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Karl Lamers (CDU) zum Brexit
"Diese Krise ist keine Katastrophe"

Der frühere CDU-Außenpolitiker Karl Lamers sieht in dem Brexit-Referendum eine Chance für Europa. "Diese Krise ist keine Katastrophe, sie sollte genutzt werden, um Europa innerlich voranzubringen", sagte er im DLF - und forderte ein Europa der zwei Geschwindigkeiten.

Karl Lamers im Gespräch mit Christine Heuer |
    Der langjährige CDU-Europapolitiker Karl Lamers
    Der langjährige CDU-Europapolitiker Karl Lamers (imago/stock&people/Gerhard Leber)
    "Ich bin tief davon überzeugt, dass Europa nicht etwas ist, was wir machen können oder lassen können, sondern etwas ist, was wir machen müssen", betonte Lamers. Der Entwicklungsstand in Europa sei sehr unterschiedlich. Deshalb gehe er davon aus, dass jetzt eine Gruppe vorangehe. Frankreich, Deutschland, Italien und die Benelux-Staaten würden das Kerneuropa bilden. Europa stehe vor großen Herausforderungen und brauche ein stärkeres Selbstwertgefühl.
    Für die EU sei der Ausgang des Referendums keine Katastrophe, für Großbritannien aber durchaus, erklärte Lamers. Das Land sei jetzt zerrissener als zuvor.

    Das Interview in voller Länge:
    Christine Heuer: Kerneuropa - für überzeugte Europäer ist das fast so etwas wie eine Verheißung. Diejenigen, die wirklich vereint agieren wollen, sollen das tun können. Die anderen Staaten sollen dann folgen, wenn sie auch so weit sind. Dann heißt Kerneuropa Europa der zwei Geschwindigkeiten. Die europäische Idee bliebe dann aber sicher lebendig, Frieden und Wohlstand für einen Kontinent, der beides lange genug nicht hatte. Nach dem Brexit ist die Idee wieder auf der Tagesordnung. Die Sozialdemokraten lancieren sie. Eine Idee, mit der ganz eng der Name Wolfgang Schäubles verbunden ist und der des CDU-Außenpolitikers Karl Lamers. Die beiden zusammen haben 1994 Kerneuropa entwickelt und lange dafür geworben. Karl Lamers ist jetzt am Telefon. Guten Morgen!
    Karl Lamers: Guten Morgen, Frau Heuer.
    Heuer: Erst mal die grundsätzliche Frage, Herr Lamers. Wie gefährdet ist Europa nach dem Brexit?
    Lamers: Das hängt davon ab, was wir aus dieser Situation machen. Es ist ohne jeden Zweifel eine Krise, aber Krise ist keine Katastrophe. Krise ist der natürliche Entwicklungsmodus solcher Großprojekte, wie es die Europäische Union ohne jeden Zweifel ist, denn es geht ja um nicht mehr und nicht weniger als um die Neuorganisation der politischen Macht. Ich glaube und bin sogar sicher, dass wir diese Krise nutzen werden, um Europa innerlich zu festigen und voranzubringen und dann auch wieder für Großbritannien, wenn es denn noch Großbritannien in Zukunft geben sollte und nicht Kleinengland, wieder attraktiv zu machen.
    Heuer: Der Brexit als Chance, Sie glauben das unverdrossen. Ist denn Kerneuropa, ist Ihre Ursprungsidee die Lösung?
    "Europa ist nicht etwas, was wir machen können, sondern was wir machen müssen"
    Lamers: Darf ich zunächst sagen, weshalb ich es unverdrossen glaube? Ich glaube das, weil ich tief davon überzeugt bin, dass Europa nicht etwas ist, was wir machen können oder auch lassen können, sondern was wir machen müssen. Es ist die Antwort der Europäer auf die in Europa ja besonders dichte übernationale Wirklichkeit, die das Territorialprinzip von Macht überholt hat. Das heißt: Die Annahme, dass innerhalb eines begrenzten Territoriums der Staat allein zuständig ist. Wenn die Wirklichkeit, die zu gestalten ist, aber übernational ist, dann geht das einfach nicht! Das ist die Grundlage. Da nicht alle von derselben Erkenntnis getragen sind und da darüber hinaus der Entwicklungsstand ja durchaus unterschiedlich ist in der Europäischen Union, nach der Osterweiterung noch mehr als vorher, ist es doch logisch, dass es eine Gruppe gibt, die vorangeht, einen festen, aber nicht harten Kern bildet und eine gemeinsame Politik betreibt. Und natürlich geht davon eine Sogwirkung aus, eine zentripetale und keine zentrifugale, weil wenn man eine Gruppe mit genügend Gewicht hat (und das hätte sie ja auf alle Fälle schon, wenn nur Frankreich, Deutschland, Italien und die Benelux-Länder mitmachen, aber es machen auch andere mit), bedeutet dies ja, dass der Bewegungsspielraum der anderen natürlich eingeengt wird und sie dann lieber mitmachen.
