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Kassjanow: Schlimmer als zu Zeiten der Sowjetunion

Der russische Oppositionspolitiker Michail Michailowitsch Kassjanow hat Wladimir Putin scharf angegriffen. Russland sei unter Putin bereits zu einem autoritären Regime geworden. Die bevorstehenden Dumawahlen bezeichnete Kassjanow als "reine Imitation von Wahlen".

Moderation: Sabine Adler |
    Adler: Präsident Putin ist überaus beliebt in Russland, warum sollten die Wähler Ihnen, einem Oppositionspolitiker ihre Stimme geben?

    Kassjanow: Auch wenn sie Präsident Putin lieben: Seine Amtszeit läuft ab, ein neuer Präsident muss gewählt werden.

    Adler: In einem Monat sind Duma-, im März Präsidentschaftswahlen, wer wird, sagen wir in einem halben Jahr, Russlands Premier beziehungsweise Präsident sein?

    Kassjanow: Alles, was die Machthabenden derzeit unternehmen, hat nur ein Ziel: ihre Posten nicht verlassen zu müssen. Sie werden vielleicht die Plätze wechseln und so tun, als ob die einen gegangen und die anderen gekommen sind. Wenn die sogenannten Dumawahlen, die eine reine Imitation von Wahlen sind, im Westen, in der EU durchgehen, dann werden die Präsidentschaftswahlen ebenfalls eine solche Imitation werden. Dann wird es keinen einzigen unabhängigen Kandidaten geben, dann wird nur technisch ein neuer Präsident eingesetzt und die kleine Gruppe, die derzeit an der Macht ist, bleibt für lange Zeit oder gar für immer.

    Adler: Sie haben eine neue Partei geschaffen, obwohl die Opposition ohnehin schon völlig zersplittert ist. Warum schließt sich Opposition nicht zusammen?

    Kassjanow: Wenn wir uns nicht verbünden und für den Sieg eines demokratischen Präsidenten sorgen, wird Russland in den Totalitarismus zurückfallen. Wir erleben gerade einen kritischen Augenblick. Die demokratischen Kräfte müssen tatsächlich ihre Verantwortung erkennen, sie wahrnehmen und dafür sorgen, dass dieser Kandidat 25 Prozent der Stimmen bekommt.

    Adler: Wie groß sind Ihre Chancen, dieser Kandidat zu werden?

    Kassjanow: Es ist nicht mein Ziel, Präsident zu werden, sondern einen anderen politischen Kurs einzuschlagen. Es ist mir vollkommen recht, wenn wir uns auf jemand anders einigen und ich an die zweite, dritte oder vierte Stelle rücke. Außer mir kommen Garri Kasparow und Gregori Jawlinski ebenso in Frage. Am 7. Dezember, direkt nach den sogenannten Wahlen zur Duma, werden wir uns darüber verständigen, uns mit den anderen vier Parteien zusammen zu schließen und einen Kandidaten festzulegen.

    Adler: Ist es von Vorteil oder erweist es sich viel eher als Nachteil, dass Sie vier Jahre unter Putin Premier und davor Finanzminister waren?

    Kassjanow: Das hilft absolut, aus einem ganz einfachen Grund: Weil es unschätzbar wertvoll ist, wenn jemand Erfahrung in der Führung eines Landes vorweisen und sich die entsprechende Mannschaft dafür zusammenstellen kann. Aber die, die dem jetzigen Regime kritisch gegenüberstehen, können es auch als Nachteil ansehen, dass ich vier Jahre in Putins erster Amtszeit der zweite Mann im Lande war. Ich bedauere die Zeit nicht, ich bin stolz darauf, denn zu der Zeit bewegte sich das Land in die richtige Richtung.

    Adler: Michail Michailowitsch Kassjanow, in Russland ist es üblich, unliebsame Personen mit kompromittierendem Material zu erpressen. Sie wurden Mischa-Zwei-Prozent genannt, es kursierten Gerüchte, dass Sie jeweils ihren Teil bei Geschäftsabschüssen einsteckten. Gerüchte, die sich gerade im Wahlkampf als Munition erweisen können.

