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Kampf um Aleppo
"Die Lage der Zivilbevölkerung ist Dispositionsmasse"

Die Ursache für die verhärteten Positionen im Kampf um das syrische Aleppo lägen in den noch vorhandenen Zugängen zur Stadt, sagte Daniel Gerlach von der Zeitschrift "zenith" im DLF. Russland wolle verhindern, dass sich die Aufständischen über diese Kanäle mit Munition versorgen. Ziel sei es, den Belagerungsring um Aleppo zu schließen, so der Syrien-Experte.

Daniel Gerlach im Gespräch mit Martin Zagatta | 16.08.2016
    Ein Mann hält sich die Hand vor das Gesicht, er sitzt auf Trümmern. Das Foto entstand nach einem Bombenangriff in den Rebellenvierteln von Aleppo.
    Ein Mann hält sich die Hand vor das Gesicht, er sitzt auf Trümmern. Das Foto entstand nach einem Bombenangriff in den Rebellenvierteln von Aleppo. (AFP / Thaer Mohammed)
    "Da ist die Lage der Zivilbevölkerung Dispositionsmasse", sagte der Chefredakteur von "zenith", der Zeitschrift für den Orient.
    Wenn man Rebellen und die militärische Infrastruktur bewaffneter Gruppen treffen wolle, bleibe einem aus Sicht der Militärtaktiker nichts anderes übrig, als die zivile Infrastruktur zu zerstören.

    Das Interview in voller Länge:
    Martin Zagatta: Und in unserem Hauptstadtstudio in Berlin ist jetzt der Syrien-Experte Daniel Gerlach. Er ist Chefredakteur von "zenith", der Zeitschrift für den Orient. Guten Tag, Herr Gerlach!
    Daniel Gerlach: Guten Tag!
    Zagatta: Herr Gerlach, es sollen sich ja noch Hunderttausende in Aleppo aufhalten. Wie können die Menschen unter diesen Umständen, die wir eben gerade geschildert bekommen haben, überhaupt noch überleben? Welche Informationen haben Sie da?
    Gerlach: Zuerst muss ich sagen, dass ich natürlich von hier die aktuelle Lage in Aleppo nicht beurteilen kann. Das ist mir wichtig zu sagen, denn es gibt ja einen großen Kampf um Deutungshoheit auch über das, was dort geschieht, und wer hat da die entsprechenden Informationen und Interpretationen. Und das geht ja bis in die hohe Politik, dass man sich gegensätzlich eigentlich mit Fakten kontrahiert. Ich denke, dass man zunächst einmal sagen muss, die Zahl der Menschen, die sich überhaupt noch in Aleppo aufhalten, ist sehr unterschiedlich, und es kommt je nachdem auf die Quellen an und welche Gebiete da gemeint sind. Einige sprechen von noch immer 300.000, andere sogar, wenn man die Teile, die vom Regime kontrolliert werden, mit dazu zählt, von bis zu 700.000 Menschen. Das ist für eine ehemalige Millionenstadt, die immerhin die größte Stadt Syriens gewesen ist, natürlich relativ wenig, aber immer noch sehr beachtlich viel. Es gibt immer noch Zugänge in die Stadt Aleppo. Vor allem im Südwesten haben die Rebellen, die aufständischen dschihadistischen Organisationen, die mit ihnen verbündet sind, eine Bresche geschlagen und können immer noch vom Südwesten her in die Stadt hinein. Und ich denke, das ist auch genau der Grund, weshalb es so verhärtete Positionen in der Diplomatie gibt, weil nämlich zum Beispiel Russland verhindern möchte, dass über diese Kanäle sich die aufständischen Gruppen weiterhin mit Munition versorgen. Und man möchte den Belagerungsring um Aleppo jetzt schließen, und da ist letztendlich die humanitäre Situation oder die Lage der Zivilbevölkerung Dispositionsmasse.
    "Spiel mit den Korridoren ist ein relativ perfides Spiel"
    Zagatta: Die Russen beziehungsweise das syrische Regime haben ja Korridore angeboten für die Flucht von Zivilisten, sie aus der Stadt herauszubringen. Ihres Wissens nach – die Informationen sind ja auch da sehr schwierig – gibt es die, und warum werden die nicht genutzt offenbar?
