Edmund Stoiber holt mit dem Arm weit aus und weist mit großzügiger Geste hinab ins Isar-Loisachtal. Er blickt auf die Wiesen und Wälder hier im Münchner Oberland. Sein Wohnort Wolfratshausen liegt ihm zu Füßen, am Horizont ragen schneebedeckte Gipfel empor.
"Das ist Oberbayern pur, das ist Bayern pur. Man sieht auf die Alpen, man hat diese wunderbare Kulturlandschaft vor sich."
Auf dem Schlossberg von Wolfratshausen siedelten schon die Kelten, die Römer, die Andechser und die Wittelsbacher. Stoiber geht an einem alten Bauernhof vorbei, weiß getüncht und zur Hälfte mit dunklem Holz getäfelt. Über Jahrhunderte wurden hier zwei Gutshöfe betrieben, heute residiert auf dem Grundstück ein Golfclub, der Bergkramerhof:
"Das sind natürlich alles wunderbare landwirtschaftliche Flächen gewesen, und ich geh dann praktisch mit meiner Frau oder mit meinen Freunden, aber meistens mit meiner Frau oder mit dem einen oder anderen Kind, wenn man was Gutes zu besprechen hat, dann gehe ich über den Bergwald da die paar Kilometer da rauf."
"Bigger on the big things, smaller on the small things."
"Sieben Jahre in Brüssel, acht Jahre praktisch, weil ich das letzte Jahr noch Special Adviser, also Sonderberater, von Jean-Claude Juncker und Frans Timmermans war im Zusammenhang mit – wie sagt man in Brüssel – cutting red tape oder Abbau der Bürokratie."
Dieses Credo, dass die EU die großen Linien verfolgen solle, aber nicht jede Kleinigkeit regeln müsse, hat sich die amtierende Kommission besonders groß auf die Fahnen geschrieben. Ihr Präsident Jean-Claude Juncker hat die Worte in sein Programm übernommen. Und er hat ihnen ein bis dahin ungekanntes politisches Gewicht verliehen.

"Ich meine, das, was ich gefordert habe, hat Jean-Claude Juncker umgesetzt. Er hat einen Kommissar für die Gesetzgebung bestimmt, nämlich den wichtigsten, Frans Timmermans, seinen ersten Stellvertreter."
"Kam Barroso zu mir und sagte, du bist jetzt lange Ministerpräsident und jemand, der auch manchmal die europäische Entwicklung skeptisch verfolgt, würdest du denn nicht dieses … – ehrenamtlich natürlich, nicht bezahltes – Amt; ja gut, und dann hat man das gemacht und dann ist da doch sehr dicht geworden und mein erstes Ziel war eigentlich, den Beamten, auch den Generaldirektoren klar zu machen: Weniger ist mehr."
Die Kommission hatte damals ausgerechnet, dass die Verordnungen und Richtlinien der EU die europäischen Unternehmen mit rund 125 Milliarden Euro belasteten würden. Und Barroso gab das Ziel vor, dass Brüssel ein Viertel dieser Kosten zusammenstreichen solle. Die Belastung durch die EU-Gesetzgebung sollte für europäische Unternehmen deutlich sinken.
"Das war meine Motivation, nicht nur zu reden und zu schimpfen und immer zu kritisieren, sondern einen konkreten Beitrag zu leisten, ok, fangen wir an."
"Es hat mich bestärkt in meinem Eintreten für Europa. Heute sage ich, dieser Kontinent kann nicht alleine begründet und erläutert werden mit ökonomischen tollen Gründen, Binnenmarkt, was wir davon profitieren, Arbeitsplätze, wirtschaftlicher Wohlstand. Wir brauchen ein Stück Faszinosum für Europa."
Aber kann auch im Großen glücken, was bei Stoiber im Kleinen gelungen ist? Lassen sich Menschen von Europa überzeugen, wenn Brüssel weniger regelt, weniger ins Leben der Menschen eingreift? Der Vorwurf, ein Bürokratiemonster zu sein, ist unzertrennlich mit Brüssel verbunden. Aufregung gab es gerade wieder, weil die EU angeblich selbstgehäkelte Topflappen verbieten wollte. Die Kommission stellte aber klar, dass ein Gesetz sichere Schutzhandschuhe in der Küche keine Gefahr für den guten alten Topflappen sei.

"Ein Faktor war dieses Gefühl, die Kontrolle nicht zu haben über die Gesetze, die unser Leben steuern. Das ist sicherlich ein Argument, das verfangen hat", sagt Richard Kühnel. Er ist der Vertreter der Europäischen Kommission in Deutschland und bekommt mehr als seine Kollegen in Brüssel mit, was die Menschen im Land bewegt. Und er glaubt, dass die Sorgen, die die Mehrheit der Wähler in Großbritannien umgetrieben haben, als sie für den Brexit stimmten, auch in Deutschland und im Rest Europas existieren:
"Es ist sicherlich so, dass die Frage, wer bestimmt die Regeln, die unser tägliches Leben ausmachen, eine in ganz Europa wichtige ist. Und da glaube ich, müssen wir stärker immer wieder gemeinsam daran erinnern, dass die europäische Gesetzgebungsebene ja nur eine weitere Gesetzgebungsebene ist."
