Donnerstag, 25. April 2024

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Kai Wieland: „Zeit der Wildschweine“
Jenseits von Backnang

Leon schreibt Reiseführer. Das ist sehr praktisch, um vor jeder Verantwortung davonzulaufen. Aber dann erlebt er einen Road-Trip, der ihn weiter weg bringt, als ihm lieb ist. Kai Wieland erzählt in seinem zweiten Roman eine Geschichte vom verspäteten Erwachsenwerden voller Referenzen und Resonanzen.

Von Julia Schröder | 20.08.2020
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Wielands Held ist Reisebuchautor und recherchiert an der französischen Küste nach touristischen Geheimtipps (Cover Klett-Cotta Verlag, imago / Westend61)
Es muss ein harter Sommer gewesen sein. Erst wird Leon von seinem Vater zum Wohnungstausch und damit zum Wiedereinzug ins elterliche Eigenheim irgendwo am Schwäbischen Wald genötigt. Dann taumelt er mit einem dubiosen Fotografen die nordfranzösische Küste entlang auf der Suche nach malerischen "lost places". Und schließlich muss er nach seiner Rückkehr erfahren, dass ein Garten bei großer Hitze besonderer Pflege bedarf und dass auch ein Vater irgendwann Hilfe braucht. Zudem wird Leon bedrängt von seiner überbesorgten Schwester und einem übergriffigen Nachbarn mit Jagdlizenz, von Erinnerungen an die in Depression verdämmerte Mutter und von Flashbacks der Frankreich-Reise, die ihn schier um den Verstand gebracht zu haben scheint. Ja, es muss ein verdammt harter Sommer gewesen sein für Leon.
In seinem zweiten Roman erzählt der Backnanger Autor Kai Wieland vom verspäteten Erwachsenwerden eines Mannes um die 30: eine Geschichte, die als Road-Trip beginnt und nach der Rückkehr beinahe zum Horrortrip wird. Dabei schien zunächst alles so zeittypisch aufgeräumt zwischen den Generationen:
"Mein Vater verteidigte die Jäger und die Schützenvereine, ich ermahnte ihn immer wieder, nicht das N-Wort zu sagen. Er beanspruchte für sich das Meinungsmonopol auf die Heimat, ich jenes auf die Welt."
Als wär’s ein Film von David Lynch
Der Ich-Erzähler Leon verdient seine Brötchen mit dem Verfassen von Reiseführern. In dieser Branche ist auch Kai Wieland selbst tätig. Was die beiden – Autor und Erzähler – außerdem gemeinsam haben, ist eine Vorliebe für die düsteren Seiten amerikanischer Popkultur. Filme von, wie es einmal heißt, "David Lean, David Lynch, David Fincher" inspirieren Wieland ebenso wie der Gonzo-Journalismus eines Hunter S. Thompson. Der Roman beginnt denn auch mit einer Rückblende im Hard-boiled-Sound der Off-Camera-Kommentare von Neo-Noir-Filmen, in der Leon erzählt, wie er den Fotografen Janko beim Kick-Box-Training traf und nach kleinem Gerangel spontan auf ein Bier mitnahm:
"An Randständigkeit gewöhnt (…), befand sich die alte Ziegelfabrik in einer Hanglage oberhalb der gedrängten Altstadt, die eingepfercht zwischen zwei Flüssen und einem absurden Überangebot an Eisdielen zu unseren Füßen lag. Im silbrigen Seat Ibiza schwangen wir uns die langen, unbeleuchteten Straßenkehren talwärts, hinunter in die historische Gerberstadt, und schwiegen dabei so betont, dass ich meine Spontanität schon zu bereuen begann."
Janko und Leon sind aufgewachsen mit Filmen wie "Fight Club" und "Mulholland Drive" – das verbindet die beiden über alle berufsjugendlichen Imponier-Posen hinweg. Ortskundige werden freilich an dieser Stelle des Romans bemerken, dass es sich bei den erwähnten unbeleuchteten Straßenkehren um die Einfahrt nach Backnang und nicht etwa um die Serpentinen der Hollywood Hills hinunter nach Los Angeles handelt.
Nach parodistischem Beginn wird's plötzlich ernst
Vor allem zu Beginn seines Romans "Zeit der Wildschweine" schlägt Kai Wieland komische Funken aus der Überblendung der Orte seiner eigenen Herkunft mit den popkulturellen Prägungen seiner Protagonisten Leon und Janko. Dass deren Interaktion sich nicht in den Nerd-Witzen der Neunziger erschöpft, liegt an Wielands Sprache, die einerseits in Richtung solcher Stereotype zu drängen scheint, sie aber quasi im selben Atemzug zurücknimmt. Als die zwei in Leons silbrigem Seat dann aber Richtung Nordfrankreich fahren, bricht der zunächst fast parodistische Grundton des Buchs auf, und ernstere Motive treten zu Tage.
Die Steilküste und das Meer lösen im Fotografen Janko, der eventuell eigentlich ganz anders heißt, den Drang aus, nach Calais zu fahren, um dort das Foto zu schießen, das ihn berühmt machen soll. Leon bleibt zurück und ringt um Worte, denn seine Schreibversuche vertragen sich immer weniger mit dem Auftrag, einen Reiseführer mit Lost-Places-Geheimtipps zu schreiben. Die verlorenen Orte sind nämlich längst von "Urban Explorers" auf Instagram gebannt und verwüstet. Dafür scheinen Leon im tristen Hinterland der Klippen verlorene Gestalten und vergessene Lebensgeschichten auf Entdeckung zu warten.