    Gerlach: Das Ganze ist ein relativ – dieses Spiel mit den Korridoren ist ein relativ perfides Spiel, denn die Entvölkerung bestimmter Stadtteile gehört ja wenn auch zu den nicht erklärten, aber doch offensichtlichen taktischen Zielen des syrischen Regimes. Warum ist das so, und warum unterstützt Russland das? Wir konnten das in den letzten Jahren in Syrien, aber auch schon vorher, zum Beispiel im Tschetschenienkrieg beobachten: Wenn man Rebellen treffen möchte und die militärische Infrastruktur bewaffneter Gruppen treffen möchte, dann bleibt einem aus Sicht jetzt rein der Militärtaktiker eigentlich nichts anderes übrig, als die zivile Infrastruktur zu zerstören. Denn über die zivile Infrastruktur, über Krankenhäuser, Geschäfte und so weiter können sich diese Organisationen versorgen. Das heißt, nur, wenn man die zivile Infrastruktur zerstört – und dabei wird keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung genommen –, erschwert man es diesen Gruppen, sich dort weiterhin festzusetzen. Denn letztendlich müssten die Rebellen dann für alle medizinischen, aber auch für Nahrungsmittelversorgung und so weiter ihre eigene Infrastruktur aufbauen, und das würde sehr viele Kräfte binden. Diese Taktik steckt dahinter.
    Ein zweiter Punkt ist natürlich der, dass man auch langfristig, denke ich, die Demografie Aleppos, das heißt, die konfessionelle Aufteilung – wer lebt in welchen Stadtvierteln und welche politischen Risiken gehen von dieser Bevölkerung aus –, die möchte man nachhaltig ändern. Man möchte Aleppo teilweise entvölkern und später vielleicht einmal neu bevölkern. Das sind die Erwägungen, die dahinterstehen, und deshalb sind diese ganzen diplomatischen Auseinandersetzungen dazu letztendlich so frustrierend und wirken auch so zynisch, wie letztendlich auch der Regierungssprecher der Kanzlerin es genannt hat, weil man über vieles diskutieren kann, aber sich einfach doch darüber im Klaren sein muss, dass da ganz konkrete militärische Absichten dahinter stecken und diese Ziele man versucht umzusetzen. Da kann man noch so viel reden und auf dem diplomatischen Parkett versuchen, Lösungen zu finden. Solange diese Ziele nicht erreicht sind, gibt das Regime nicht nach.
    "Dschihadistische Organisationen haben stark an Macht, Personal und Ressourcen gewonnen"
    Zagatta: Sie haben es ja angesprochen, es soll ja den Rebellen gelungen sein, den Belagerungsring um Aleppo zu durchbrechen, und das soll hauptsächlich auf das Konto von Dschihadisten gehen, die jetzt auch dann dort in der Stadt, so hören wir zumindest und sehen Bilder, dafür gefeiert werden von den Eingeschlossenen. Heißt das, die, was einmal da vom Westen auch mit Sympathie betrachtete Revolution war, dass die sich mittlerweile vollkommen radikalisiert?
    Gerlach: Ich weiß nicht, ob man sagen kann, dass die Revolution sich radikalisiert. Dazu müsste man wahrscheinlich darüber sprechen, was eigentlich überhaupt dort noch eine Revolution ist. Was man sagen kann, ist, dass dschihadistische Organisationen stark an Macht und auch an Personal gewonnen haben und auch an Ressourcen. Und was auch immer man von diesen Organisationen ideologisch hält, muss man konstatieren, dass sie – das, denke ich, würde wahrscheinlich sogar das syrische Regime anerkennen, sehr tapfere, aufopferungswillige Kämpfer haben, Leute, die zum Teil auch ohne Rücksicht auf eigene Verluste vorgehen.
    Zagatta: Aber auch Leute, die der Westen ja dort nicht an der Macht sehen wollte.
    Gerlach: Selbstverständlich. Und das ist eine weitere Ebene dieses Zynismus im Grunde, mit dem dieser Konflikt ja behandelt wird. Man hat in der Vergangenheit zum Beispiel diese Organisation Dschabhat al Nusra, die sogenannte Nusra-Front, die mit Al Kaida im Bunde steht, oder Al-Kaida-Gefolgschaft geschworen hatte, die hat sich vor einiger Zeit, vor einigen Tagen von Al Kaida gelöst. Aus politischen Gründen natürlich, weil sie das als ein Zugeständnis an andere arabische Verbündete, zum Beispiel Saudi-Arabien, das die Nusra-Front auch mit unterstützt hat, betrachtet sehen wollte. Gleichzeitig hat man aber dann versucht – auf der einen Seite haben andere Rebellen versucht, sich von dieser Organisation zu distanzieren und ihre Rolle nicht in den Vordergrund zu stellen. Aber sie sind natürlich diejenigen, die sich hier die Butter nicht vom Brot nehmen lassen und die sagen, wir opfern uns, wir ziehen die Kämpfer an, warum sollen wir uns jetzt zurückziehen und anderen den Kampf überlassen? Im Gegenteil, die anderen brauchen uns ja sogar. Und insofern steuert das Ganze auf ein Szenario zu, wie es im Grunde das syrische Regime von Anfang an dargestellt hat in einer Zeit, als es noch gar nicht so war, nämlich hier kämpfen dschihadistische Kämpfer gegen die Regierungstruppen. Und diese einfache Logik und Deutungsweise, die macht sich Russland auch zu eigen, und dabei ist es völlig egal, was es da an Grauzonen noch gibt und was für zivile Opfer das Ganze bedeutet.