    Heuer: Herr Lamers, Sie sprechen jetzt den Kern Europas an. Ich hätte Sie auch gerne gleich sowieso gefragt, wer denn eigentlich noch zum Kern Europas gehört. Wir haben populistische Bewegungen, namentlich in den Niederlanden und in Frankreich.
    Lamers: Ja, ja! Wir haben solche Bewegungen. Wir haben mit der AfD auch jetzt eine in Deutschland, wenngleich von wesentlich weniger Gewicht als in den Niederlanden und in Frankreich. Das ist zweifelsfrei so. Aber die Politik kann darauf reagieren, indem sie diesen Tendenzen nachgibt. Das führt in den Untergang, so wahr wir jetzt miteinander telefonieren. Ich meine, man muss doch einmal sehen, vor welchen Herausforderungen wir alle stehen. Stichwort Terrorismus, islamistischer Angriff von außen unter Herausforderung durch neu aufkommende Mächte. Wer sind wir denn? Ich habe als Deutscher durchaus ein gesundes Selbstbewusstsein, aber wir sind nicht vergleichbar mit einem solchen Riesen wie China etwa, und die Tendenzen in den USA sind ja auch nicht gerade sehr beruhigend. Also müssen wir doch sehen, dass wir ein stärkeres Eigengewicht und damit auch ein stärkeres Selbstwertgefühl wieder entwickeln. Alles andere ist doch Tagträumerei. Und wissen Sie, der britische Vorgang ist ja auch insofern sehr interessant, als er zeigt, dieser Volksentscheid hat eben nicht die befriedigende Wirkung gezeigt, die er natürlich zeitigen sollte. Im Gegenteil: Das Land ist zerrissener als vorher. Die Schotten machen sich auf, die Nordiren. Nachher bleibt Kleinengland übrig, eine Katastrophe doch für das Land. Das ist doch wirklich jenseits aller Wirklichkeit.
    Heuer: Trotzdem, Herr Lamers, lehnt die Bundeskanzlerin Angela Merkel - sie ist ja auch CDU-Vorsitzende, Vorsitzende Ihrer Partei - diese Kerneuropa-Debatte, die Sie so leidenschaftlich wieder führen, zu diesem Zeitpunkt ab. Ist das denn ein Fehler?
    "Wenn ich Kanzler wäre, würde ich auch anders reden"
    Lamers: Ja, zu diesem Zeitpunkt. Entschuldigung! Wenn ich Kanzlerin wäre, würde ich auch anders reden, oder wenn ich Kanzler wäre, als ich das so tue.
    Heuer: Warum? Würde es nicht gerade helfen, wenn so eine wichtige Politikerin wie Angela Merkel ebenso leidenschaftlich jetzt voranschreiten würde, wie man das bei Ihnen raushört?
    Lamers: Angela Merkel macht - ich sage das ganz offen -, anders als ich das ursprünglich befürchtet habe, eine gute Politik, auch eine sehr gute Europapolitik. Aber sie ist zunächst mal ein anderes Naturell und darüber hinaus muss sie Rücksicht nehmen, die ich nicht nehmen muss. Und Sie dürfen nicht vergessen, dass da auch ein verteiltes Rollenspiel zwischen ihr und dem Finanzminister stattfindet, nicht wahr, und Wolfgang Schäuble, das hört man immer wieder, liegt auf derselben Linie. Wir haben das ja auch nun schließlich zusammen gemacht. Bitte, ich versuche mir nicht etwas vorzumachen und schon mal gar nicht Ihnen etwas vorzumachen. Es ist meine Überzeugung, dass das in der anderen Rolle begründet liegt, die sie und ich natürlich haben.
    Heuer: Sie setzen auch ein bisschen darauf, dass Wolfgang Schäuble hinter den Kulissen vielleicht auch Einfluss nimmt, dass diese Debatte dann doch wieder mal in Schwung gebracht wird? Die SPD will die ja führen.
