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Karl der Große
Ein Glaubenskrieger und Reformer

Vor 1200 Jahren starb Karl der Große. Zuvor hatte er 46 Jahre lang sein mittelalterliches Reich regiert und so nachhaltig Europa geprägt. In Aachen, wo er die Jahren vor seinem Tod verbrachte, widmen sich gleich drei Ausstellungen dem bedeutenden Herrscher.

Von Peter Leusch | 19.06.2014
    Eine Figur Karls des Großen steht am 16.06.2014 in Aachen (Nordrhein-Westfalen) im Centre Charlemagne. Die Ausstellung "Karl der Große, Macht, Kunst, Schätze" ist vom 20.06.2014 bis zum 21.09.2014 in Aachen zu sehen.
    Eine Figur Karls des Großen (picture alliance / dpa / Oliver Berg)
    "Ja, wir stehen jetzt vor dem Schrein Karls des Großen, dem Karlsschrein, ein zwei Meter langer vergoldeter Schrein aus dem zwölften, dreizehnten Jahrhundert. Seit 1215 liegen hier die Gebeine Karls des Großen, er war ursprünglich in seiner Marienkirche begraben worden, 814. Und nach der Heiligsprechung im zwölften Jahrhundert hat man die Knochen dann Anfang des dreizehnten Jahrhunderts in diesen Schrein gelegt."
    Höhepunkt bei der Führung durch den Aachener Dom ist der Karlsschrein. Es gibt bewundernde Blicke, aber auch skeptische Fragen. Der Domführer kennt sie, nimmt die Antwort schon vorweg.
    "Diese Knochen, die heute noch darin liegen, es sind etwa 100 Knochen, sind mit großer Wahrscheinlichkeit wohl auch wirklich die Knochen Karls des Großen. Die Knochen werden nicht mehr gezeigt, sie sind untersucht worden Ende der Achtzigerjahre, als man den Schrein in der Goldschmiedewerkstatt saniert und konserviert hat."
    Was der Domführer den Touristen zur Frage der Echtheit der Gebeine gesagt, ist keine bloß populäre Darstellung, sondern wissenschaftlich fundiert, erläutert der Kunsthistoriker Georg Minkenberg. Er ist Leiter der Aachener Domschatzkammer.
    "In Aachen sind 1988 und in den darauf folgenden Jahren, auch in jüngster Vergangenheit, sind ein Anthropologe, Joachim Schleifring, und ein Pathologe, Professor Frank Rühli, gebeten worden, die Gebeine zu untersuchen. Zum einen ist es so, dass alle untersuchten Gebeine zum gleichen Individuum gehören: ein Mann, der im hohen Alter gestorben ist - beide legen sich fest: er war deutlich über 70, dieser Mann vom Körperbau her entspricht dem, was wir von Einhard, seinem Freund und Biografen, über Karl wissen: er war kräftig gebaut, aber schlank, er war ein 1,85 Meter, damit überragte er schon die meisten Menschen seiner Zeit."
    Regierungszeit von 46 Jahren
    Über das Leben Karl des Großen weiß man recht viel im Vergleich zu anderen frühmittelalterlichen Herrschern. Den Historikern stehen reichlich Quellen zur Verfügung, allerdings nicht für die frühe Lebensphase. Man vermutet, dass Karl 748 geboren ist, über seine Jugend ist wenig bekannt, erklärt der Historiker Frank Pohle von der RWTH Aachen.
    "Greifbarer wird er erst mit Antritt der Königsherrschaft 768, wo sich ein relativ schlüssiges Itinerar, also eine Abfolge von Orten, an denen er wirkte, ergibt: wo sich in der ersten Lebenshälfte, kann man sagen, Karl als Kriegerkönig profiliert, in der zweiten dann vornehmlich sich den Karolingischen Reformen widmet. Das sind erkennbare Schwerpunkte in dieser sehr langen Regierungszeit von 46 Jahren."
    Die Charakterisierung Kriegerkönig bezieht sich auf die vielen Feldzüge, die Karl in Norditalien, in Spanien und vor allem bei der Unterwerfung der Sachsen geführt hat. Zum einen galt es, das Reich zu festigen und die eigene Herrschaft zu sichern. Und sicher war die eigene Herrschaft eigentlich immer nur dort, wo der König sich aufhielt, wo seine Macht präsent war. So zog man umher, von Pfalz zu Pfalz, eine feste Residenz kannte man nicht. Dieses Reisekönigtum war typisch für die frühmittelalterliche Herrschaft.
