Archiv


Kampf gegen die USA eint Sunniten und Schiiten

Dirk Müller: Im Irak droht ein Bürgerkrieg, der Irak steht kurz vor einem Religionskrieg zwischen Sunniten und Schiiten, die Spaltung des Landes wird immer wahrscheinlicher. Donald Rumsfeld relativiert Behauptungen über die angeblichen Verbindungen von Saddam Hussein und Al Quaida, Ex-Zivilverwalter Paul Bremer kritisiert amerikanische Besatzungspolitik, neue Anschläge in Mosul, immer mehr Koalitionäre erwägen Abzug ihrer Truppen. Ein kleines Sammelsurium von Nachrichten, die die Agenturen in den vergangenen 24 Stunden über die Situation im Irak gemeldet haben. Ein Land versinkt im Chaos, die Gewalt zieht weite Kreise, die geplanten Wahlen stehen ebenfalls zunehmend in Frage. Am Telefon sind wir nun verbunden mit dem Islamwissenschaftler und Nahost-Experten Michael Lüders, guten Morgen.

Moderation: Dirk Müller |
    Michael Lüders: Schönen guten Morgen.

    Müller: Herr Lüders, ist ein Religionskrieg, das ist in diesen Tagen immer mehr in den deutschen Zeitungen zu lesen, ist ein Religionskrieg wahrscheinlich?

    Lüders: Ich glaube, es ist ein bisschen schwierig, jetzt schon eine Prognose zu treffen, wie sich die Verhältnisse in den nächsten Monaten entwickeln werden. Aber eins ist klar, es wird chaotisch bleiben und Unübersichtlichkeit wird das Kennzeichen irakischer Politik der nächsten Jahre sein, aber ob es nun wirklich einen Bürgerkrieg gibt oder ob das Land schlichtweg zerfällt, ähnlich wie in Afghanistan und aufgeteilt wird unter verschiedenen, lokalen Kriegsfürsten, das müssen wir abwarten. Es gibt vieles, was dafür spricht, eine Studie des Pentagon warnt ja genau davor, dass die Lage nicht mehr zu kontrollieren sein könnte und die jeweiligen ethnischen oder religiösen Gruppen sich mehr und mehr bekriegen mit dem Ziel einer Abgrenzung. Das könne vor allem dann passieren, wenn die für Januar geplanten Wahlen manipuliert werden sollten. Es ist ja angesichts der jetzigen Sicherheitslage überhaupt nicht vorstellbar, dass es im Irak einigermaßen ernstzunehmende Wahlen geben könnte und wenn bei der Mehrheit der irakischen Bevölkerung der Eindruck entstehen sollte, dass diese Wahlen manipuliert seien, dann werden sie natürlich reagieren. Das gilt besonders für die Schiiten, die Mehrheit der Bevölkerung, sie wollen an die Macht und das, umgekehrt, möchte Washington gerne verhindern. Aus Sorge, dass hier eine fünfte Kolonne Teherans in Bagdad die Macht übernimmt.

    Müller: Also, Schiiten und Sunniten, das ist das Stichwort. Es ist auch immer wieder zu lesen, dass sich diese Bevölkerungsgruppen und diese religiösen Gruppen nicht miteinander vertragen. Ist das zwangsläufig, dass dort ein Konflikt entsteht?

    Lüders: Nein, ich würde nicht sagen, dass das zwangsläufig ist, es gibt ja auch schon zwischen Sunniten und Schiiten eine gute Zusammenarbeit, wenn ich das so sagen darf, nämlich zwischen den radikalen Kräften auf beiden Seiten, die mehr und mehr dazu übergehen, ihre Angriffe auf die Amerikaner und die mit ihnen verbündete Übergangsregierung, die Polizisten und dergleichen mehr, Polizeistation, zu koordinieren. Das ist eine sehr besorgniserregende Entwicklung, weil in der Vergangenheit sunnitische Extremisten vielfach Anschläge auf schiitische Würdenträger verübt haben, die sunnitischen Extremisten mögen, allgemein gesprochen, die Schiiten überhaupt nicht, sie halten sie für Glaubensabweichler und bekämpfen sie, wo immer es geht. Nicht nur im Irak auch in Pakistan kommt es immer wieder zu Anschlägen auf schiitische Moscheen. Nun aber arbeiten die Radikalen zusammen gegen die Amerikaner und das ist eine sehr besorgniserregende Entwicklung, dass wir hier einen Dschihad haben, der sich im Kampf gegen die Besatzungsmacht über alle Widersprüche hinweg vereint. Es ist eine Illusion, wenn die Amerikaner glauben, sie könnten bis Ende des Jahres militärisch den Aufstand, der den Irak erfasst hat, besiegen. Mit jedem Iraker, der getötet wird, kommen fünf bis zehn andere, die den Tod der Ihren rächen wollen. Denn der Irak, das muss man immer wieder betonen, ist eine Stammesgesellschaft und in einer Stammesgesellschaft ist Solidarität, sind Familienbande, sind Clanbande das Allentscheidende und diese Solidarität, die knackt man nicht, indem man beispielsweise systematisch Falludscha bombardiert und dabei sehr, sehr viele Zivilisten ebenfalls ums Leben kommen.

