Montag, 13. Mai 2024

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Käßmann: Politik muss sich neuer Familienrealität stellen

Die hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann hat Unverständnis über die familienpolitische Debatte in der Union geäußert. Sie könne die Empörung über den Vorstoß von Familienministerin Ursula von der Leyen zum Ausbau der Kinderbetreuung nicht nachvollziehen, sagte die evangelische Geistliche. Käßmann vermutet als Auslöser für die Debatte, dass die traditionelle Rollenaufteilung zwischen Mann und Frau infrage gestellt werde.

Moderation: Doris Simon | 19.02.2007
    Doris Simon: Jahrzehntelang galt in Deutschland die Familie als reine Privatsache der Betroffenen, und was die Förderung anging, so galt lange Adenauers Satz "Kinder kriegen die Leute sowieso." Dementsprechend tief war der Dornröschenschlaf, den die deutsche Familienpolitik viele Jahre lang schlief, während sich ringsherum die Welt veränderte. Das Wachwerden verlief dann etwas abrupter. Unsere Nachbarländer hatten fast überall inzwischen bessere Lösungen gefunden und zeigten, dass es also durchaus möglich war, Familien zu fördern, ohne dass der Nachwuchs ausbleibt und Frauen an der Entscheidung zwischen Beruf und Familie verzweifeln. Seither muss also in Deutschland alles etwas schneller gehen. Es gibt viel nachzuholen, aber der Weg ist mühsam.

    Das sieht man auch an der Auseinandersetzung über die Forderung der Bundesfamilienministerin, die Zahl der Krippenplätze auf 750.000 zu erhöhen. Dann gäbe es für jedes dritte Kind unter Drei einen Betreuungsplatz. Bisher gibt es denn nur für jedes zehnte Kind.

    Margot Käßmann, die Bischöfin der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover, ist jetzt am Telefon. Guten Morgen!

    Margot Käßmann: Guten Morgen Frau Simon!

    Simon: Frau Käßmann, was sind denn das für Ängste, die über die Bereitstellung von mehr Krippenplätzen so eine heftige Diskussion auslösen?

    Käßmann: Ehrlich gesagt, kann ich dieses Ausmaß an Aufregung auch überhaupt nicht verstehen. Es geht darum, in fünf Jahren vielleicht Krippenplätze für 30 Prozent der Kinder zu haben. Das ist ein ganz kleiner Schritt im Verhältnis zu anderen und doch gar keine Zwangsbeglückung von Zwangskrippen durch den Staat, wie manche das jetzt darstellen. Ich denke, für viele ist es tatsächlich die traditionelle Rollenaufteilung: Die Mutter bleibt zu Hause und erzieht die Kinder, und der Vater geht hinaus ins feindliche Leben, dass die infrage gestellt scheint und das diese Irritationen verursacht.

    Simon: Familie galt, wie gesagt, bis vor kurzem als eine Domäne, wo der Staat nichts zu suchen hatte. Das hat ja auch historische Gründe. Man denkt da an die NS-Zeit oder an Erfahrungen aus der DDR. Aber wie erklären Sie sich, dass diese Furcht anscheinend ja auch noch in einem demokratischen Land wie unserem lebt, das mit der DDR und Nazideutschland nun wirklich nichts gemein hat?

    Käßmann: Ich denke, solche Vorstellungen sind tief verwurzelt. Dabei hat sich ja die Realität doch längst verändert, das müssen wir auch sehen. Wir haben die bestausgebildeten Frauen, die es hier in diesem Land je gab, und natürlich wollen diese Frauen auch berufstätig sein und sind es in vielen Fällen auch. Dann sehen sie keine Möglichkeit, das mit den Kindern zu vereinbaren. Und deshalb ist unsere Geburtenrate unter anderem derartig niedrig. Also ich finde, dass der Weg, den Frau von der Leyen da einschlägt, konsequent und mutig ist und dazu beitragen wird, dass Frauen in diesem Land eine Wahlmöglichkeit haben. Meiner Meinung nach müssen unterschiedliche Rollenmodelle, also die Frau, die ganz zu Hause bleibt und Kinder erzieht, die Frau, die Beruf und Familie verbindet, und die Frau, die auf Kinder verzichtet, auch ihres Berufes Willen, gleichberechtigt nebeneinander stehen. Und das stehen sie nicht.

    Simon: Das heißt, wenn man von einem Familienbild sprechen will, gibt es Ihrer Meinung nach gar nicht eines?

    Käßmann: Nein, es gibt längst nicht mehr das eine Familienbild. Ich kann sagen, dass wir ja auch als Kirchen Verlässlichkeit und Dauer stärken, für die Familie und die Ehe eintreten, aber längst sehen, es gibt unterschiedliche Formen, in denen Familie gelebt wird. Und wir können doch nicht sagen, das eine Idealbild, das halten wir hoch, und nur das darf sein, und ignorieren, dass andere Menschen andere Formen gefunden haben, auch glücklich zu leben und Kinder zu erziehen. Und gerade das müssen wir in Deutschland doch fördern, dass Menschen Verantwortung langfristig übernehmen und Kinder in die Welt setzen.

    Simon: Wenn die Politik sich trotzdem, die muss sich an etwas ausrichten, woran sollte sie sich ausrichten, an dem Ziel, dass möglichst viele Kinder möglichst gut in Deutschland leben? Was sollte das Ziel sein der Familienpolitik?