    Karl dem Großen ging es aber auch darum, den fränkischen Machtraum, das Karolingerreich zu vergrößern. Um die Ostgrenze an die Elbe vorzuschieben, unternahm er immer neue Feldzüge gegen die Sachsen, bis er sie schließlich in einem Zeitraum von über 20 Jahren endgültig besiegt und unterworfen hatte. Dabei ging Karl mit großer Brutalität vor, so Karl Ubl, er lehrt mittelalterliche Geschichte an der Universität Köln.
    "Heute kann man so ein brutales Vorgehen nicht mehr in irgendeiner Weise rechtfertigen, aber man kann auch nicht sagen, dass das die Maßstäbe der Zeit in irgendeiner Weise überschritten hätte, im Gegenteil: die Brutalität, die Karl der Große in gewissen Momenten des Sachsenkrieges gezeigt hat, war aus seiner Sicht sicherlich angemessen. Denn als er sich 782 entschlossen hat, wohl doch eine große Anzahl von Sachsen hinrichten zu lassen - die Quellen sprechen von 4500 im sogenannten Blutbad von Verden - als er sich dafür entschieden hat, waren die Sachsen für ihn schon Teil des Frankenreiches, und sie haben sich in einem Kriegszug geweigert, Karl den Großen zu unterstützen, das war für ihn Meuterei. Das musste hart bestraft werden. Und insofern entsprach das durchaus Maßstäben seiner Zeit."
    Ein moderner Glaubenskrieger
    Problematisch ist aber aus heutiger Sicht nicht nur die Brutalität, sondern auch deren religiöse Legitimation. Karl sah sich als Vorkämpfer des christlichen Glaubens, der die Missionierung der Sachsen vorantreibt. War Karl modern gesprochen ein Glaubenskrieger, der die Religion für Machtzwecke missbraucht? "Karl der Große. Glaube und Gewalt" heißt ein aktuelles Buch des führenden Mediävisten Johannes Fried. Auch Karl Ubl diskutierte dieses Problem jüngst bei seinem Vortrag im wissenschaftlichen Rahmenprogramm der Aachener Ausstellungen. Wichtig sei es allerdings, so Ubl, dabei zu differenzieren:
    "In der weiteren Zeit ist Karl der Große als Apostel der Sachsen bezeichnet worden. Aber das war vor allem eine Idee, die aus der sächsischen Sicht hervorgegangen ist. Man wollte sich nicht als erobertes Volk darstellen, als ein Volk, das niedergerungen worden ist von einem stärkeren Volk, sondern man wollte sich als ein Volk darstellen, das christianisiert worden ist, und deshalb konnten die Sachsen etwas Positives damit verbinden, nämlich die Christianisierung."
    Auch im Innern des Reiches gab es Auseinandersetzungen und Machtkämpfe, Karl scheute nicht vor offener Gewalt zurück, griff aber auch gern zu politischer List, zum Beispiel im Fall von Tassilo, dem Herzog von Bayern. Diese Geschichte ist in Aachen in der Ausstellung "Karls Kunst" im Centre Charlemagne in besonderer Weise präsent, nämlich in Gestalt des Tassilo-Kelches aus dem oberösterreichischen Kloster Kremsmünster. Heute darf lediglich der Papst den Kelch anfordern und in die Hände nehmen, wenn er eine Messe zelebriert. Peter van den Brink, Kunsthistoriker und Direktor des Centre Charlemagne über das Prunkstück:
    "Es ist ein großer Kelch, ein Trinkpokal eigentlich, ein Geschenk von Herzog Tassilos Schwiegervater zur Hochzeit, heute ist es ein liturgisches Gefäß, das war es zu der Zeit nie. Es ist aus Kupfer, aber die Innenseite war vergoldet und an der Außenseite gibt es sehr viel Silber, also es ist eine Mischung von verschiedenen Metallen, in der Art gibt es nichts Vergleichbares oder kaum. Und es ist noch nie in einer Ausstellung gezeigt worden, das heißt, nie außerhalb Österreichs, jedenfalls ist es das erste Mal, das es über die Grenze geht."