Und anders als von den Brexit-Befürwortern in Großbritannien propagiert, sei die Europäische Kommission sehr wohl legitimiert*, weil sie vom direkt gewählten Europaparlament eingesetzt werde:
"Und daher ist das, was wir als Europa gemeinsam beschließen, die europäischen Institutionen und die Mitgliedsstaaten, etwas Demokratisches, etwas Legitimes und im Endeffekt immer auf den Nutzen des Bürgers in Europa Ausgerichtetes."
"Da ist natürlich die Frage, was ist wesentlich? Sind denn Arbeitnehmerrechte, Verbraucherschutzregeln und Umweltschutzregeln wesentlich in der europäischen Politik? Und den Eindruck haben wir in der aktuellen Politik eben nicht."
Alexandra Kramer ist beim Deutschen Gewerkschaftsbund für Europäische Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zuständig. Sie befürchtet, dass Soziales und Umweltschutz zu kurz kommen, wenn die EU-Kommission ihre Schwerpunkte verfolgt und Regulierungen kappt oder verschlankt. Junckers Kommission will vor allem Wachstum und Beschäftigung fördern. Ein wesentlicher Aspekt davon ist, die Kosten zu senken, die Unternehmen durch europäische Bürokratie entstehen. Better Regulation – oder auf Deutsch Bessere Rechtsetzung - nennt das die Kommission.
"Natürlich spricht auch aus gewerkschaftlicher Sicht nichts dagegen, europäisches Recht einfacher und effizienter zu gestalten. Was wir als DGB jedoch an dem Programm für bessere Rechtsetzung kritisieren, ist vor allem, dass es sehr einseitig zielt auf die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und auf die Kosten, die Regelungen verursachen für Unternehmen."
Den Widerspruch zwischen den Interessen von Unternehmen auf der einen und den Vorstellungen von Verbraucher-, Arbeitnehmer- und Umweltverbänden auf der anderen Seite konnte schon Edmund Stoiber damals nicht auflösen in seiner hochrangigen Arbeitsgruppe.
"Der Grundwiderspruch ist, auf der einen Seite klagen die Menschen, wenn sie etwas wollen und dann müssen sie irgendwelche Genehmigungen oder irgendwelche Dinge beachten, über das Übermaß der Bürokratie. Auf der anderen Seite wollen die Menschen einen optimalen Schutz."

"Da haben Sie dann natürlich Grundsatzdebatten. Und jetzt müssen Sie sozusagen das miteinander verbinden. Also keine substanziellen Rechte abbauen, auf der anderen Seite halt aber auch ein Stück Entlastung zu bringen."
In der Juncker-Kommission haben es neue Gesetze heute schwerer als noch unter Barroso. Statt wie damals durchschnittlich 130 macht sie 23 Gesetzesvorschläge pro Jahr. Jeder Vorschlag eines Fachkommissars muss zunächst die Zustimmung des ersten Vizepräsidenten Frans Timmermans erhalten. Er allein hat nun also bereits die Macht festzulegen, was notwendige Gesetzgebung und was unnötige Bürokratie ist.
"Wir wollen schauen, wie fit ist die Gesetzgebung auf europäischer Ebene. Ist das, was wir geschaffen haben an Gesetzgebung, an Politik, auch wirklich noch zeitgemäß?", sagt Kommissionsvertreter Richard Kühnel. Wie einen in die Jahre gekommenen Anzug, den man irgendwann mal wieder aus dem Schrank nimmt, will die Kommission jährlich prüfen, ob ihre Gesetze noch den Anforderungen entsprechen und – auch hier – ob sie die Unternehmen womöglich zu viel kosten.
Darüber hinaus werden einzelne Gesetze sogenannten Fitnesschecks unterzogen – mit ähnlichem Ziel. Juncker hat für das Refit-Programm ein eigenes Gremium geschaffen, darin sitzen Regierungsvertreter der Mitgliedsstaaten sowie Repräsentanten von Unternehmen, Sozialpartnern und Zivilgesellschaft. Bisher hat die Juncker-Kommission unter Refit rund 100 Gesetzesvorschläge zurückgezogen.
"Das sind manchmal kleine Sachen, das sind manchmal Sachen, die sich technisch schon als überholt erwiesen haben oder durch andere Gesetzgebung abgelöst worden sind. Aber das sind auch einige Akte, wo wir das Gefühl hatten, entweder sie entsprechen nicht mehr der Zeit oder sie sind nicht gut genug in der Diskussion."

