Sonntag, 28. April 2024

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"Karl Mays Kompositionen"

Herzlich willkommen zu einem kleinen Sommer-Intermezzo. Bei den beiden CDs, auf die ich Sie heute morgen aufmerksam machen möchte, geht es wahrhaftig nicht um Meilensteine der aktuellen Kammermusik-Rezeption. Ohnehin handelt es sich um gemischte Programme, denen indes gemeinsam scheint, dass sie auf je andere Weise eine sehr spezifisch deutsche Befindlichkeit wiederspiegeln. Im einen Fall begegnen wir einer Kassette mit insgesamt zwölf CDs, die der Pianistin Elly Ney gewidmet ist. Im andern Fall erleben wir einen populären Schriftsteller, dessen Neigung zur Musik zwar in seiner buntscheckigen literarischen Hinterlassenschaft immer wieder zu Tage tritt, dessen kompositorisches Oeuvre indes nur ganz wenigen bekannt war. Gemeint ist Old Shatterhand, pardon! Kara Ben Nemsi, Entschuldigung: Karl May natürlich! * Musikbeispiel: Karl May - "Ave Maria” (Ausschnitt) Aus Jugendzeiten mag dem einen oder anderen in Erinnerung geblieben sein, dass Old Shatterhand über eine doppelläufige Großwildbüchse verfügte, den sogenannten Bärentöter, ferner über zwei sechsschüssige Drehpistolen, genannt Revolver, wobei es sich möglicherweise um 31er oder 36er Conversions aus der Zeit nach dem Sezessionskrieg handelte, und schließlich noch über einen 25-schüssigen Henry-Stutzen, also einen Carbine aus der Werkstatt von Mr. Henry. Nun stellt dieser Mr. Henry tatsächlich eine im Detail noch ziemlich unerforschte Legende dar, von der man unter anderem weiß, dass Abraham Lincoln eine seiner frühen Fallblockverschluss-Rifles sein eigen nannte, und ferner, dass Mr. Henry einige Zeit bei Winchester eine maßgebliche Rolle spielte, jener Waffenschmiede mithin, die für ihre mehrschüssigen Unterhebelrepetierer berühmt wurde, deren Röhrenmagazine aber beim besten Willen keine 25 Patronen aufnehmen, auch dann nicht, wenn es sich beispielsweise um eine Patrone vom Typ 0.32 Remington Short handeln sollte, die vor allem im berüchtigten Double Derringer Verwendung fand. Doch selbst wenn sich Old Shatterhand in der Feuerkraft seines Karabiners geirrt haben sollte, - er wirft Mr. Henry sogar vor, ein Massenvernichtungsmittel konstruiert zu haben -, so wissen wir nun, dass er nicht nur das doppelläufige wie das sechskammerige Schießen virtuos beherrschte, sondern auch, wenngleich weniger zulänglich, den vierstimmigen Satz. Dazu fällt einem nun wieder jenes Wort der sächsischen Schmetterhand ein, wonach einer kein Kunstschütze sein müsse, um zu sehen, ob jemand ins Schwarze getroffen habe. Leicht abgewandelt: Es muss einer kein Komponist sein, um zu hören, dass der Tonsetzer Karl May gelegentlich danebentrifft. Es war wohl auch der Kantor Emeritus, der, auf seinem Maulesel reitend, mitten im Wilden Westen eine fünfaktige Heldenoper komponiert und nebenbei die Karikatur eines anderen Sachsen, nämlich Richard Wagners abgibt, vor allem ein Wunschbild des Autors, dessen reales Leben kurze Momente einer Randexistenz als Dorfschullehrer, Kantor und Gemeindeorganist kannte, während die umfangreichste musikalische Praxis Karl Mays in die Zeit seines längeren Zuchthausaufenthalts fiel; da erging es ihm möglicherweise nicht viel besser als seinem emeritierten und exilierten Kantor auf seinem Maulesel mitten in der Prairie.

Norbert Ely | 27.07.2003
    Dennoch ist die CD, die bei dem Düsseldorfer Label MOTETTE/URSINA erschienen ist, höchst aufschlussreich. Für Karl-May-Fans ist sie ohnehin ein Muss, denn es ist ohne weiteres zu erwarten, dass bei den einschlägigen Winnetou-Festivals demnächst die ersten Choräle angestimmt werden. Aufschlussreich ist sie vor allem deswegen, weil sie in den wenigen Chorliedern, um die es sich hier handelt, Auskunft gibt über die psychischen Strukturen des Autors. May hat auch die Texte fast alle selbst verfasst. Zum Beispiel sein "Ave Maria". Erste Strophe: "Es will das Licht des Tages scheiden". Dritte Strophe: "Es will das Licht des Lebens scheiden". Oder: "Vergiss mich nicht". Wieder in der dritten Strophe: "Es winkt mir Zion schon, Ich seh den Himmelsglanz...." Oder: "Nun gehst du hin in Frieden...." Oder "bis man nach dir geweihten Jahren mich legt ins kühle Grab hinein." Also keine Gedichte auf Winnetou, in denen sich eventuell Schuh auf Manitou reimt. Da empfindet einer das Leben als Elend und als Exil, und der Tod ist allgegenwärtig. Dass Mays Sprachkraft nie über die eines Primaners hinausreichte - auch in den freien Daktylen der Traumsequenz von "Ardistan und Dschinnistan" nicht, in der er mit aller Energie versuchte, Literatur zu schaffen - das macht die Tragik dieses Autors aus, indes vielleicht auch seine Anziehungskraft, bis hin zu jenem Weg nach Sitara, auf den sich kein Geringerer als der sprachgewaltige Zettelkastenträumer Arno Schmidt machte. Indem May mit unzulänglichen Mitteln gegen die Realität anschrieb, wurde er zum Blutsbruder all der vielen, deren Sprachvermögen ähnlich überfordert ist. Literaturwissenschaftlich nennt man das einen Trivialautor. Gesellschaftswissenschaftlich gesehen haben wir es mit einem Menschen zu tun, der an der Widersprüchlichkeit der deutschen Idylle scheiterte und dem doch nichts anderes blieb als eben diese Idylle, von der auch seine wenige Musik unverdrossen erzählt. Deswegen muss man einen Chor wie "Vergiss mich nicht" allerdings keine 25 Mal hören, ohne nachzuladen. Zwei Mal ist schon beinahe tödlich. * Musikbeispiel: Karl May - "Vergiss mich nicht" Das war der Chor "Vergiss mich nicht” von Karl May, gesungen vom Collegium Canticum Dresden unter der Leitung von Klaus Holzweissig. Die CD "Karl Mays Kompositionen" ist übrigens ungewöhnlich sorgfältig ediert und enthält überdies etliche kurze Orgelwerke von May-Zeitgenossen, von Andreas Weber an der - hier so genannten - historischen Karl-May-Orgel der ehemaligen Zuchthaus-Kirche Waldheim gespielt. Im übrigen fußt das Material auf einer älteren, umfangreicheren Publikation "Karl May und die Musik", die vor einiger Zeit im Karl-May-Verlag erschien und noch weitere Kompositionen enthält.