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Kai Strittmatter
"Die Neuerfindung der Diktatur"

Das Internet ist kein Mittel zur Demokratisierung. Autokraten nutzen es für ihre Zwecke. Im Einparteienstaat China beispielsweise dient das Netz nicht nur der Propaganda, sondern auch der Überwachung. China digitalisiert die Diktatur, schreibt der langjährige Korrespondent Kai Strittmatter.

Von Ruth Kirchner | 26.11.2018
    Chinas Flagge auf Asphalt(Hintergrundbild), Buchcover (Vordergrundbild)
    Die chinesische Führung nutzt das Internet für Propaganda und Überwachung (imago / Zuma press und Piper Verlag)
    Für Chinas Staats- und Parteichef war es ein Triumph: Im März wählte ihn der Nationale Volkskongress, Chinas machtloses Parlament, für weitere fünf Jahre zum Staatspräsidenten. Mehr noch: Die Abgeordneten stimmten auch einer Verfassungsänderung zu, die es Xi ermöglicht, bis an sein Lebensende im Amt zu bleiben. Nicht nur für Xi war es ein Triumph, sondern auch für die Kommunistische Partei Chinas, die seit fast 70 Jahren das Land regiert.
    Die KP China ist die oberste Führung des Landes, bekräftige Xi nach seiner Wiederwahl. Sie garantiert das Wiedererstarken der chinesischen Nation. Sie hat die oberste Führung in allen Bereichen des sozialen und politischen Lebens.
    Zehn Jahre zuvor hatte das noch ganz anders ausgesehen: Damals schien die KP im Krisenmodus: Sie war von Korruption zerfressen und voller Selbstzweifel. Im Internet tobten erstaunlich offene, manchmal wilde Debatten – über Umweltzerstörung, geldgierige KP-Kader und das Versagen des Einparteiensystems. Doch seitdem hat sich das Bild drastisch gewandelt: Unter Xi hat die Partei verloren gegangenes Terrain zurückerobert, sie ist mächtiger denn je, betreibt um Xi einen regelrechten Führerkult. Für Kai Strittmatter, viele Jahre lang Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Peking und ein hervorragender Kenner Chinas, ist das eine Entwicklung, die in zwei Richtungen geht.
    "Xi Jinping schafft ein China, das einerseits zurückgeht in die 50er Jahre, mit einem Leninismus, mit einer Repression, die so stark ist wie seit den Tagen Mao Zedongs nicht mehr. Mit einer Zensur und Propaganda, die wirklich zurückgreift auf alte Methoden wie damals. Also mit dem einen Bein geht er zurück in die 50er Jahre, aber mit dem anderen Bein geht er weit in die Zukunft und geht da an Orte, von denen andere Autokraten und Diktatoren vielleicht schon geträumt haben, aber wo noch kein Mensch war."
    Die Digitalisierung soll das politische System krisenfest machen
    Diese Orte sind das Internet, die digitale Welt und der alte sozialistische Traum von der Schaffung des neuen Menschen. Dafür hat sich China wie kein anderes Land in die Digitalisierung gestürzt. Massiv investiert die Regierung in Künstliche Intelligenz und Big Data-Anwendungen.
    "Sie möchte zum einen ihre Wirtschaft in die Zukunft katapultieren, sie möchte aber gleichzeitig ihr politisches System krisenfest machen und sie hat das Gefühl, sie hat ein Gottesgeschenk bekommen und etwas, was es noch nicht gab, was der Sowjetunion nie vergönnt war, nämlich den alten repressiven Leninismus zukunftsfest und krisenfest zu machen."