"Weil Deutschland zum Beispiel hat eine sehr strenge Bodenschutzgesetzgebung. Und das heißt, irgendwo in Deutschland gelten andere Bestimmungen als in Italien, die keine Bodenschutzgesetzgebung haben, sodass gerade auch Unternehmen in Deutschland benachteiligt sind."
Vossen ist die Vizepräsidentin des Europäischen Umweltbüros, des größten Umweltdachverbands in Europa. Sie kritisiert, dass Kosten durch Umweltschäden in den Berechnungen der Kommission nicht ausreichend berücksichtigt würden. Frans Timmermans bestreitet, dass Arbeitnehmerrechte, Umweltstandards und Verbraucherschutz in Mitleidenschaft gezogen würden. Es gehe nicht um weniger Regeln, sondern um bessere.
"Juncker hat seinem Umweltkommissar mitgeteilt, dass er als einziges Umweltthema den Fitnesscheck der Naturschutzrichtlinien bearbeiten soll."
"Uns geht es eben nicht nur darum, dass man Standards bewahrt, also nicht angreift, was an sozialem Besitzstand vorhanden ist, sondern dass es auch um eine Weiterentwicklung geht. Und das blockiert dieses Programm, Refit und Better Regulation eben auch ganz stark."
Die Konkurrenz zwischen einer wirtschaftsfreundlichen Politik mit möglichst wenig Regulierung auf der einen Seite und Umwelt-, Arbeitnehmer- und Verbraucherschutz auf der anderen Seite ist ein ständiger Konflikt - auch innerhalb der Europäischen Kommission.
"Und da ist Bürokratieabbau ein Narrativ, das gut funktioniert, um bestimmte höhere Standards zu verhindern", sagt Christian Rauh. Der Politologe forscht am Wissenschaftszentrum Berlin. Er hat untersucht, wie die EU-Kommission Gesetze macht und welche Rolle die öffentliche Meinung dabei spielt – zum Beispiel, wenn viele Menschen die Brüsseler Bürokratie negativ sehen.
Rauh hat beobachtet, dass etwa die für Unternehmen und Industrie zuständige Abteilung der Kommission sich diese Stimmung zunutze macht. Sie warne vor zu viel Bürokratie, wenn etwa die für Verbraucherschutz zuständigen Beamten strenge Schutzwerte durchsetzen wollen:
"Und hier kommt dieser Bürokratieabbau-Diskurs dann ins Spiel, der wird nämlich angeführt von den Vertretern eher wirtschaftsliberalerer Positionen, auch innerhalb der Kommission, zum Beispiel die Generaldirektion Unternehmen und Industrie. Die sagen dann, nee, das geht zu weit, da schreiben wir den europäischen Unternehmen zu viel vor, was dann bestimmten Verbraucherschützern die Butter vom Brot nehmen soll."
"Man sollte nicht so herangehen, dass man Bürokratieabbau als etwas völlig Apolitisches sieht: Der Diskurs suggeriert oft, dass es ein richtiges Regulierungsniveau gibt. Aber es dient oft der einen Seite mehr als der anderen. Und festzuhalten ist, dass das Bürokratieabbauargument nur der einen Seite dient und nicht der anderen."
Edmund Stoiber war ein Pionier des Bürokratieabbaus. Daran hegt heute kaum jemand einen Zweifel. Er erhält viel Lob dafür. Aber Kritiker einer vor allem wirtschaftsorientierten Politik beschreiben Stoibers Amtszeit auch als Periode eines grundlegenden Wandels in der EU: Regulierung werde seitdem nicht mehr in erster Linie als nützliches Werkzeug wahrgenommen, sondern als Bürde. Ein Vorwurf, den Stoiber nicht stehen lässt. Er habe nie die Bürokratie selbst angreifen wollen, sagt er:
"Bürokratie ist ein wesentliches Element eines Rechtsstaates. Bürokratie ist ja etwas Gutes. Sie regelt, das heißt, du bist nicht der Willkür von irgendjemand ausgesetzt, sondern es ist geregelt."
Einem solchen Bekenntnis folgt bei Stoiber allerdings stets ein Aber: Wer Regeln schafft, müsse sich der Kosten bewusst sein, die er damit verursacht. Und um die zu bekämpfen, könnte die EU-Kommission nach Stoibers Geschmack noch ein wenig strenger sein:
"Dynamik in den Prozess hineinbekommen. Das, was die Kommission damals gemacht hat, Aktionsprogramm, 125 Milliarden, davon 25 Prozent kürzen - das sollte sie wiederholen."
*Anmerkung der Redaktion: An dieser Stelle stand ursprünglich "bürokratisch legitimiert". Gemeint war eigentlich "demokratisch legitimiert". Wir haben das im Audio und im Text nachträglich korrigiert und das Wort "bürokratisch" gestrichen.