn die Grenze zwischen Toleranz und Beliebigkeit da zu ziehen?
Käßmann: Sie wird immer wieder neu zu ziehen sein. Ich glaube, auf der einen Seite ist es so, dass ich wissen muss, wer ich bin, was ich glaube, woran ich glaube. Und viele Evangelische wissen das heute nicht mehr. Was ist denn meine Grundüberzeugung aus meinem Glauben - dann bin ich in der Lage, dialogfähig zu sein, auch mit Menschen anderer Religionen, mit Menschen ohne Religion. Also, das ist die Frage der Dialogfähigkeit. Aber ich muss sagen können: Wo sind für mich Grenzen, beispielsweise aus den zehn Geboten? Du sollst nicht töten - was heißt denn das. Das muss jedesmal neu dargestellt werden, und beispielsweise in der Schwangerschafts-Konfliktberatung ist das ein ganz großer ethischer Konflikt für viele Christinnen und Christen. Und da sind die Toleranzpunkte sehr unterschiedlich gezogen. Gemeinsam sagen wir, Tötung ungeborenen Lebens ist nicht denkbar, ist Schuld. Aber wir sagen als Evangelische auch: Da ist eine Frau, die zur Beratung in eine Beratungsstelle kommt, die in einem ethischen Konflikt steht. Und da werden die Toleranzschwellen unterschiedlich gezogen.
DLF: Und nochmal zur Beliebigkeit?
Käßmann: Also ich sehe es nicht so, dass dadurch Beliebigkeit entsteht, dass unterschiedliche Antworten gegeben werden. Beliebigkeit entstände dann, wenn alles egal und gleichgültig wäre. Toleranz entsteht da, wo ich sagen kann, was mein Standpunkt ist, warum ich hier überzeugt bin, aber trotzdem hören kann - zuhören kann -, warum eine andere Person aus guten christlichen oder anderen Motiven zu einer anderen Überzeugung kommt.
DLF: Kommen wir nun zu dem, was man in der Literatur die ‚Zivilisierung Gottes' nennt. Also nicht nur bei Hieronymus Bosch in den Fresken vieler alten Kirchen, auch in der Literatur wird geradezu sadistisch mit der Ewigen Verdammnis, bei den Katholiken auch mit dem Fegefeuer gedroht - im Sinne der wüstesten Folterpraktiken. Erst in den letzten 50 Jahren - wenn man Predigttexte analysiert - setzt sich die Auffassung durch, dass es unangemessen sei, einem Schöpfer derart Barbarisches zu unterstellen. Von der Patristik her gesehen, also von Kirchenvätern bedeutet dies eine Akzentverschiebung von Augustinus auf Origines. Aber kann die Kirche noch glaubwürdig mit der Heilserwartung arbeiten, wenn sie nicht von Unheil redet?
Käßmann: Also, sie kann jedenfalls von Unheil nicht so reden, dass es eine Bedrohung des Menschen darstellt, aufgrund derer er sich dann in seinem Leben umorientieren muss. Ich denke, heute ist die Frage, die an den Menschen zu stellen ist: Was ist der Sinn Deines Lebens? Und wenn Sie mal Sterbende begleiten, dann gibt es viele, die an diesem Punkt zum erstenmal darüber nachdenken, was denn der Sinn des Lebens war und ob das alles gewesen ist. Deshalb glaube ich, dass es gar nicht Bedrohungszeremonien sind, mit denen wir die Menschen auf die Frage nach der Ewigkeit - von Ewigkeit zu Ewigkeit - einstellen müssen, sondern dass wir die Aufgabe und die Pflicht haben, den Menschen klarzumachen, dass dieses Leben begrenzt ist - davor laufen ja alle weg in unserer Gesellschaft - und wir uns damit auseinandersetzen müssen, wie wir Verantwortung, rückblickend für dieses Leben, übernehmen können. Ich bin immer dafür, zu sagen, dass wir nach dem Tode in Gottes Hand sein werden, und dieser Gott, der die Welt geschaffen hat, für mich keiner ist, der zerstörerisch wirkt. Aber was dann geschieht einst, das werden wir sehen. Ich bin auch dagegen, vorschnell die All-Erlösung zu predigen, aber die Spekulationen über das, was nach diesem Leben kommt, die halte ich - für meine Person jedenfalls - für absolut zweitrangig gegenüber der Verantwortung, die wir in diesem Leben zu übernehmen haben und für die wir - das glaube ich allerdings - einst Rechenschaft abzulegen haben.
