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Kafka-Biograf: Die richtige Tonlage ist das Lakonische

Der Kafka-Biograf Reiner Stach hat anlässlich des 125. Geburtstages des Schriftstellers auf das Komische in seinem oft als düster und bedrohlich empfundenen Werk hingewiesen. Der Humor sei jedoch trocken und lakonisch bei Kafka. So wünsche Stach sich auch bei den Hörbuchproduktionen, die zum Jubiläum herausgebracht wurden, weniger "Pathos" und "expressionistische Gesten".

Moderation: Sandra Schulz | 03.07.2008
    Sandra Schulz: Ein Auszug aus dem Prozess von Franz Kafka. - Düsternis, rätselhafte Undurchsichtigkeit, Bedrohung schwingen mit in diesen Zeilen und sind Charakter des Werks des in Prag geborenen Autors, der so prägend ist, dass der Name sich verselbständigt hat als Synonym für Situationen des Ausgeliefertseins. In Belgien trägt sogar ein Projekt für Bürokratieabbau den Namen Kafka. Heute vor 125 Jahren wurde Franz Kafka geboren, Thema in den nächsten Minuten hier im Deutschlandfunk. In Hamburg ist mir Reiner Stach zugeschaltet. Gerade ist der zweite Teil seiner Kafka-Biographie erschienen mit dem Titel "Die Jahre der Erkenntnis", nach den "Jahren der Entscheidungen", erschienen 2002. Guten Morgen Herr Stach!

    Rainer Stach: Guten Morgen Frau Schulz.

    Schulz: Wann waren Sie denn das letzte Mal in einer kafkaesken Situation?

    Stach: Das passiert einem ständig. Man muss sich zum Beispiel nur die Nachrichten anschauen und dann erfährt man, dass plötzlich irgendwo auf der Welt die Lebensmittelpreise explodiert sind oder die Börsenkurse gestürzt sind und man fragt sich: Wer hat daran gedreht?

    Schulz: Was ist für Sie kafkaesk?

    Stach: Kafkaesk ist, wenn man eben dieses Gefühl hat, dass man ausgeliefert ist und dass man weiß: Da ist irgendeine höhere Instanz, die Dinge entscheidet, die mich direkt betreffen. Aber ich bekomme diese Instanz dann auch nie zu Gesicht. Ich bekomme sozusagen immer nur die Zwischenhändler oder die unteren Chargen zu Gesicht.

    Schulz: Ein Beispiel habe ich gerade zitiert: das Projekt der belgischen Regierung auch mit zugehöriger Internet-Seite. Könnte es sein, dass der Begriff "kafkaesk" überstrapaziert wird?

    Stach: Ja, der ist natürlich längst überstrapaziert. Der wird inflationär gebraucht. Aber Kafka selber hat ja immer die kafkaesken Situationen anhand von Situationen der bürokratischen Herrschaft ausgeführt. Zum Beispiel im Roman "Der Prozess" und im "Schloss" da geht es jedes Mal um Instanzen, um einen aufgeblähten bürokratischen Apparat und es liegt natürlich dann nahe, wenn wir dann heute mit solchen Problemen zu tun haben - das haben wir ja in der EU zum Beispiel ganz massiv -, dass man sich dann an den Namen Kafka erinnert.

    Schulz: Ist das auch der Grund, warum der Autor bis heute so präsent ist - mindestens ja mit seinem Namen?

    Stach: Es ist auf jeden Fall einer der Gründe. Dieses Gefühl des Ausgeliefertseins, das hat man heute teilweise in ähnlicher Weise. Damals waren es eben die bürokratischen Apparate; heute sind es aber darüber hinaus noch zum Beispiel Phänomene wie die Globalisierung, wo kleinere Kollektive immer das Gefühl haben, da rollt eine riesige Welle über sie hinweg und diese Welle wird gesteuert von Instanzen, an die sie niemals selbst herankommen würden.

    Schulz: Bundespräsident Köhler hat neulich ja die weltweiten Finanzmärkte mit einem Monster verglichen. Klingt da auch Kafka an?