    Müller: Und diese Stammeseinheiten, von denen Sie reden, die sind wichtiger bei der politischen Strukturierung des Iraks von innen gesehen als die religiösen Bande?

    Lüders: Es kann sich sogar überlappen, der Stammesfaktor und der religiöse Faktor geht vielfach Hand in Hand, im Zweifelsfall wird es so sein, dass man sich auf lokaler Ebene zwischen Sunniten und Schiiten verständigt, es gibt ja auch viele Stämme im Irak, große Stämme, in denen beide Religionsausrichtungen vereinigt sind. Die große Frage wird sein, mittelfristig gesehen, wie verhalten sich die Kurden im Norden des Landes? Der Irak ist ja ein multiethnisches Land, zwar mehrheitlich bewohnt von Arabern, die Kurden im Norden sind aber ethnisch eine Minderheit, sie sind keine Araber und sie sind eigentlich bisher die Einzigen, die bislang jedenfalls noch glücklich sind über die Präsenz der Amerikaner, weil diese Präsenz ihnen eine gewisse Unabhängigkeit erlaubt. Die Hoffnung der Kurden ist, dass sie eines Tages einen eigenen Staat bekommen im Norden des Staates, allerdings brauchen sie dafür die Erdölprovinz Kirkuk, und die wird ihnen die Zentralregierung in Bagdad mit Sicherheit streitig machen.

    Müller: Das heißt, wir haben dann ja schon drei Ebenen, wir haben die Kurden, wir haben Sunniten, wir haben die Schiiten, wir haben einzelne Stammesverbände, von denen sie auch gesprochen haben, gibt es einen nationalen Gedanken im Irak?

    Lüders: Ich glaube, dass das Nationalgefühl durchaus vorhanden ist, aber es ist lokalen Identitäten untergeordnet. Das ist das Entscheidende und wenn man sich diese Unübersichtlichkeit der Verhältnisse im Irak vor Augen hält, dann muss man sagen, dass es natürlich schon ein tollkühnes Unterfangen war, man könnte einen Diktator stürzen, Saddam Hussein von der Macht beseitigen und danach würden die Iraker gewissermaßen in großer Dankbarkeit demokratische und westliche Ideale übernehmen und im Irak selber verwirklichen. Das Gegenteil ist eingetreten. Man darf den Stolz der Menschen nicht unterschätzen, viele Iraker und nicht nur sie, für viele Araber allgemein gilt es, sind sehr stolze Menschen, für die Würde und Ehre wichtige Begrifflichkeiten sind und sie fühlen sich zu tiefst gedemütigt durch diesen Zustand der Besatzung im Irak. Das eint die Menschen in einem Maße wie es bisher nicht der Fall gewesen ist, zumal die schweigende Mehrheit sich mehr und mehr abgestoßen fühlt von der Brutalität des amerikanischen Vorgehens und im Grunde genommen klammheimliche Freude empfindet über diesen Widerstand, auch wenn immer wieder hohe Opferzahlen unter der eigenen Bevölkerung zu beklagen sind, weil die Terroristen auch Anschläge auf irakische Zivilisten machen. Das könnte ihnen noch auf Dauer zu schaffen machen. Wenn sie nicht aufpassen und den Bogen überspannen, dann könnte es sein, dass die schweigende Mehrheit sich gegen die Terroristen stellt, wenn sie aber strategisch geschickt verfahren, dann haben sie die Bevölkerung hinter sich.

    Müller: Das war der Nahost-Experte Michael Lüders, vielen Dank für das Gespräch Herr Lüders und auf Wiederhören nach Berlin.