    Ein Kelch, mit großer Geschichte verknüpft
    Wie ist der Kelch in die Sammlung des österreichischen Klosters gekommen, und was hat das Ganze mit Karl dem Großen zu tun? Nicht nur Bücher, auch Kunstobjekte haben manchmal ihre Schicksale und sind mit großer Geschichte verknüpft, so zum Beispiel der Tassilo-Kelch, erzählt Sarvenaz Ayooghi, die Kuratorin der Ausstellung "Karls Kunst".
    "Tassilo ist der Vetter von Karl dem Großen gewesen. Und hat in seinem Bajuwarenreich schön vor sich hinregiert, hat Kämpfe und Kriege gewonnen. Er war recht erfolgreich da unten, und das wurde Karl dem Großen zunehmend ein Dorn im Auge. Er wollte ihn sozusagen auszulöschen und hat das unter einem Vorwand gemacht, indem er ihn zu einer Synode nach Ingelheim gerufen hat. Und er hat ihn dort vor ein Tribunal gestellt, wegen Landesverrats verurteilt, eigentlich zu Tode verurteilt. Dadurch, dass Karl der Große seinem Volk die eigene Milde zeigen wollte, die er als Herrscher ausgeübt, hat er ihn dann in ein Kloster verbannt, in unterschiedliche Klöster ihn und seine gesamte Familie."
    So kam auch der besagte Tassilo-Kelch ins Benediktinerstift Kremsmünster. Karl aber gelang mit seinem Coup gegen Tassilo die Ausschaltung des letzten verbliebenen Herzogs im Reichsinnern. Nun konnte er es sich leisten, das Wanderkönigtum aufzugeben, sesshaft zu werden. Seit 793 verbringt er fast alle Winter in Aachen, wo er sich nun eine prächtige Residenz errichtet. Warum Aachen? Es gab Orte, die geeigneter schienen, die günstiger lagen. Ein wichtiges Motiv Karls, der auf die 50 zuging, waren sicherlich die seit der Antike bekannten Thermalquellen, die er gern nutzte.
    Die Ausstellung "Orte der Macht" im Krönungssaal des Aachener Rathauses zeichnet die Geschichte der Aachener Pfalz nach, und vergleicht sie mit anderen mittelalterlichen Zentren der Macht. In diesem Zusammenhang, erläutert Frank Pohle, gibt es neue Forschungserkenntnisse.
    "Die ältere Forschung war ausschließlich angewiesen darauf, die Schriftquellen zu deuten, um sich ein Bild von der Person Karls zu machen und von der Entstehung seiner Aachener Pfalz. In den letzten Jahrzehnten haben naturwissenschaftliche Methoden der Datierung von Bausubstanzen einen ganz anderen Stellenwert bekommen, und diese Methoden wurden auch auf die Aachener Pfalz angewandt durch eine Vielzahl kompetenter Kollegen in diesem Bereich."
    Karls Reformwillen
    Dabei hat sich herausgestellt, dass die Marienkirche, der heutige Aachener Dom, vermutlich 810, also erst vier Jahre vor Karls Tod fertig wurde. Und weiterhin ist nicht unwahrscheinlich, dass die Königshalle, die im Hochmittelalter zum heutigen Rathaus umgebaut wurde, noch gar nicht vollendet war, als Karl starb. Karl, so pointiert Frank Pohle, habe auf einer Baustelle regiert.
    "Die klassische Meinung war, Karl lässt Aachen bauen, und als es sozusagen fertig ist, nutzbar ist, zieht er nach Aachen, um es als Dauerresidenz zunutze. Das setzt voraus, dass eine Baustelle etwas Abschreckendes hat. Wenn wir in die Quellen der Zeit schauen, sehen wir aber immer wieder, dass Großbauten ein Ausdruck von Macht sind, die man auch gerne inszeniert. Dass Gesandtschaften bewusst zu Baustellen geführt wurden oder zu Orten, die im Entstehen begriffen sind geführt werden, um schlichtweg dadurch, dass dort ein paar 100 Bauarbeiter in friedlichem Einklang sich um die Erstellung eines solchen Baus - der königliche Wille ist - bemühen, schon ein Ausdruck der Macht selbst ist."