DLF: Es gibt ja in der Realität tatsächlich Apokalypsen, die Killing Fields in Kambodscha, der Holocaust, der Genozid in Ostafrika: Kann man diese Vorgänge ausklammern, wenn eine Kirche nicht verstört, die eine heile Welt ohne Gericht zeichnet?
Käßmann: Aber diese Vorgänge werden doch nicht ausgeklammert. Was Hölle ist, davon haben wir ja nur eine Vorstellung, weil Menschen auf dieser Erde Hölle erleben. Ob das jetzt in Kambodscha ist oder im Moment ist Osttimor - es erleben Menschen Hölle. Deshalb haben wir eine Vorstellung, was da einst sein könnte oder was das Grauen selber darstellt.
DLF: Der kürzlich verstorbene Niklas Luhmann wies in einem Interview des Deutschlandfunks auf die existentielle Erfahrung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hin, dass Kinder vor ihren Eltern starben, der Tod also viel präsenter war in der Gesellschaft. Ist dies ein Erkenntnisproblem auch für die Kirche geworden?
Käßmann: Es ist kein Erkenntnisproblem. Also, dass die Kirche mit dem Tod umgehen kann - ich glaube, das ist vielleicht eine der letzten Instanzen in dieser Gesellschaft. Aber es ist ein Problem unserer Gesellschaft, dass sie den Tod derartig wegsperrt, sei es in Krankenhäusern, sei es sonst wohin, und die Frage immer öfter da ist: Können wir dem Tod entgehen oder ihn ignorieren in unserer Zeit und Welt. Ich habe ganz großen Respekt davor, dass beispielsweise in der Hospizbewegung und durch viele Gespräche versucht wird, den Tod wieder in das Leben hineinzuholen, ein würdiges Sterben in Familien beispielsweise zu gestalten. Ich habe schon den Eindruck, dass in unserer Gesellschaft die Auseinandersetzung mit dem Tod gefürchtet wird, wirklich wie der Teufel das Weihwasser.
DLF: Spüren Sie am Ende dieses Jahrtausends vielleicht auch in diesem Zusammenhang eine neue Adventsstimmung, eine Unzufriedenheit mit den alten Antworten, ein drängendes wenn auch unbestimmtes Warten auf neue Horizonte, neue Verheißungen?
Käßmann: Ich habe schon den Eindruck, dass nach einer Phase der Überzeugung, ohne Religion existieren zu können, heute doch viele wieder eine Suche nach dem Transzendenten haben erst mal. Das ist nicht gleich die christliche Religion, aber eine Wahrnahme, dass der Wahn, alles selbst schaffen zu können - und das war ja doch die Aufbruchstimmung in den fünfziger Jahren: Wir können das Leben schaffen, wir können eines Tages vielleicht sogar den Tod sozusagen abschaffen durch die enormen Fortschritte in der Medizin und ähnlichem - dass heute doch das Bewußtsein viel stärker ist, dass Gerechtigkeit, Frieden durch den Menschen so schnell nicht geschaffen werden, sondern der Mensch da immer wieder versagt. Und deswegen auch die Frage: Ist nicht in meinem Leben eine andere Dimension, der ich mich zuwenden kann, zuwenden muß? Und das ist eine enorme Herausforderung für die Kirche, sich dem wirklich zu stellen.
DLF: Frau Käßmann, wir danken für das Gespräch.