Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Karsten Krampitz: "Der Fall Brüsewitz"
Wolf Biermanns Wegbereiter

Im Jahr 1976 zündete sich in Sachsen-Anhalt ein Pfarrer an. Sein Name: Oskar Brüsewitz. Selbst Ost-Deutschen ist er heute kaum ein Begriff. Seine Selbstverbrennung scheint aber politischer als bislang vermutet.

Von Philine Sauvageot | 30.01.2017
    Vor 25 Jahren, am 18. August 1976, übergoss sich der evangelische Pfarrer Oskar Brüsewitz (Foto vom 28.2.1976) vor der Michaeliskirche in Zeitz mit Benzin und zündete sich an.
    Vor 25 Jahren übergoss sich der evangelische Pfarrer Oskar Brüsewitz (Foto vom 28.2.1976) vor der Michaeliskirche in Zeitz mit Benzin und zündete sich an. Er wollte ein Zeichen setzen gegen die politischen Verhältnisse der ehemaligen DDR. (dpa/ picture alliance)
    Am 18. August 1976 übergießt sich der evangelische Pfarrer Oskar Brüsewitz mit Benzin und zündet sich an. Mitten auf einem Marktplatz vor der Michaeliskirche in Zeitz, im Süden von Sachsen-Anhalt. Vier Tage später erliegt Brüsewitz den Verbrennungen. Seit Jahren erforscht der Historiker Karsten Krampitz diesen Fall, den er, der in der DDR großgeworden ist, nicht so recht verstehen will.
    "War das Leben in der DDR wirklich so schlimm, dass da ein Pfarrer auf solche Art und Weise dem lieben Gott seine Seele hinwerfen muss?"
    Alles war perfekt inszeniert: In dem Moment, als ihn die Flammen ergriffen, läuteten die Kirchenglocken. Sein Grab hatte Brüsewitz schon ausgehoben, in der Selbstmörder-Ecke eines Friedhofs.
    "Offenbar hat er nicht eine Sekunde irgendwie Angst verspürt und gezögert, dass er genau auf den Punkt sich dort mit Benzin übergossen hat."
    Politisch motiviert und psychisch krank
    Karsten Krampitz war 1976 sechs Jahre alt. Erst Jahre nach der Wiedervereinigung hörte er von diesem Pfarrer. Seitdem fasziniert er ihn. In seiner Dissertation sowie in seinem breiter angelegten Werk "1976" versucht er, Brüsewitz und dessen Motive zu verstehen. Damals waren die Westmedien überzeugt, Brüsewitz sei ein Held im Kampf gegen den Kommunismus gewesen. Die SED-Presse wiederum verunglimpfte den toten Pfarrer als armen Irren.

    "Unbestritten ist, dass sich mit ihm ein Mensch aus politischen Gründen das Leben genommen hat."
    Meint Krampitz in seiner Dissertation. Brüsewitz habe mit seinem Flammentod dagegen protestiert, dass Kinder aus christlichem Elternhaus im Bildungssystem der SED benachteiligt wurden - bei der Vergabe von Ausbildungs- und Studienplätzen zum Beispiel. Zugleich habe der Pfarrer aber auch eine dissoziale Persönlichkeitsstörung gehabt.
    "Er hat ganz viele Leute vor den Kopf gestoßen als Pfarrer. Seine Predigten müssen wirklich ein Erlebnis gewesen sein. Wenn ein Pfarrer bei einer Beerdigung am offenen Grab in den Bodenaushub greift und da noch einen Knochen von der Beerdigung davor sozusagen rausnimmt, hochnimmt und mit diesem Knochen über die Auferstehung von den Toten redet, predigt … Das ist eine Grenzüberschreitung, da waren die Leute schon geschockt."

