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Karl Löwith
Philosophie ohne Verheißung

Der Philosoph Karl Löwith(1897-1973) musste 1934 wegen seiner jüdischen Herkunft Deutschland verlassen. Eine jahrzehntelange Irrfahrt führte ihn über Italien nach Japan und schließlich in die USA. Er lehnte deshalb das abendländisch-christliche Geschichtsdenken ab, das auf eine Erlösung in der Zukunft ausgerichtet ist.

Von Astrid Nettling | 26.06.2014
    Ein Relief zeigt Maria mit dem Jesuskind
    Löwith wollte den philosophischen Abstand von der heilsgeschichtlichen Tradition (deutschlandradio.de / Daniela Kurz)
    "Die Philosophie der Neuzeit ist zwar nicht mehr eine Magd der Theologie, aber sie ist umso mehr zum Diener der geschichtlichen Welt geworden. Wenn uns die Zeitgeschichte aber irgendetwas lehrt, dann offenbar dies, dass sie nichts ist, woran man sich halten und woran man sein Leben orientieren könnte. Sich inmitten der Geschichte an ihr orientieren wollen, das wäre so, wie wenn man sich bei einem Schiffbruch an den Wogen festhalten wollte."
    Maßlos ist für Löwith das Geschichtsdenken, weil in ihm ein Geschehen, das selbst ohne Maß ist, zur absoluten Orientierungsgröße für das Denken und Handeln des Menschen erhoben wurde.
    "Dass wir überhaupt die Geschichte im Ganzen auf Sinn und Unsinn hin befragen, ist selbst geschichtlich bedingt: Jüdisches und christliches Denken haben diese maßlose Frage ins Leben gerufen. Den Juden und Christen bedeutet Geschichte vor allem Heilsgeschehen. Als solches ist sie das Anliegen von Propheten und Predigern. Das Faktum der Geschichtsphilosophie und ihre Frage nach dem letzten Sinn ist diesem eschatologischen Glauben an einen heilsgeschichtlichen Endzweck entsprungen."
    Der Einsicht Friedrich Nietzsches folgend ist auch für Löwith die moderne Geschichtsphilosophie "verkappte Theologie". Denn alle Philosophie der Geschichte sei ganz und gar abhängig von der theologischen Deutung der Geschichte als Heilsgeschehens.
    "Die 'Entdeckung' der geschichtlichen Welt und der geschichtlichen Existenz, deren Sinn in der Zukunft liegt, ist nicht das Ergebnis einer philosophischen Einsicht, sondern das Produkt einer hoffnungsvollen Erwartung, die sich ursprünglich auf das Kommen des Reiches Gottes bezog und schließlich auf ein künftiges Reich des Menschen. Die christliche Zuversicht ist zwar dem modernen Geschichtsbewusstsein abhandengekommen, aber die Sicht auf die Zukunft als solche und auf eine unbestimmte Erfüllung ist herrschend geblieben."
    Deshalb braucht es Distanz. Braucht es philosophischen Abstand von dieser heilsgeschichtlichen Tradition, deren säkularisierte Nachfolger wie zum Beispiel die Marxisten sich zwar von ihrer theologischen Herkunft zu emanzipieren trachteten, aber, so Löwith, von ihr abhängig blieben "wie ein entlaufender Sklave von seinem entfernten Herrn."
    "Die Griechen waren bescheidener. Sie maßten sich nicht an, den letzten Sinn der Weltgeschichte zu ergründen. Sie waren von der sichtbaren Ordnung und Schönheit des natürlichen Kosmos ergriffen, und das kosmische Gesetz des Werdens und Vergehens war auch das Vorbild ihres Geschichtsverständnisses."
    Damit aber hatte das Christentum gebrochen. An die Stelle des Kosmos, der "ungeschaffenen, immer seienden und für alle Wesen selben Weltordnung", wie es bei Heraklit heißt, war die von einem Schöpfergott geschaffene Welt getreten. Eine Welt, die nicht mehr von Natur aus existiert, sondern als Schöpfung aus dem Nichts von vornherein eines eigenständigen Seins beraubt und als natürliche Welt entwertet worden war.
    An die Stelle der griechischen "theoría", der Welt-Schau und philosophischen Betrachtung alles Sichtbaren, war deshalb die "pístis", der christliche Glaube an einen unsichtbaren Schöpfergott gerückt, von dessen Existenz allein die Bibel und ihre Propheten und Prediger zeugen.
    Den Griechen galt der Kreis als das Sinnbild für die ungeschaffene, immer seiende Weltordnung, deren zyklisches Geschehen ebenso das endliche Leben des Menschen wie seine endliche Geschichte umfasste.