Schließlich verschlägt es Leon nach Dünkirchen und damit hinein in die Dreharbeiten von Christopher Nolans Weltkriegs-Epos "Dunkirk". In Szenen zunehmender Verwirrung erlebt er sich als desorientierter Statist in einer Welt aus Kulissen und Requisiten. Passenderweise entpuppt sich eine der verlassenen Küsten-Ortschaften als Kunstinstallation einer geheimnisvollen jungen Frau. Vor deren Augen gebärden sich Leon und der erneut aufgetauchte Janko als eine Art Wiedergänger des Kriegsfotografen Robert Capa und des Kriegsreporters Ernest Hemingway, die um die Relevanz ihrer jeweiligen Ausdrucksformen – das Erzählen und das Fotografieren - konkurrieren. Namen, Gesten, Orte und Filmeinstellungen: alles ist doppelbödig und zitathaft in Kai Wielands Roman – ebenso wie die sprachlichen Posen seines Ich-Erzählers Leon.
"Schreibend verwaltete ich die Jahrzehnte, beherrschte die Gezeiten und marschierte in Vierundzwanzigstundenschritten. (…) keine Fotografie der Welt konnte das leisten."
Was ist Kopfkino, was Wirklichkeit? Oder sogar Wahnsinn?
Hinter dem, was Janko, der Fotograf, und Leon, der Schriftsteller, in Wielands Roman "Zeit der Wildschweine" treiben, könnte, neben dem Willen zur Kunst, die Flucht vor der eigenen Vergangenheit und irgendwelchen Familiengeheimnissen stecken, und zwar bei beiden. Sofern auch hier der Schein nicht wieder trügt. Es ist nämlich keineswegs ausgeschlossen, dass Janko eine Figur ist wie Tyler Durden in David Finchs Film "Fight Club": ein eingebildeter Freund-Feind, der einem hilft, vor etwas davonzulaufen – bis sich zeigt, dass der Wahnsinn einen längst eingeholt hat.
Bei Leon kommt es nicht ganz so weit. Zwar campiert er nach seiner Rückkehr aus Nordfrankreich im stromlosen Elternhaus, während im sommerheißen Garten die Tomaten überreif von den Sträuchern fallen und am Waldrand der Nachbar mit seinem Jagdgewehr herumstreicht. Zwar brennen eines Nachts die Maisfelder. Zwar kommt Leon mit dem Tod der Mutter wohl nicht so cool klar, wie er sich vormacht. Aber irgendwann beschließt er, dass es vielleicht doch möglich ist, Verantwortung zu übernehmen – für die anderen und für das eigene Leben. Und es ist gar nicht mehr schlimm, dass er den draußen vorm Gartenzaun marodierenden Wildschweinen ebenso wenig beikommen wird wie seinen Erinnerungen.
"Seit die Saugänge brannten, liegt eine neue Klarheit in der Luft, und ich versuche nicht länger zu splittern, zu zerfallen und Sand zu sein, um mich in alle Winde zu zerstreuen."
Kai Wieland hat bereits in seinem ersten Roman "Amerika" das literarische Potenzial der nächsten Umgebung aufleuchten lassen. In "Zeit der Wildschweine" treibt er, virtuos mit Referenzen und Resonanzen spielend, die Literarisierung des scheinbar allzu Naheliegenden weiter voran. Ein Lesevergnügen – auch jenseits von Backnang.
Kai Wieland: "Zeit der Wildschweine". Roman
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart. 271 Seiten, 20 Euro