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Kate Atkinson: „Deckname Flamingo“
Kluge Gesellschaftsananalyse in fluffig-sarkastischer Verpackung

Eine junge Frau in den Wirren des Zweiten Weltkrieges und der Welt der Spionage: Stoff für eine Schmonzette? Weit gefehlt. Die Romane von Kate Atkinson sind anspruchs- und gehaltvoller, als die kitschigen Cover vermuten lassen. Unter der harmlosen Oberfläche steckt kluge Literatur.

Von Kirsten Reimers |
Kate Atkinson vor einer roten Wand
Kate Atkinsons Erzählweise ähnelt einem Mosaik (Leemage)
Die Romane von Kate Atkinson werden im angloamerikanischen Raum mit Preisen überhäuft und ausführlich besprochen mit langen, klugen Rezensionen im "Guardian", der "New York Times", dem "New Yorker". Im deutschsprachigen Raum hingegen fallen sie immer ein bisschen unter den Tisch. Dabei sind sie mehr als sehr britische, ironisch-distanziert geschriebene Unterhaltungsromane – sie sind trojanische Pferde. Unter der harmlosen Oberfläche steckt kluge, immer leicht verstörende Literatur.
So auch der aktuelle Roman: Im Original heißt er "Transcription", was schön vieldeutig nicht nur Abschrift, sondern auch Umschreibung bedeuten kann und damit den Inhalt gut trifft. Die deutsche Übersetzung hingegen ist unter dem Titel "Deckname Flamingo" erschienen und verspricht mit einem entsprechenden rosa Vogel auf blauen Grund als Cover einen fluffigen Spionageroman. Weit gefehlt, denn Atkinsons Roman seziert nicht nur das Leben während und nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern bereichert auch das Genre des Agentenromans hinsichtlich Setting, Perspektive und Figurenensemble.
Mehrere Zeitebenen
Das Geschehen ist auf mehreren Zeitebenen angesiedelt. Eine kurze Rahmenhandlung spielt im Jahr 1981, der größte Teil wechselt zwischen den Jahren 1940 und 1950, also zwischen dem Zweiten Weltkrieg mit den beginnenden Luftangriffen Nazideutschlands auf England, dem sogenannten "Blitz", und dem Kalten Krieg. Julia Armstrong wird 1940 mit 18 Jahren vom britischen Inlandsgeheimdienst, dem MI 5, rekrutiert. Nach kurzer Zeit wird sie bereits zu einem Spezialauftrag herangezogen.
",Ich nehme an, Sie sind mit den Einzelheiten der Fünften Kolonne vertraut, Miss Armstrong?',
Sympathisanten der Faschisten, unterstützen den Feind, Sir?'
,Genau. Subversive. Die Nordische Liga, der Link, der Right Club, die Imperial Fascist League und hundert kleinere Gruppierungen. (…) Und anstatt sie auszurotten, wollen wir sie gedeihen lassen – aber innerhalb eines ummauerten Gartens, aus dem sie nicht entkommen können, um die Samen des Bösen zu verbreiten.'"
Eine junge Frau konnte auf eine Metapher wie diese hin an Altersschwäche sterben, dachte Julia. "Sehr schön ausgedrückt, Sir", sagte sie.
In einem Wohnblock trifft sich eine Gruppe von Nazisympathisanten, die – wie sie meinen – ihre Beobachtungen einem Gesandten der Gestapo berichten. Bei diesem handelt es sich jedoch um einen Mitarbeiter des MI 5. Die Wohnung ist verwanzt, die Gespräche werden von der Nachbarwohnung aus aufgezeichnet, und Julias Aufgabe ist es, diese Unterhaltungen abzutippen, also zu transkribieren. Eine in der Regel eher langweilige Angelegenheit, denn zum einen drehen sich die Gespräche meist um Banalitäten, zum anderen ist die Technik jener Zeit so wenig ausgereift, dass der größte Teil der Unterhaltungen hinter Papierrascheln, Hundegebell und Kekspausen verschwindet.
Niemand ist, der er zu sein scheint
Schon bald erhält Julia Zusatzaufgaben. Sie soll nicht nur von Zeit zu Zeit mal die konspirative Wohnung durchputzen und die privaten Notizen ihres Chefs abtippen, sondern auch als Undercoveragentin eine rechtsradikale Gruppierung unterwandern. Julia erhält dafür eine zweite Identität und begegnet innerhalb der Szene aus Nazisympathisanten zahlreichen weiteren verdeckten Spionen. Und nicht bei allen ist klar, für wen sie tatsächlich aktiv sind oder ob es sich nicht um Doppel- oder Trippelagenten handelt. Niemand ist der, der er zu sein vorgibt. Auch Julia nicht. Aber, wie Julias Chef erklärt: "Das Markenzeichen eines guten Spions ist, dass man nicht weiß, auf welcher Seite er steht." Julias Undercover-Tätigkeit ist erfolgreich, hat jedoch zur Konsequenz, dass mehrere Menschen getötet werden.
Nach dem Krieg, im Jahr 1950, ist Julia für die BBC im Schulfunk tätig. Sie hat das Agentenleben weitgehend hinter sich gelassen, soll aber für eine Nacht einen Überläufer aus dem Ostblock beherbergen, diese Aktion trägt den Decknamen Flamingo. Zur gleichen Zeit erhält sie eine Nachricht:
"Du wirst bezahlen für das, was du getan hast. (…) Aber wer will, dass ich bezahle? fragte sie sich. Und womit? Blutgeld? Einem Pfund ihres Fleisches? Und wer forderte Vergeltung? Und wofür? In ihrem Leben gab es so viele Missetaten, es war schwierig, die herauszugreifen, für die sie jemand zur Rechenschaft ziehen wollte. (…) Der Krieg war eine Flut gewesen, die sich zurückzog, und jetzt plätscherte sie wieder um ihre Knöchel. Sie seufzte und tadelte sich für eine unterdurchschnittliche Metapher."
Julia beginnt, zu recherchieren: Steckt eine der damaligen Nazisympathisantinnen dahinter? Oder jemand aus den eigenen Reihen? Um nicht zum Opfer zu werden, beschließt sie, die Jägerin zu sein – und muss erkennen, dass sich diese beiden Rollen nicht gut voneinander trennen lassen.
Neuer Impuls für das Genre
Kate Atkinsons Erzählweise ähnelt einem Mosaik: Dialoge, Erinnerungen, Szenen, Abhörprotokolle werden ohne langwierige Hinleitung zusammengefügt. Erst nach und nach entsteht daraus ein Gesamtbild, um dann am Ende in einem unerwarteten Plottwist wieder zu kippen. In konsequent personaler Perspektive werden die Geschehnisse aus Julias Blickwinkel auf den verschiedenen Zeitebenen und nicht chronologisch mit sehr feiner Ironie erzählt, immer wieder durchzogen von sarkastischen Kommentaren der Hauptfigur. "Deckname Flamingo" führt vor Augen, dass alle Handlungen Konsequenzen nach sich ziehen, und beschäftigt sich wie so viele anspruchsvolle Agentenromane mit den Fragen nach Identität und Authentizität. Darüber hinaus gibt Kate Atkinson dem Genre einen neuen Impuls: indem sie weibliche Perspektiven innerhalb dieser von Männern dominierten Welt sichtbar werden lässt und Rollenzuschreibungen bewusst macht. Das ist kluge Literatur in fluffig-sarkastischer Verpackung.
Kate Atkinson: "Deckname Flamingo"
Aus dem Englischen von Anette Grube.
Droemer Verlag, München. 331 Seiten, 19,99 Euro.