    Es geht nicht mehr nur allein um Repression, um die Überwachung einiger Dissidenten oder die Sperrung unliebsamer Webseiten, sondern um Zensur 4.0 und die totale digitale Kontrolle: Die KP beherrscht mittlerweile im chinesischen Internet - wo Google, Facebook und YouTube seit Jahren gesperrt sind - die politischen und gesellschaftlichen Debatten, sie nutzt soziale Medien und Apps, um ihre Sicht der Dinge in den Köpfen und Herzen der Menschen zu verankern. Und das mit Erfolg – die Propaganda funktioniert. Strittmatter zitiert Studien, die zeigen, dass selbst an chinesischen Elite-Universitäten Studenten nur selten Interesse daran haben, die Zensur zu umgehen und andere, unabhängige Informationsquellen zu nutzen. In China, schreibt Strittmatter, entsteht derzeit eine neue Art der Diktatur:
    "Dieses neue China soll kein riesiger, von Askese und Zucht geprägter Kasernenhof sein wie noch bei Mao, sondern eher eine von außen bunt anzusehende Mischung aus George Orwells 1984 und Aldous Huxleys 'Schöne Neue Welt', wo sich der Mensch dem Kommerz und Vergnügen verschreibt und so ganz von allein der Überwachung ergibt. Den allermeisten Untertanen ist dabei das Wissen um die Schreckensinstrumente der Macht als Möglichkeit stets präsent, es ist die Hintergrundstrahlung im Universum dieser Partei."
    Die Super-Schufa zur Überwachung der Bürger
    Zentraler Bestandteil dieses neuen Chinas soll das Soziale Bonitätssystem werden, das derzeit im Aufbau ist, eine Art Super-Schufa für alle Lebensbereiche. Durch die Verknüpfung der gewaltigen Datenmengen, die Internetkonzerne über ihre Nutzer sammeln, mit denen der staatlichen Stellen, Polizeiregister etwa, sollen die Bürger bewertet und ihr Verhalten gesteuert werden. Allgegenwärtige Überwachungskameras, Algorithmen, Gesichtserkennung und engmaschige Kontrolle im Netz machen das möglich. Regelverstöße im Alltag könnten dann genauso in die Bewertung miteinfließen wie das Liken der "falschen" Websites. Wer sich nicht konform verhält, verliert Punkte und damit den Zugang zu Alltagsdingen wie Flug- oder Schnellzugtickets oder sicheren Jobs.
    "Wenn die KP Erfolg hat, mit dem, was sie plant, mit der Digitalisierung der Diktatur und wenn sie es schafft, die totale Überwachung und Kontrolle umzusetzen mithilfe dieser neuen Technologien, dann sehe ich tatsächlich ziemlich schwarz für die chinesischen Gesellschaft gerade, weil dann sehe ich die Rückkehr des Totalitarismus."
    Strittmatter belegt seine Thesen mit vielen Beispielen aus seinen Korrespondentenjahren. So war er unter anderem in der Modell-Stadt Rongcheng im Osten Chinas, wo das Soziale Bonitätssystem bereits erprobt wird. Aber er zeigt nicht nur auf, wie Peking vorgeht, sondern wie alle autokratischen Systeme ihre Bürger kontrollieren und manipulieren, Misstrauen säen, den moralischen Kompass des einzelnen zerstören. China ist kein Sonderfall im fernen Asien, sondern eine Warnung an uns alle, so Strittmatters Botschaft. Die digitale Diktatur mag etwas Neues sein, aber die zugrunde liegenden Mechanismen sind alt: Angst und Unterwerfung gehören dazu, die Lüge als politisches Mittel, die Besetzung und Verdrehung von Begriffen.
    Strittmatters Analyse, wie Diktatur im digitalen Zeitalter funktioniert, ist daher auch ein Appell, uns in Deutschland und Europa nicht zu bequem einzurichten. Demokratische Freiheiten seien keine Selbstverständlichkeit, argumentiert Strittmatter. Sie müssen immer neu erobert und verteidigt werden. Diese Botschaft legt er seinen Lesern wortgewandt, manchmal fast ungeduldig ans Herz. Sein Buch ist daher nicht nur für China-Interessierte absolut lesenswert.
    Kai Strittmatter: "Die Neuerfindung der Diktatur. Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert",
    Piper-Verlag, 288 Seiten, 22 Euro.