    In Aachen widmet sich Karl nicht nur dem Ausbau seiner Residenz, der in Großbauten sichtbaren Macht und Pracht, diesen äußeren Zeichen der Herrschaft. Er wirkt auch nach Innen. Die Aachener Ära, das heißt, die letzten 20 Jahre sind vom Reformwillen Karls geprägt. Insbesondere fördert er Schriftkultur, Buchkunst und Gelehrsamkeit an seiner Aachener Hofschule.
    Auf seinen Feldzügen nach Italien, bei den Aufenthalten in Rom hat Karl die Zeugnisse der Antike kennengelernt. In Aachen zog er berühmte Gelehrte wie den Angelsachsen Alkuin an seinen Hof, er ließ erhaltene antike Texte, zum Beispiel Werke des Aristoteles kopieren, die ohne Karls Initiative, ohne seine Wiederbelebung der Schriftkultur vermutlich verloren gegangen wären. So sprechen die Historiker von einer ersten, einer karolingischen Renaissance.
    Reformanstrengungen galten aber auch den Zuständen von Kirche und Klerus. Karl forderte die Rückbesinnung auf streng christliche Regeln. Zahlreiche Verordnungen erließ er, die in alle Lebensbereiche der Menschen zielten. Den Bischöfen übertrug Karl Vollmachten, den christlichen Lebenswandel der Bevölkerung zu überwachen. 803 erging eine Anweisung "dass die Bischöfe die ihnen anvertrauten Pfarreien visitieren, und dort Nachforschungen anstellen, in Sachen Inzest, Vatermord, Brudermord, Unzucht und anderer Übel, die gegen Gott sind, welche in der Heiligen Schrift den Christen zu meiden befohlen wird. Karl war ein sittenstrenger Herrscher, jedenfalls was die Untertanen anging.
    "Es taucht in den Quellen auch ein nichtpolitischer Karl auf, einer der Freundschaften schließt, diese offenbar sehr pflegt, sich mit seinen Getreuen auf scherzhafte, durchaus nicht unintellektuelle Weise unterhält, der eine starke Bindung an das weibliche Geschlecht hat -fraglos: vier bis fünf Ehefrauen und drei Mätressen, von denen man weiß, wie viele da unbekannt sind, ist noch eine ganz andere Frage, sprechen da sicherlich eine deutliche Sprache. Und es ist ein Karl, der bemerkenswert fromm ist für einen Herrscher in seiner Zeit."
    Christlicher Kaiser, Glaubenskrieger, Sachsenschlächter
    Karl der Große: christlicher Kaiser, Glaubenskrieger, Sachsenschlächter oder Apostel der Sachsen, heiliggesprochen, Bildungs- und Kirchenreformer, sittenstrenger Herrscher - das alles sind Facetten seiner Persönlichkeit, aus der die Geschichte unterschiedliche Bilder formte. Schon 200 Jahre nach seinem Tod wurde Karl der Große zum Mythos, zum Inbegriff des guten christlichen Kaisers. So sah man ihn das ganze Mittelalter hindurch.
    Und in der jüngeren Vergangenheit, nach dem Zweiten Weltkrieg, stilisierte man ihn zum Patron der Europabewegung, zum Vater Europas. Karl der Große bot sich für diese Rolle aus drei Gründen an, erklärt Karl Ubl:
    "Zum einen bringt Karl der Große die Westbindung zum Ausdruck, das war vor allem für Deutschland wichtig nach dem Zweiten Weltkrieg, die Westbindung war ein ganz zentrales Anliegen Konrad Adenauers und die Ostgrenze des Karolingerreiches verlief ja an der Elbe, somit war die Bezugnahme auf das Frankenreich auch ein deutliches Signal: man will sich am Westen orientieren, und das wurde vor allem von der SPD-Seite stark kritisiert in den Fünfzigerjahren, dass man Karl den Großen vereinnahmt für die Geschichtspolitik, weil damit auch die Folge verbunden war, dass man sich letztendlich nicht mehr um Berlin und um Ostdeutschland kümmern will."
