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Kammermusik von Sunleif Rasmussen
Natur- und Volkston

Sunleif Rasmussen ist unter den skandinavischen Komponisten eine Ausnahmeerscheinung. Der gebürtige Färöer ist der erste Avantgardist auf der musikalischen Landkarte der Inselgruppe im Nordatlantik. Seine nunmehr sechste, beim Dänischen Label DACAPO erschienene CD bietet Kammermusik.

Von Yvonne Petitpierre | 14.06.2020
    Collage mit einer CD von Sunleif Rasmussen. Darauf sind die CD und das Inlay mit einem Bild des Komponisten zu sehen.
    Sunleif Rasmussens neue CD "Andalag" (Deutschlandradio / Frank Kämpfer)
    Musik 1: Sunleif Rasmussen – "Fanfare Lontane" für Bläseroktett (Ausschnitt)
    Für die nordeuropäischen Länder gilt gemeinhin, dass auf ihrem Boden – von wenigen Ausnahmen abgesehen – vor 1800 keine eigenständige nationale Kunstmusik komponiert worden ist. Im Vordergrund des musikalischen Alltags standen hier zumeist volkstümliche Lieder und Tänze. Das änderte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts – heute gibt es fast überall ein vielschichtiges Musikleben.
    Faröischer Avantgardist
    Sunleif Rasmussen, geboren 1961, nimmt in der nordeuropäischen Musiklandschaft eine Sonderstellung ein. Mit ihm hat seine Heimat, die Inseln der unter dänischer Krone stehenden Farörer, erstmals einen akademisch ausgebildeten und international anerkannten Komponisten hervorgebracht. Erst Rasmussen, so hieß es anlässlich der Verleihung des renommierten Nordischen Musikpreises des Nordischen Rates 2002, habe "seine Heimat auf der musikalischen Landkarte etabliert". Beim dänischen Nationallabel DACAPO ist kürzlich eine CD erschienen, die den Blick auf kammermusikalische Arbeiten richtet. Die Werke entstanden zwischen 2009 und 2016 und liegen hier als Weltersteinspielungen vor.
    Im Mittelpunkt der Interpretation steht das färöische Ensemble Aldubáran. Der Name bedeutet so viel wie "kleine brechende Welle". Gegründet wurde die Formation 1995 von jungen Musikern, die sich neben traditionellem Repertoire auf die Uraufführung von Auftragswerken ihrer Heimat konzentrieren. Eine enge Zusammenarbeit mit Sunleif Rasmussen begann bereits 2003 mit der Uraufführung von dessen Oper "The Madmans Garden", dem ersten färöischen Musiktheaterstück überhaut.
    2009 schrieb Rasmussen das Bläseroktett "Fanfare Lontane" (deutsch: entfernte Fanfare) anlässlich einer Tournee des Ensembles durch die Schweiz. Das Ausgangsmaterial entnahm der Komponist einem Motiv aus seiner im selben Jahr entstandenen Kantate "Ölavsöka". Dieses Motiv zieht sich in wechselnden Instrumenten-Konstellationen durch das ganze, in sich dreiteilige Werk. Zwischen zwei rhythmischen Ecksätzen rückt ein choralartiger Mittelsatz mit wachsender Langsamkeit in den Vordergrund und entwickelt harmonisierende Kräfte.
    Musik 2: Sunleif Rasmussen – "Fanfare Lontane" für Bläseroktett (Ausschnitt)
    Erinnertes
    Geboren wurde Sunleif Rasmussen in einem Fischerdorf auf der Sandinsel Sandony. Er erlernte von seiner Großmutter Notation und ging im Alter von 17 Jahren nach Norwegen. Dort hörte er erstmals Stravinskys "Le sacre du Printemps" und entschied sich daraufhin für eine Komponistenlaufbahn. Musikalischer Grundausbildung folgte eine Stelle als Musiklehrer am Gymnasium in der heimatlichen Hauptstadt Thörsvan, wo er sich auch als Jazzpianist profilierte.
