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Katalonien
"Auf einmal scheint alles, was wir haben, bedroht"

In Katalonien sind am Wochenende erstmals auch die Gegner der Unabhängigkeitsbewegung auf die Straßen gegangen. Die Sorgen, dass eine Spaltung wirtschaftliche Einbußen nach sich ziehen könnte, sind groß - so wie bei Enrique, einem Arbeiter, der seinen kleinen Wohlstand in Gefahr sieht.

Von Marc Dugge | 09.10.2017
    Demonstranten mit spanischen Flaggen auf den Straßen Barcelonas
    Das gab es so bislang noch nicht: Erstmals gingen am Wochenende auch die Gegner der Unabhängigkeitsbewegung zu Tausenden auf Barcelonas Straßen. (imago / Zuma Press)
    Katalonien startet in eine Woche, die für seine politische Zukunft entscheidend sein könnte. Ministerpräsident Puigdemont hat bisher offen gelassen, ob er bei seinem angekündigten Parlamentsauftritt am Dienstag die Unabhängigkeit verkünden will. In der vergangenen Woche hatten Hunderttausende für die Unabhängigkeit demonstriert. Gestern gingen die Gegner auf die Straße – ebenfalls zu Hunderttausenden. Das gab es so bisher noch nicht. Ändert sich die Stimmung? Das Demonstrieren ist nicht so seins, sagt Enrique. Mit seinen 50 Jahren ist er noch nie auf eine Demonstration gegangen. Es gab für ihn noch nie einen Grund dazu. Auch der Sache mit der Unabhängigkeit stand er lange unentschlossen gegenüber. Gestern ist er dann doch auf die Straße gegangen.
    "Ich dachte, Leute wie ich, die sich von keiner Seite repräsentiert fühlen, müssen sich zeigen! Denn was am Dienstag passieren kann, könnte unser Leben aller verändern. Wenn wirklich die Unabhängigkeit kommt, wird es uns schlechter gehen als bisher. Die Demonstration heute hat mich sehr bewegt. Ich habe Stolz empfunden, gleichzeitig Katalane und Spanier zu sein."
    "Auf einmal scheint alles, was wir haben, bedroht"
    Enrique, der von seinen Freunden Kike genannt wird, sitzt auf der Terrasse seiner Stammkneipe im Stadtviertel Gracia. Gerade war er mit seinem Hund Gassi, den hat er jetzt an seinen Stuhl angeleint.
    "Ich habe mich immer aus den Debatten rausgehalten, mir ging es ja auch wirtschaftlich nicht schlecht. Aber die vergangene Woche war schlimm für mich. Ich habe mir viele Sorgen gemacht. Denn auf einmal scheint all das, was wir haben, unser gesamter Wohlstand, bedroht."
    Der Traum vom Wirtschaftswunder
    Die Ankündigung mehrerer Unternehmen, Katalonien zu verlassen, habe viele nachdenklich gemacht, sagt Enrique. Auch seine Firma will gehen. Er arbeitet für einen privaten Autobahnbetreiber in Katalonien.
    "Natürlich hat das Wirkung gezeigt. Es gibt ja das Klischee, dass wir Katalanen sehr aufs Geld achten. Da ist was dran. Auch mein Unternehmen möchte weg. Unser früherer katalanischer Ministerpräsident Artur Mas hat ja immer behauptet, dass die Banken niemals Katalonien verlassen würden. Dass wir ein Wirtschaftswunder erleben würden, ein reiches kleines Land wie Luxemburg oder Andorra werden würden!"
    Enrique kann darüber mittlerweile nur noch den Kopf schütteln. Er ist in Gracia aufgewachsen, sein Viertel hat er nie verlassen. Allerdings habe sich die Atmosphäre im Laufe der Zeit sehr verändert, die Separatisten hätten zuletzt immer mehr den Ton angegeben.
    "Früher waren die Separatisten eher versteckt, wenige haben das offen ausgelebt. Das hat sich geändert. Menschen, die sich einfach nicht der Unabhängigkeits-Bewegung anschließen wollen, werden oft als Faschist oder Verräter beschimpft."
    Beleidigungen und Beschimpfungen nehmen zu
    Kike erzählt, dass er immer wieder Zeuge von Beleidigungen und Beschimpfungen wird. Allerdings von beiden Seiten, da schenkten sie sich nichts. Und dann erzählt er, dass er überrascht ist, wie viele Nachbarn er auf der Kundgebung getroffen hat. Menschen, von denen er immer dachte, sie seien eiserne Separatisten. Doch letztlich hätten diese Nachbarn ihre wirklichen Überzeugungen wohl auch lieber für sich behalten. Um Auseinandersetzungen zu vermeiden. Das gilt auch für ihn selbst.
    "Ich habe Schwager, die niemals Separatisten waren, die noch nicht mal katalanisch sprechen. Jetzt sind sie es auf einmal. Sie erzählen immer, dass Spanien uns ausnimmt und das wir allein besser dran wären und das alles…wir haben uns zwar nicht geprügelt, das nicht – aber doch entschieden, das Thema nicht mehr anzusprechen."
    Das könnte jetzt, nach dieser Demonstration, anders werden, glaubt Enrique. Er hat den Eindruck, dass sich an diesem Wochenende etwas verändert hat, dass es ein Vorher und Nachher gibt. Die, die bisher geschwiegen haben, hätten ihre Stimme erhoben – und sich gezeigt. So wie er. Wie fühlt er sich jetzt, zum Beginn der Woche, in der Katalonien die Unabhängigkeit erklären könnte? Besser, sagt er. Nicht mehr so allein.