    Zagatta: Gibt es denn die anderen, die, in Anführungszeichen, aus westlicher Sicht, die Guten noch, die gemäßigten Rebellen, wie sie ja oft bezeichnet wurden? Gibt es die noch, und sind die noch in nennenswerter Stärke dort vorhanden?
    Gerlach: Wenn Sie mit gemäßigten Rebellen die Freie Syrische Armee meinen, die Organisation, die vielleicht als einzige der mehrheitlich sunnitischen aufständischen Gruppen nicht explizit einen islamischen Staat fordert, dann kann man sagen, ja, es gibt diese Organisation noch. Diese Organisation, die sich auch als militärischer Arm der Auslandsopposition betrachtet. Aber sie ist derzeit nicht die Organisation, die militärisch auf dem Boden entscheidend ist, und wir sehen ja auch, dass die westliche beziehungsweise amerikanische Unterstützung sich anderen Gruppen stärker zugewandt hat, also Gruppen, die zum Beispiel mit den Kurden kooperieren, arabische Stammesmilizen, die man nach dem irakischen Vorbild damals versuchte aufzubauen. Aber letztendlich werden diese Organisationen vielleicht dem Islamischen Staat Verluste beibringen können, aber sie werden sicher nicht dafür sorgen können, dass Aleppo wieder in die Hand einer Rebellion fällt, die eine Alternative zum Assad-Regime sein kann, die vom Westen Unterstützung genießen kann oder wo der Westen sich Hoffnungen machen kann, dass das eine demokratische Alternative zum Assad-Regime in Syrien werden wird.
    "Ich sehe da derzeit keine Verhandlungslösung"
    Zagatta: Wie sehen Sie die Zukunft da, oder wie sehen Sie die nächsten Wochen und Monate? Ist die UNO da völlig machtlos? Weil verhandelt wird ja nicht mehr. Die Verhandlungen sind abgebrochen worden. Sehen Sie da noch eine Verhandlungslösung?
    Gerlach: Nein. Ich sehe da derzeit keine Verhandlungslösung. Ich denke, das Szenario in Aleppo wird sich darauf hin zuspitzen, dass das Regime versuchen wird, den Belagerungsring zu schließen, aber nicht in die Teile vordringen wird vollends, die noch von Aufständischen kontrolliert werden, denn das wäre für das Regime und für die Regimetruppen sehr verlustreich und würde sehr viele Kräfte binden. Deswegen versucht man, Aleppo symbolisch zu beherrschen und zu kontrollieren, wer rein kann und wer raus kann. Aber man wird nicht versuchen, die Fahne des Regimes in allen Straßen jetzt zu hissen und den Endsieg über Aleppo zu erklären. Das, denke ich mal, ist derzeit kein Szenario.
    Zagatta: Dann würde aber alles noch viel schlimmer.
    Gerlach: Das ist natürlich eine dunkle Perspektive. Man kann sich natürlich fragen, was bedeutet das. Muss man sich aus Aleppo – also sollte sich vielleicht einfach die Bevölkerung und sollten sich die Aufständischen komplett aus Aleppo zurückziehen? Und sollte die internationale Gemeinschaft, die die Rebellen noch unterstützt oder diejenigen Kräfte in der internationalen Gemeinschaft, die das tun, einfach sagen: Kapituliert, verlasst Aleppo, überlasst dem Regime diesen Etappensieg? Dazu hat niemand den Mumm derzeit. Ich denke aber, es gibt tatsächlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder man deeskaliert dadurch, dass man sich dort zurückzieht, oder aber man geht militärisch gegen das Regime vor und erzwingt Korridore, erzwingt Luftoperationen und Luftunterstützung für Rebellen, humanitärer Art, wie auch immer. Aber da würde eine militärische Konfrontation mit Russland und dem Assad-Regime natürlich mit verbunden sein, und ich denke, so wenige Wochen vor der Präsidentschaftswahl in den USA steht das derzeit nicht zur Diskussion. Das ist eine bittere Wahrheit, mit der man sich vielleicht abfinden muss, oder aber den Mumm finden muss, um andere Lösungen zu finden.
    Zagatta: Sagt Daniel Gerlach, der Chefredakteur der Zeitschrift "zenith". Ich bedanke mich für das Gespräch, Herr Gerlach!
    Gerlach: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.