    Wir müssen diskutieren, "welche Wirtschafts- und Sozialpolitik wollen wir denn in Europa"
    Lamers: Wissen Sie, da spielt ja auch eine Rolle bei der SPD, dass sie das Gefühl hat, das berechtigte Gefühl hat, dass dieses Gleichgewicht zwischen einer liberalen Wirtschaftsordnung und einer solidarischen Gesellschaftsordnung nicht mehr stimmt, und da müssen wir wirklich mit vereinten Kräften etwas dagegen zu tun versuchen. Nur was wirklich nicht richtig wäre, wäre jetzt wieder irgendwelche Investitionsprogramme auf Pump zu machen. Ich meine, es ist doch ganz offenkundig, dass unser Weg, den Deutschland unter einem sozialdemokratischen Kanzler gegangen ist, wesentlich erfolgreicher war, wesentlich erfolgreicher war, der einzige erfolgreiche war. Und deswegen gehört jetzt zur Besinnung auch, dass wir über diese Frage diskutieren, welche Politik, welche Wirtschafts- und Sozialpolitik wollen wir denn in Europa und wie wollen wir das machen. Das gehört unbedingt mit hier zur Besinnung, ja.
    Heuer: Aber es müsste dann ja auch schnell mal ein Ergebnis geben, denn das gehört ja zu den Malaisen der Europäischen Union, dass jahrelang, monatelang in wichtigen Krisen wie der Flüchtlingskrise zum Beispiel oder was die Gerechtigkeit angeht, sprechen wir immer über vor allen Dingen die Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa, dass darüber in der Union immer ganz lange verhandelt wird, aber es kommt irgendwie nie zu einem Ergebnis. Das muss die Leute doch abschrecken.
    Lamers: Ja, ja, obwohl ich nicht glaube, dass das die wirklichen Gründe sind. Aber lassen wir das.
    Heuer: Was sind denn die wirklichen Gründe?
    Lamers: Moment mal! Wir haben doch Erfolge, in Spanien etwa und in Portugal etwa. Nur wir leben in einer hektischen Zeit. Wir meinen, all das müsste innerhalb von Wochen oder bestenfalls Monaten geändert werden. Das geht nicht! Das sind ja auch die Folgen der Sünden, die über viele, viele Jahre begangen worden sind. Insofern ist das spanische Wahlergebnis von gestern ja ganz interessant. Wir haben doch zweifelsfrei Erfolge. Wir haben eine viel zu hohe Jugendarbeitslosigkeit im Süden Europas. Aber das sind doch nicht die Folgen von Europa, sondern der Versäumnisse der nationalen Regierungen. Das ist doch ganz offenkundig. Wenn die alle getan hätten, was ja vereinbart war, Frankreich eingeschlossen, dann sähe es anders aus.
    Heuer: Jetzt möchte ich aber noch mal wissen, was die wirklichen Gründe für die Abkehr der Bürger von Europa sind aus Ihrer Sicht.
    "Grenzen beengen zwar, auf der anderen Seite geben sie auch Sicherheit"
    Lamers: Aus meiner Sicht ist das die Angst vor der Entgrenzung, die wir Globalisierung nennen und von der ich sagte, dass sie in Europa ja eine besondere Schnelligkeit angenommen hat, früher begonnen und früher auch zu diesen Ergebnissen geführt hat. Die Grenzen beengen zwar auf der einen Seite die Freiheit, auf der anderen Seite geben sie auch Sicherheit. Aber wenn sie wirklich nicht mehr da sind - und sie sind nicht mehr da -, dann entsteht Unsicherheit, und das ist ein historischer Prozess, der aber nicht aufzuhalten ist und dessen Ursache nicht Europa ist, sondern Europa ist eine Antwort auf diese Entgrenzung, die ja weit über Europa hinausgeht. Deswegen ist ja auch die Furcht vor der Migration, die von Außereuropa kommt, ein wesentliches Element dieser Entgrenzung.
    Heuer: Herr Lamers, kurz zum Schluss, muss ich leider sagen, weil uns ein bisschen die Zeit wegläuft. Wer kann denn das den Europäern so leidenschaftlich und engagiert klar machen, dass die das auch glauben? Ist da Angela Merkel die Führungsfigur in Europa, die richtige Person?
    Lamers: Ja ich hoffe und bete dafür, dass sie das auch vielleicht einmal ein wenig leidenschaftlicher macht. Aber jeder ist so wie er ist. Ich finde, der Bundespräsident redet schon sehr gut, aber ich könnte mir alles noch etwas mehr vorstellen. Das muss auch sein und vielleicht führt jetzt auch diese Krise dazu, dass sich die Politik und alle Führenden in der Politik ermannen, um auch einmal mit der notwendigen Leidenschaft das vorzutragen.
    Heuer: Der CDU-Außenpolitiker, Erfinder des Kerneuropa-Gedanken, Karl Lamers. Herr Lamers, haben Sie vielen Dank.
    Lamers: Gerne, Frau Heuer.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.