    Stach: Das geht ja genau in die Richtung, die ich eben angedeutet habe. Das hat was Monströses, aber es hat auch etwas Unheimliches. Das ist ja das Entscheidende bei Kafka. Man hat nicht nur einen großen Gegner vor sich, einen sehr mächtigen Gegner, sondern man hat vor allem einen unsichtbaren Gegner vor sich. Der tastet manchmal nach mir. Der streckt seine Fühler aus, aber das Gesicht dieses Gegners sehe ich nicht. Das ist das Problem und das macht dann die unheimliche Atmosphäre, die man eben als kafkaesk bezeichnet.

    Schulz: Nur mit dem Unterschied, dass zu den Unternehmen, die zum Beispiel Börsenentscheidungen treffen, ja rein theoretisch jeder Zugang hat. Ist diese Intransparenz denn nicht mehr der gewachsenen Komplexität geschuldet?

    Stach: Auch das ist ähnlich wie bei Kafka. Wenn die Szenen geschildert werden, dann haben sie ein fotographisches Bild vor sich. Die Details zum Beispiel der Verhaftung, die werden ganz genau geschildert, fast überscharf geschildert wie so eine Art Zeitlupe. Genauso bekommen sie, wenn sie es mit dem Börsengeschehen vergleichen, von Sekunde zu Sekunde die Börsenkurse. Sie können alle möglichen Daten auf ihrem Bildschirm live abrufen. Aber was dahinter steht, die Instanzen, wo dann die entscheidenden Tendenzen erzeugt werden, da verliert sich alles im Nebelhaften. Das ist ja auch ähnlich wie im Prozess.

    Schulz: Aber was ist denn an den Regeln von Angebot und Nachfrage kafkaesk?

    Stach: Dass sie so anonym sind. Es ist ja ein Prozess, der scheinbar völlig anonym abläuft, obwohl man die Menschen, die damit umgehen, ja sieht. Man sieht die Börsianer vor ihren Bildschirmen sitzen. Man sieht die Börsenaufsicht und man sieht die Leute, die in New York interviewt werden und so weiter. Aber wo sind diejenigen, die die zentralen Entscheidungen treffen? Wo sind diejenigen, die die Trends machen? Das ist das Problem.

    Schulz: Wird die Welt denn immer kafkaesker?

    Stach: Das ist schwer zu beantworten. Es gibt natürlich weltweit einen Kampf um Transparenz. Aber gleichzeitig hat man das Gefühl, dass das ganze System immer stärkere Ausschläge zeigt und dass es immer weniger Menschen gibt die verstehen, woher das kommt. Man hat schon das Gefühl, dass der Globalisierungsprozess insgesamt anonymisierter wird und ein bisschen aus dem Ruder läuft. Wo die entscheidenden Informationen eigentlich stecken, um diesen Prozess steuern zu können, das weiß man eben nicht.

    Schulz: Wir haben dieses eine Bild von Kafka, dieses düstere, dieses Gefühl des Ausgeliefertseins. Aber kann Kafka auch komisch sein?

    Stach: Das ganze kafkaeske Syndrom hat ja von sich aus schon was Komisches. Um noch mal auf die Börsenkurse zurückzukommen: Ich empfinde es zum Beispiel als äußerst komisch, wenn abends der Börsenbericht kommt und man bekommt ganz genau erklärt, warum die Börsenkurse sich so entwickeln mussten, aus welchen Gründen sie sich wahrscheinlich so entwickelt haben, wie sie eben heute sich entwickelt haben. Aber niemand von diesen Leuten, von diesen Experten, die dort vor der Kamera stehen, wagt es auch nur für die nächste Stunde eine handfeste Prognose abzugeben. Jeder hütet sich davor. Das ist wie in der Fußballberichterstattung. Im Nachhinein ist alles klar, warum es so laufen musste, aber wehe man wird danach gefragt, was passiert denn nun in den nächsten paar Minuten.

    Schulz: Und ist das komisch oder tragisch?