    Kassjanow: Das stört natürlich. Aber das ist eine Lüge, die 1999 einer der Oligarchen in Umlauf gebracht hat, dem ich damals als Finanzminister nicht behilflich sein wollte, auf ungesetzliche Weise Geschäfte abzuschließen. Die Lügen verstummten und wurden erst wieder aufgewärmt, als ich begann, die gegenwärtige Regierung zu kritisieren.

    Adler: Sie sprachen davon, einen Politikwechsel anzustreben. Die Frage ist doch aber: Wollen die Menschen das? Ihnen geht es besser, die Einkommen sind gestiegen, Russland ist so reich wie nie, schwimmt dank des hohen Ölpreises im Geld. Hat sich die Wirtschaft tatsächlich so positiv entwickelt wie sie den Anschein erweckt?

    Kassjanow: Seit 2004 wurde keine einzige Reform mehr verwirklicht. Die sozialen Reformen wurden fallen gelassen, weil sie unzureichend vorbereitet waren. Der hohen Öl- und Gaspreis beschert dem Land nach wie vor hohe Einnahmen. Nur: Diese Stabilität ist wacklig. Wie die gesamte Situation nicht stabil ist, denn außer den Öl- und Gasverkäufen gibt es kein anderes Wachstum. Das Bruttosozialprodukt steigt nur wegen des Öl- und Gasexports, aber nicht einmal dessen Fördermengen werden größer. Und ob die zunehmende Nachfrage aus Europa künftig befriedigt werden kann, wage ich zu bezweifeln, denn es werden keinerlei Investitionen in die Fördertechnik getätigt. Von den zusätzlichen Dollars werden Hotels, Fernsehkanäle, Zeitungen gekauft, nicht aber Ausrüstung für modernere Förderanlagen. Die Regierung will nicht die Produktion erhöhen, sondern einfach ihre Macht sichern.

    Adler: Nun gab es aber Gehaltsanhebungen für Beamte beziehungsweise Rentenerhöhungen.

    Kassjanow: Aber eben keine Reformen. Die Ausgaben zu erhöhen, ist sogar schädlich, wenn man dabei nicht das System verändert. In das uneffektive Bildungswesen immer noch mehr Geld zu stecken, schafft immer ineffizientere Ausgaben und die Lösung der Probleme wird mit jedem Jahr schwieriger. Die Ausgaben der Regierung wachsen pro Jahr um 40 Prozent, das Bruttosozialprodukt aber nur um sieben Prozent. Das geht nur, weil Russland von der Außenkonjunktur profitiert, aber nicht, weil dieses Geld etwa erarbeitet wäre. Es ist natürlich ein großer Vorteil, ein Privileg, dass Russland derzeit solche Summen einnimmt, aber wir verwenden das Geld nicht effektiv.

    Adler: Sie kennen Präsident Putin besser als die meisten Menschen in ihrem Land. Ist er nun ein Autokrat, ein Diktator oder ein Demokrat?

    Kassjanow: Das Handeln heute führt bereits zur Errichtung eines autoritären Regimes, daraus wird in Zukunft ein totalitäres Regime. Immer mehr Menschen kommen an die Oberfläche, die der Ideologie des FSB-Geheimdienstes anhängen, der niemanden gewähren lässt, keinerlei Freiheiten gestattet. Das geht in eine Richtung, die noch schlimmere Ausmaße annehmen könnte als zu Zeiten der Sowjetunion.

    Adler: Wie frei können sie sich in ihrer oppositionellen Arbeit bewegen?

    Kassjanow: Schwer. Wenn meine Leute in der Region Säle für Veranstaltungen mieten wollen, sind die schon vergeben oder haben keinen Strom oder es gibt irgendwelche anderen Schwierigkeiten. Oder die Polizei evakuiert das Gebäude wegen angeblicher Bombendrohungen. Unsere Mitarbeiter werden zu Hause von FSB-Mitarbeitern besucht, die ihnen ins Gewissen reden, doch dringend ihre Oppositionstätigkeit zu überdenken.