    Zehn Jahre später wechselte Rasmussen nach Kopenhagen und studierte am Königlichen Konservatorium u.a. bei Ib Nordholm Komposition und elektronische Musik bei Ivar Frounberg. Während ihn die Melodien der färöischen Volkstradition und die Eindrücke der Natur mit ihren bedrohlichen Brandungen, Wellen und Winden immer begleiten, hat Rasmussen sich in Workshops speziell mit den Klangkosmen von György Ligeti, Tristan Murail, George Crumb oder Toru Takemitsu vertraut gemacht.
    Indes: Volksballaden und Natureindrücke bleiben die verborgenen Quellen vieler kompositorischer Arbeiten, die sich nie vollständig von tonalen Gefügen ablösen. Das Spiel mit unterschiedlichen Tempi und die Kraft des Ausdrucks prägen Rasmussens Schaffen, welches Orchesterwerke, Kammer- und Chormusik, Solistisches sowie elektroakustische Stücke umfasst. - 2002 errang er mit seiner Sinfonie "Oceanic Days" internationale Aufmerksamkeit und bekam den Musikpreis des Nordischen Rates.
    Die vorliegende Einspielung aus der Hoyvikar-Kirche in der faröischen Hauptstadt Tórshavn ist geprägt von einer ganz besonders atmosphärischen Akustik, die die unterschiedlichen räumlichen Gegebenheiten des Kirchenschiffs nutzt und für vielfältige klangliche Schattierungen sorgt. Das wird bereits in "Fanfare Lontano" deutlich. Der Schlusssatz versucht, alle Materialien zusammenzubinden; er nimmt auch merklich an Tempo zu, bevor eine Trompete schließlich allein neun Mal einen Einzelton spielt.
    Diese Ausgestaltung rund um die Zahl neun, die viele seiner Partituren zeichnet, knüpft an eine Kindheitserfahrung Rasmussens an: "Als Kind war ich jeden Sonntag mit meinen Großeltern in der Kirche und habe nichts verstanden, was der dänische Priester sprach. Dann klingelte es neun Mal. Ich schloss meine Augen und verspürte ein Gefühl der Erleichterung."
    Musik 3: Sunleif Rasmussen – "Fanfare Lontane" für Bläseroktett (Ausschnitt)
    Seit 2011 schreibt Sunleif Rasmussen eine stetig wachsende Zahl von Stücken für Blasinstrumente zwischen Duo- und Oktett-Besetzung. Sie tragen den Titel "Andalag". Das Wort "Anda" steht dabei für Geist oder Atem, die Silbe "lag" für Schicht und Melodie. Im alltäglichen färöischen Sprachgebrauch spiegelt "Andalag" vor allem ein Gefühl verschiedener Facetten von Spiritualität.
    Modulare Bewegungen
    Die "Andalag"-Kompositionen, die unter diversen Nummerierungen firmieren, basieren immer auf je zwei Motiven. Für Rasmussen besteht die Herausforderung, jedes Mal neu herauszufinden, wie das gleiche Ausgangsmaterial immer wieder anders entwickelt werden kann. In "Andalag #5" für Holzbläserquartett notiert er das Thema langsam in Oktaven erklingend. Alles beginnt einstimmig, ehe sich einzelne Instrumente klanglich in kleinen Gruppen formieren und farblich unterschiedlich kontrastieren.
    Musik 4: Sunleif Rasmussen - "Andalag #5" (Ausschnitt)
    Schnell und aufgeregt wirkt dagegen "Andalag #7" für Bläserensemble aus dem Jahr 2013. Am Anfang steht das für den Komponisten Rasmussen charakteristische Vogelgezwitscher, das vom Interpreten zunächst einmal gesungen wird. Auffällig für die farbenfrohe Komposition ist eine paarweise Konstellation von Instrumenten, die zunächst den Verlauf des Stückes prägt. Neben harmonischen Bewegungen herrschen improvisatorische Linien vor, die weniger auf Rhythmus zielen als auf schwebende oder suchende Sequenzen, die viel Atmosphärisches bergen. Die energiegeladenen, charakteristischen Naturkräfte der heimatlichen Inseln im Nordatlantik erfahren hier eine hörbare klangliche Übersetzung.