    In der Zukunft liegt die Erlösung
    Im Christentum wird dagegen das Kreuz zum Wahrzeichen für ein erneuertes Leben und eine heilsträchtige Geschichte, deren letzter Sinn und Zweck in einer erlösten Zukunft zur Erfüllung kommt.
    "'Weltgeschichte' ist wörtlich genommen ein Missbegriff, denn weltumspannend oder universal ist nur die eine von Natur aus bestehende Welt, innerhalb derer unsere geschichtliche Menschenwelt etwas Vorübergehendes ist. Die Weltgeschichte steht und fällt mit dem Menschen – die Welt selbst kann auch ohne uns sein; sie ist übermenschlich und absolut selbständig. Die klassischen Historiker berichten Geschichten, sie erdenken jedoch keine sinnvoll fortschreitende Weltgeschichte. Der klassische Historiker fragte: Wie kam es dazu? Der moderne: Wie wird es weitergehen?"
    Es war Friedrich Nietzsche gewesen, der als erster Denker Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Geschichte des abendländisch-christlichen Denkens als eine Geschichte des Weltverlustes diagnostiziert hatte.
    Mit seiner Denkfigur der "Ewigen Wiederkehr des Gleichen" hatte er der heils- und zukunftsorientierten Auffassung von Geschichte mit ihrer linearen Ausrichtung die Vorstellung einer immerwährenden, kreisförmigen Bewegung alles Seienden entgegengesetzt. In seiner Schrift "Also sprach Zarathustra" schreibt er:
    "Alles geht, Alles kommt wieder zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf; ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins."
    In seinem Nietzsche-Buch schreibt Löwith:
    "Weil für Nietzsche der überweltliche Gott tot war, musste er die alte kosmologische Frage nach der Ewigkeit der Welt, im Gegensatz zu ihrer einmaligen Schöpfung neu stellen. Was sich aus seiner Lehre lernen lässt, sind keine fertigen Ergebnisse, wohl aber die Unumgänglichkeit bestimmter Fragestellungen, die sich geschichtlich daraus ergeben, dass der alte, biblische Gott für das moderne Bewusstsein tot ist."
    Eine kosmische Ordnung, die kein Gott und kein Mensch gemacht hat
    Für Löwith sind dies Fragestellungen von philosophisch allerhöchstem Rang – Fragestellungen "auf der äußersten Spitze der Modernität". Denn sie eröffnen nach dem Tod Gottes über den daraus resultierenden Nihilismus den Weg hin zu einer Wiedergewinnung der Welt. Löwith hat diese Fragestellungen, wie folgt, zusammengefasst:
    "Dass die physische Welt ewig ist – wenn sie keinen ursprünglichen Anfang und kein zielvolles Ende hat. Dass der Mensch von Natur und von der Welt ist – wenn er nicht eines übernatürlichen und überweltlichen Gottes geschaffenes Ebenbild ist."
    Gleichwohl ist sich Löwith darüber im Klaren, dass es weder ein Zurück in der Zeit noch ein einfaches Zurück zum Weltdenken der Griechen geben kann – wohl aber Rückbesinnung. Rückbesinnung aus der Denkerfahrung der Moderne auf die Denkerfahrung der Antike. Rückbesinnung am Ende des modernen Geschichtsdenkens auf den Anfang philosophischen Denkens überhaupt.
    In einem späten Aufsatz aus dem Jahr 1960 "Der Weltbegriff der neuzeitlichen Philosophie" heißt es bei Löwith:
    "Am Ende ist aber die Welt selbst, trotz alles geschichtlichen Wandels, auch heute noch so, wie sie Heraklit in vorchristlicher und Nietzsche in nachchristlicher Zeit beschrieben hat: eine kosmische Ordnung, die kein Gott und kein Mensch gemacht hat – dieselbe für alles und alle."
    Damit schließt sich auch für Löwith der Kreis.
    Einen Halt hat Löwith in der Besinnung auf die "eine" Welt als Welt der Natur gefunden. Diese wird für ihn zum Maßgeblichen. Durch sie könnte die Philosophie für die Menschen eine neue Bedeutung bekommen, anstatt sich von der Maßlosigkeit der Geschichte bedrängen zu lassen.
    "Eine solche Ansicht ergibt sich durch keinen Entschluss, sondern aus der Anschauung der wirklichen Welt und der Erfahrung des menschlichen Lebens. Was sie am Ende schaut und erfährt, ist das Beständige im Vergehenden, und wäre eine Vergegenwärtigung der Urphänomene des Lebens, welche in gleicher Weise die Natur wie den Menschen umfasst."