    Politisch motiviert und psychisch krank - mit endgültiger Sicherheit kann Krampitz die Motive des Pfarrers nicht ergründen. Warum aber wurde dessen Suizid kaum beachtet - verglichen etwa mit dem des tschechischen Studenten Jan Palach, der sich ebenso aus Protest angezündet hatte, sieben Jahre zuvor? Kamen zu dessen Begräbnis rund zehntausend Besucher, waren es bei Brüsewitz etwa 400.
    Karsten Krampitz
    Karsten Krampitz (Foto: Nane Diehl)
    Die Kirche schweigt
    "Er war alleine. Er stand da alleine. Er wollte für seine Kirche reden. Aber das hat er so nicht. Damals hat es in der DDR so eine organisierte Opposition nicht gegeben. Selbst die Oppositionellen haben sich als Kommunisten verstanden, also Biermann, Havemann. Er war damals allein."
    Brüsewitz - ein Einzelkämpfer. Die evangelische Kirche protestierte nach dem Mauerbau nur noch gegen einzelne Maßnahmen, nicht aber grundsätzlich gegen etwa die Bildungspolitik. Und das, obwohl Synoden, Kirchentage und Gottesdienste in der DDR die einzigen öffentlichen Veranstaltungen waren, auf deren Tagesordnung der Staat keinen direkten Einfluss nehmen konnte. Wieso nutzte die Kirche diese Freiheit nicht, um die Missstände in der Bildung anzuprangern?
    "Wenn so gut wie alle westlichen Länder die DDR in den 1970er-Jahren als Staat anerkannt hatten, wie hätte die evangelische Kirche dem gleichen Staat diese Anerkennung verwehren können? Schon gar nicht, wenn sie von diesem Staat etwas wollte."
    Dass die Kirche aus taktischen Gründen keine Wahl hatte, greift als Begründung etwas kurz. War die "Entkirchlichung"der DDR-Gesellschaft so weit fortgeschritten, dass niemand auf die Geistlichen gehört hätte?
    "Es hätte zu einer weiteren Entfremdung zwischen der Kirchenbasis und den Kirchen-Pröpsten und Bischöfen und so weiter geführt. Wenn die Kirche überleben wollte, dann dürfte sie nicht als fünfte Kolonne des Westens erscheinen. Die wollten nicht Gegner des Systems sein. Da hat sich dann eben dieser Kurs durchgesetzt: Weder Opposition noch Akklamation."
    Die Kirche schweigt. Brüsewitz zündet sich an. Seine Verzweiflungstat bleibt erst einmal unbemerkt. Doch zwei Wochen später wird in der SED-Parteizeitung "Neues Deutschland" behauptet, Brüsewitz sei ein krankhaft veranlagter Mann gewesen. Über hundert zornige Leserbriefe von Christen - und Sozialisten - richten sich an die Kirchenleitung und an Erich Honecker. Viele Schreiber kommen ins Gefängnis.
    Ohne dessen Tat hätten viele Menschen nicht den Mut gefunden, Stellung zu beziehen
    "Bei Brüsewitz ließ der Staat die Maske fallen: Die Berichterstattung der DDR-Zeitungen über den toten Pfarrer aus Rippicha wirkte wie Lackmuspapier, war für viele Menschen ein Beleg dafür, wie überheblich der Staat mit Menschen christlichen Glaubens umging."
    Krampitz ist der erste Wissenschaftler, der dem Pfarrer eine historische Bedeutung beimisst. Ohne dessen Tat hätten viele Menschen nicht den Mut gefunden, Stellung zu beziehen.
    "Der Protest bei Biermann im Zuge der Biermann-Ausbürgerung wäre vielleicht nicht ganz so heftig gewesen. Das ist ja zu beobachten, dass viele der Protestbriefe, Protestbriefschreiber zu Brüsewitz, zu dieser Diffamierung, sich dann auch dem Protest gegen die Ausbürgerung von Biermann angeschlossen haben."
    Der von Brüsewitz losgerissene Protest führte 1978 auch dazu, dass die SED der Kirche offiziell ihre Autonomie zugestand - darunter Druckerlaubnis und Veranstaltungsfreiheit. Im Schutz der Kirche konnten nun kritische Gruppierungen entstehen. Brüsewitz war also der Initialzünder einer innerkirchlichen Opposition. Und 1976 - das Jahr einer beginnenden Regime-Krise.
    Analytisch überzeugend schafft es Karsten Krampitz, zwei Seiten des Brüsewitz miteinander zu vereinen: Psychisch krank und zugleich politisch motiviert soll der Pfarrer gewesen sein. So entkräftet der Historiker die alte, ideologiegetränkte Deutung durch Ost und West mit wissenschaftlicher Sachlichkeit.
    Karsten Krampitz: "Der Fall Brüsewitz"
    Verbrecher-Verlag, 680 Seiten, 29,00 Euro.