    Stach: Was die Präsenz in den Medien betrifft, ist es erst einmal komisch. Aber die Auswirkungen, die das auf die Betroffenen hat, die sind dann natürlich tragisch. Wenn ich Produzent irgendeines Lebensmittels bin - nehmen wir Weizen oder etwas in der Art -, was Handarbeit erfordert, was ein Kollektiv ernähren soll, und dann sehe ich, wie da Leute in New York mit Milliarden spielen und nicht wissen, was die nächste Stunde bringt, das ist natürlich schon tragisch.

    Schulz: Herr Stach, wenn wir bei Kafkas Werk bleiben. Es heißt ja, Kafka selbst habe sich beim Vorlesen seiner Werke bisweilen vor Lachen nicht halten können. Kann das sein, dass wir alles falsch verstanden haben?

    Stach: Nein, nein. Man muss nur genau lesen. Wenn Sie den Anfang vom "Prozess" beispielsweise lesen: Der Mann ist vollkommen überrascht von seiner Verhaftung. Aber schauen Sie mal genau nach, wie der reagiert. Er hält sich für unschuldig. Er sagt er versteht gar nicht, was das überhaupt soll. Aber im nächsten Moment denkt er daran: Ich könnte doch denen meinen Fahrradfahrerausweis - so etwas gab es damals noch - vorzeigen. Vielleicht verschonen die mich dann. - Was natürlich eine völlig absurde Idee ist. - Oder er denkt sogar daran, sich durch Selbstmord der Verhaftung zu entziehen. Genauso komisch ist der Anfang von der "Erzählung der Verwandlung". An sich ist das natürlich eine entsetzliche Szene, die da geschildert wird. Jemand wacht auf und merkt: Er hat sich in einen großen Käfer verwandelt. Aber wie der Betreffende darauf reagiert, ist unglaublich komisch. Er denkt zum Beispiel darüber nach, ob das nun daran liegen könnte, dass er völlig übermüdet oder völlig überarbeitet ist, und er denkt dann allen Ernstes darüber nach - er ist von Beruf Vertreter -, dass er jetzt in dieser Käfergestalt seinen Musterkoffer packt und damit zum Bahnhof geht in der Hoffnung, vielleicht merkt es keiner.

    Schulz: Wie würden Sie die richtige Tonlage für diese Passagen beschreiben? Es sind zum Jubiläum jetzt ja mehrere Hörbücher erschienen.

    Stach: Die richtige Tonlage wäre natürlich eine, die das Lakonische sehr stark unterstreicht. Der Humor ist ja immer ganz trocken und lakonisch bei Kafka. Den darf man nicht durch allzu expressionistische Gesten unterstreichen. Nehmen Sie als Beispiel "Bericht für eine Akademie". Das ist ja so ein typisches Schauspielerstück. Der Monolog eines Affen, der zum Menschen dressiert wurde. Da muss man mit Lakonie arbeiten. Das ist was Komisches, ist auch was Schreckliches, aber man darf jetzt nicht sozusagen eine Show vor dem Publikum abziehen und darf nicht mit gewaltigen stimmlichen und schauspielerischen Mitteln die eigentliche Tragödie überdecken. Ich glaube das Lakonische ist sehr wichtig. Wahrscheinlich war es sogar so, dass Kafka damals seine eigenen Werke auch viel lakonischer vorgetragen hat als es üblich war. Es gab nämlich, als er mal öffentlich in München vorgetragen hat, eine Kritik, mehrere Kritiken, und die haben ihm alle vorgeworfen, dass er eigentlich schlecht vorliest, langweilig vorliest. Ich glaube die waren einfach gewöhnt, dass jemand viel mehr Pathos einsetzt und viel mehr Expression einsetzt und Kafka eben für die damalige Zeit einfach zu lakonisch war.

    Schulz: Ein Plädoyer für den lakonischen Vortrag heute Morgen im Deutschlandfunk im Gespräch mit dem Kafka-Biographen Reiner Stach. Haben Sie vielen Dank!