    Zweitens wurde mit Karl zugleich das Christentum und die christliche Tradition reklamiert, und das war, erklärt Ubl, insbesondere in den Fünfzigerjahren im Kalten Krieg als Speerspitze gegen einen atheistischen Bolschewismus gedacht: Karl der Große als christliche Gründerfigur Europas gegen einen gottlosen Kommunismus – so die ideologische Vereinfachung
    "Die dritte wichtige Idee, die mit Karl dem Großen verbunden war, war natürlich die Versöhnung von Deutschland und Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg, da Karl der Große - wie schon bei Leopold von Ranke – als Patriarch des Kontinents gesehen wurde. Schon im 19. Jahrhundert hat man Karl den Großen als eine übergreifende Figur gedacht, nun konnte man sich darauf zurückbeziehen und Karl den Großen als eine Idealgestalt hinstellen für die Vereinigung und für die Versöhnung von Deutschland und Frankreich."
    Die Versöhnung von Frankreich und Deutschland ist weit gediehen. Dieses Kriterium ist erfüllt. Aber stimmen die anderen Kriterien noch? Die EU umfasst weit mehr als den Kernraum bei ihrer Gründung, das ursprüngliche Karolingerreich. Und wenn man sich das mediale Echo auf den 1200. Todestag Karls des Großen anschaut, wird man feststellen: in England und in Spanien interessiert man sich nicht für Karl, in Skandinavien nur wenig, allein in Frankreich und vor allem in Deutschland sind dem Thema viele Dokumentationen gewidmet.
    Eine Identifikationsfigur für ganz Europa?
    In der Wissenschaft haben schon nach der Jahrtausendwende zwei führende Mittelalter- Historiker, in Deutschland Johannes Fried und in Frankreich der im April verstorbene Jacques Le Goff, in ihren Publikationen gegen eine Vereinnahmung Karls des Großen für Europa protestiert, erklärt Karl Ubl:
    "Man kann Karl den Großen nicht mehr als Idealfigur hinstellen, wenn man sich Europa als eine multikulturelle und multireligiöse Einheit ansehen will, da ist eine Idealfigur Karl der Große, die mit Christentum, vor allem auch mit dem katholischen Christentum verbunden wird, nicht mehr geeignet für Europa so eine Identifikationsfigur darzustellen."
    Und nun? Wird man Karl den Großen der Geschichte zurückgeben? Ihn nur aus seiner Zeit heraus verstehen wollen? – Dies ist das Ideal des Geschichtswissenschaftlers. Aber jede Zeit macht sich ihr eigenes Bild von großen Gestalten. Auch wenn eine neue und andere Sicht sich von plumper Ideologie freihält, wird sie doch ein subjektives Moment enthalten. Und sei es auch nur, indem das neue Bild bestimmte Facetten der Persönlichkeit und ihres Wirkens hervorhebt und andere in den Hintergrund drängt. Die Arbeit an Karls Bild ist also nicht zu Ende. Genauso wenig wie ein anderes Rätsel gelöst ist, das Historiker und Archäologen weiterhin beschäftigen wird, die Frage: Wo ist Karls Grab?
    "Karl liegt in Karlsschrein im Aachener Dom. Das Fatale ist: kein Mensch weiß, wo er am 28. Januar 1814, an seinem Sterbetag, in dieser Kirche bestattet wurde. Dass er in dieser Kirche bestattet wurde, steht außer Zweifel, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit geschah das in einem antiken Marmorsarkophag, dem Proserpina- Sarkophag, den wir auch noch in der Domschatzkammer haben, aber wo diese Bestattung stattfand, weiß niemand."
    Georg Minkenberg, Leiter der Domschatzkammer, in deren Ausstellung natürlich der Proserpina-Sarkophag zu sehen ist, erzählt, wie lange dieses Rätsel schon Karls Nachwelt begleitet.
    "Schon im Jahre 1000 ist die Stelle des Grabes nicht bekannt oder angeblich unbekannt - als Otto III. in Vorbereitung von Karls Heiligsprechung das Grab öffnen lassen will, und dieselbe Geschichte wiederholt sich 1165, als Barbarossa diese Heiligsprechung dann vollziehen lässt. Der Boden des Domes ist umgepflügt worden von Archäologen schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und es gab keine Hinweise auf ein Grab. Die letzte Hoffnung, dass sich das Grab in der Vorhalle der Kirche befinden könnte, hat bei den jüngsten Grabungen auch keine Bestätigung gefunden. Ich persönlich habe wenig Hoffnung, dass man das erste Grab Karls des Großen definitiv findet.