    Musik 5: Sunleif Rasmussen - "Andalag #7" (Ausschnitt)
    Repertoirewert
    Im Mittelpunkt dieser klanglich fesselnden, aber nur knapp 50-minütigen CD steht die "Bratschensonate Nr. 1", die Sunleif Rasmussen 2016 für den färöischen Streicher Jákup Lützen, Jahrgang 1988, geschrieben hat. Lützen, ehemals Mitglied des Gustav Mahler Youth Orchestra unter der Leitung von Claudio Abbado, ist derzeit Bratschist in der Kopenhagener Philharmonie. Seine musikalische Ausbildung begann er in Rasmussens musiktheoretischer Klasse in Tórshavn. Für Lützens Debütkonzert nach Abschluss der Solistenklasse an der Royal Danish Academy of Music komponierte sein Lehrer besagte Sonate.
    Der Instrumentalklang prägt die formale Struktur der Komposition. Bereits der erste Satz "Andante cantabile" steigt langsam aus den tiefen Klängen der Bratsche in die Höhe und entwickelt ein musikalisches Geschehen über die offenen Saiten C-D-G-A. Das Hauptmotiv erstreckt sich über vier Töne in auf- und absteigenden Bewegungen; es wiederholt und moduliert in sich minimal verändernder Tonalität.
    Musik 6: Sunleif Rasmussen - "Viola Sonata No. 1". Aus: I. Andante cantabile
    Im eher oszillierenden zentralen dritten Satz der Sonate "Andante e dolce" spielt das Geschehen langsam auf der tiefsten, der C-Saite, gegen die der Solist mit verschiedenen Vokalen ansingt, ehe sich eine ausgearbeitete Variation des Themas in weitgehend klanglich tieferen Regionen entwickelt. Fühlbar werden Sanftheit, Sehnsucht und liedhafte Momente, die Lützen auch mittels seiner warmen Stimme eindrucksvoll zu vermitteln mag.
    Musik 7: Sunleif Rasmussen – "Viola Sonata No. 1". Aus: III. Andante dolce
    Diese von Jákub Lützzen brillant eingespielte, knapp halbstündige Sonate kann ob ihrer abwechslungsreichen und subtilen Ausgestaltung als bemerkenswerte Ergänzung des zeitgenössischen Solo-Repertoires für die Bratsche gelten. Qualität und Reiz dieser Komposition zeigen sich auch im längsten Satz "Espressivo". Hörbar wird hier ein eher elegischer Grundton mit feinnervigen harmonischen Episoden und teilweise überraschenden Wendungen. Auch die menschliche Stimme des Solisten kommt erneut zum Einsatz, bevor sie beim Auflösen des Klanges über kleine, absteigende Portamenti wieder verschwindet.
    Musik 8: Sunleif Rasmussen - "Viola Sonata No. 1". Aus: V. Espressivo
    In der Sendung "Die neue Platte" wurden Ihnen heute vier kammermusikalische Arbeiten des faröischen Komponisten Sunleif Rasmussen vorgestellt, die alle als Weltersteinspielung beim Label DACAPO erschienen. Neben dem Bratschisten Jakúp Lützen spielt das Ensemble ALDUBÁRAN. Im Vertrieb ist diese CD über NAXOS erhältlich. Unter www.deutschlandfunk.de ist diese Sendung sieben Tage lang anhörbar.
    Sunleif Rasmussen: Andalag
    Solo and Ensemble Works
    Aldubáran-Ensemble
    Jakób Lützen, Viola
    CD DACAPO 8.226133, LC 49000
    EAN: 636943613320