    Käßmann: Ich denke, das Ziel muss ganz klar sein, dass Kinder in diesem Land so aufwachsen, dass sie Chancen haben, dass wir ein kinderfreundliches Land sind - das sind wir im Moment ganz offensichtlich nicht -, dass es ein Lebensgefühl gibt, das sagt, das Leben mit Kind ist ein erfülltes Leben, das ist nicht ein Leben des Verzichts und der Armut. Und deshalb müssen wir auch Kinder fördern, damit nicht weiterhin jedes siebte Kind in Armut lebt. Also das wäre das erste Ziel, die Kinder. Ich denke, das andere ist für mich, dass wir Frauen die Chance geben, Familie und Beruf zu verbinden. Im Übrigen, will ich sagen, ist es ja auch so, dass es da auch um die eigene Existenzabsicherung geht, denn Altersarmut in Deutschland ist in der Regel weiblich.

    Simon: Das heißt, dass Frauen also arbeiten müssen, einfach auch um an ihre Zukunft zu denken?

    Käßmann: Ich denke, das sollten wir gar nicht außer Acht lassen. Für viele Frauen ist beispielsweise ein Scheidungsfall dann eine Katastrophe, wenn sie nicht berufstätig waren und gar keine Chance mehr haben, sich selbst dann zu versorgen. Das ist in ganz vielen Fällen dann tatsächlich auch eine finanzielle Katastrophe für sie. Also ich würde allerdings nicht sagen, dass wir alle Frauen drängen sollten, jetzt berufstätig zu sein. Wenn eine Frau gerne zu Hause ist und die Kinder erzieht, ist das wunderbar. Aber die meisten Frauen, die ich kenne, möchten berufstätig sein und finden keine Unterbringung für ihr Kind, wenn ihr Kind unter drei Jahren ist, oder sie haben Kindergartenöffnungszeiten, die überhaupt nicht kompatibel sind mit ihrem Berufsleben, und insofern, denke ich, diese Öffnung ist genau der richtige Weg.

    Simon: Man hört jetzt schon wieder Stimmen, dass Frauen, die eben zu Hause erziehen, sagen, von dieser neuen Entwicklung, da werde ich wahrscheinlich benachteiligt, wir werden zurückgesetzt. Können Sie das nachvollziehen?

    Käßmann: Ich denke, die Frauen auch sollten nicht immer sich gegeneinander ausspielen lassen. Wie gesagt, ich bin dafür, dass unterschiedliche Lebensformen von Frauen gleichberechtigt nebeneinander stehen und wir aufhören zu sagen, das eine ist das richtige Modell und das andere ist das falsche. Letzen Endes müssen die Menschen das selbst entscheiden dürfen, wie sie leben wollen. Und der Staat hat ihnen die Wahlmöglichkeiten zu geben beziehungsweise das Berufsleben muss sich auch darauf einrichten, flexibler zu sein in den Arbeitszeiten, damit Menschen Kinder erziehen können, übrigens auch Männer Kinder erziehen können, und das überhaupt miteinander vereinbar ist.

    Simon: Noch ein Stichwort zum Thema Familienbild: Die Ehe steht ja unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes. Das hat sicher auch mit der Sicht der Zeit zu tun. Väter und die weniger Mütter des Grundgesetzes konnten sich vor 60 Jahren sich ja nicht vorstellen, dass man eine solide und auch ohne Trauschein eine Familie bilden konnte, und eine Ehe, die gewollt kinderlos bleibt, war genauso unvorstellbar. Heute ist beides üblich. Müsste die Bundesrepublik da nicht auch etwas an ihrer Gesetzgebung ändern?

    Käßmann: Ich denke, dass weiterhin die Ehe gefördert werden sollte, weil wir Verlässlichkeit und Dauer brauchen, dass Menschen in verlässlichen Beziehungen miteinander leben. Und gleichzeitig muss der Staat sehen, dass andere Menschen sich entschieden haben, anders miteinander zu leben. Allerdings ist das ihre freie Wahl. Ich finde es schon richtig, dass in unserem Land die Ehe da besonders geschützt ist. Allerdings halte ich den Vorschlag auch für richtig zu sagen, das Ehegattensplitting muss deutlich verändert werden hin zu einem Familiensplitting, weil das ist ja auch klar: Wenn ein Mensch fünf Personen zu versorgen hat, ist das etwas anderes, als wenn er zwei Personen zu versorgen hat durch das eigene Einkommen. Insofern finde ich diesen Schritt richtig zu sagen, wir brauchen eigentlich ein Familiensplitting, und das Steuerrecht muss ganz deutlich sich auf die Kinder konzentrieren, weil da ist in Deutschland wirklich noch viel Nachholbedarf im Verhältnis zu anderen europäischen Ländern.

    Simon: Zeigt die Diskussion jetzt auch und die Heftigkeit, dass da auch noch Nachholbedarf ist für einige Jahre?

    Käßmann: Also ich denke, dass erst jetzt offensichtlich in der Politik ankommt, was sich in der Realität schon längst gewandelt hat. Ich bin froh, in einem Land zu leben, in dem Frauen solche Bildungschancen haben, aber wenn Sie gut ausgebildete Frauen haben, dann wird sich das auch verändern auf dem Arbeitsmarkt, dann wollen Frauen auch in qualifizierte Arbeitsstellen eindringen, und dann ist auch die Frage, ob sich nicht die Politik jetzt ziemlich schleunigst dieser neuen Realität auch stellen muss.

    Simon: Das war Margot Käßmann, die Bischöfin der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover. Frau Käßmann, vielen Dank und auf Wiederhören.

    Käßmann: Auf Wiederhören.