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Katholische Kirche
Das neue Kirchenbild des Konzils

Vor 50 Jahren wurde die Konstitution Lumen Gentium verabschiedet. Bis heute ist das Dokument von großer Brisanz für das Selbstverständnis der katholischen Kirche. Dabei geht es um die Grundfrage, ob die Idee von eigenständig handelnden Ortskirchen mit der zentralistischen Idee des päpstlichen Primats zu vereinbaren ist.

Von Henning Klingen | 24.11.2014
    Papst Franziskus hält im Rahmen der außerordentlichen Bischofssynode eine Rede.
    Papst Franziskus hält im Rahmen der außerordentlichen Bischofssynode eine Rede. (ANDREAS SOLARO / AFP)
    "Lumen Gentium gehört zu den wichtigsten Dokumenten des Konzils, auch weil es die ökumenische Öffnung eingeleitet hat, weil es den interreligiösen Dialog eingeleitet hat. Man kann eigentlich das Ökumenismusdekret, man kann die Erklärung der Kirche zum Verhältnis zu den anderen Religionen als Konkretisierungen und Ausbuchstabierungen dessen lesen, was in Lumen Gentium grundgelegt wird," sagt der Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück.
    Er verweist auf die Grundorientierung, die das Zweite Vatikanische Konzil bereits in den ersten Worten der Konstitution vornimmt: "Christus ist das Licht der Völker", heißt es dort. Eine vor dem Hintergrund des Ersten Vatikanischen Konzils, das 1870/71 die Unfehlbarkeit des Papstes definiert hatte, geradezu revolutionäre Kehrtwende. Die Kirche schaut auf Jesus Christus und beschreibt sich als Heilsmittel für alle - und nicht nur für eine kleine katholische Elite. Das ist die erste - neue - Definition von Lumen Gentium.
    "Die zweite ist die Rede von Kirche als Volk Gottes. Das heißt: Die Kirche wird als eine Größe verstanden, die geschichtlich unterwegs ist. Man spricht vom pilgernden Gottesvolk und sagt, dass das Reich Gottes nicht bereits durch die Kirche verwirklicht ist, sondern als Zielgröße. Das ist wichtig, um triumphalistische Beschreibungen von Kirche abzuwehren, die sagen: Kirche ist schon das Reich Gottes – nein, Kirche ist vorläufig, sie läuft auf die Vollendung zu."
    Gemeinschaft der Gläubigen wird bestärkt
    Der Begriff "Volk Gottes" ist auch deswegen wichtig, da in ihm der Gedanke eines gemeinsamen Priestertums aller Gläubigen grundgelegt ist. Taufe und Firmung sind die zentralen Sakramente, die alle Gläubigen verbinden - erst in einem zweiten, nachgeordneten Schritt spricht das Konzil von der kirchlichen Hierarchie aus Priestern und Bischöfen. Wenn heute Laien ihre Rechte in der Kirche zunehmend einfordern, so ist dies nicht zuletzt Frucht von Lumen Gentium.
    "Die dritte wichtige Bestimmung von Kirche ist die Rede von der Communio, von der Gemeinschaft der Gläubigen, das hat auch von der Verfassung der Kirche her wichtige Bedeutung insofern als die Kirche als ein Netz von bischöflich verfassten Kirchen verstanden wird, also als eine Communio, die bestimmte Verdichtungen, bestimmte Knotenpunkte kennt. In der alten Kirche die Patriarchate, besonders dann Rom, der Bischof von Rom, ihm kommt die Verantwortung zu, dass das Netz nicht zerreißt, er ist der sichtbare Garant der Einheit in der Vielfalt der Ortskirchen."
    Zu wenig, so Tück, werde bei allen Diskussionen über Lumen Gentium und seine Wirkung beachtet, dass Kirche immer mehr meint als ihre sichtbare Gestalt. Sie erschöpft sich nicht in Institutionen und Ämtern, auch nicht in Gotteshäusern, sondern ist immer – wie das Konzil es nennt: "Mysterium": "Wichtig und bislang kaum angemessen gewürdigt ist das vorletzte Kapitel von Lumen Gentium, wo es um die himmlische Kirche und ihr Verhältnis zur irdischen Kirche geht. Hier wird deutlich, dass die Kirche sich nicht in den aktuell lebenden Mitgliedern der Kirche erschöpft, sondern dass es eine eschatologische Tiefendimension gibt, die in der Liturgie auch zum Ausdruck kommt. Die jetzt lebende Kirche ist unterwegs auf das Reich Gottes, das sie nicht schon ist. Das Reich Gottes ist eine nicht von Menschen allein zu realisierende Größe, deswegen sind politische Formen der Beerbung des Reich Gottes-Gedankens, wie sie im 20. Jahrhundert etwa im Dritten Reich oder auch unter Stalin deutlich geworden sind, klar abzuweisen."
    Auch wenn das Dokument schließlich mit 2151 Ja- gegenüber nur fünf Nein-Stimmen angenommen wurde, so war es doch bis zuletzt umstritten. Bis heute etwa sorgt ein Passus aus Kapitel 8 für Diskussionen, in dem es heißt, dass es neben der katholische Kirche auch in anderen Kirchen "Elemente der Heiligung und der Wahrheit" gebe. "Kirche" geht damit nicht länger ausschließlich in der römisch-katholischen Kirche auf. Damit würdigte das Konzil die ökumenische Bewegung ebenso wie die Tatsache, dass die religiöse Landkarte bunter geworden ist.
    "Die Kirche ist nicht die Insel der Seligen, die nur für die auserwählte Elite zuständig ist und alles jenseits von ihr ist im schwarzen Bereich des Unheils anzusiedeln - nein, Kirche ist universal, sie will eigentlich alle Menschen als Adressaten des Evangeliums erreichen."
    Ringen um das eigenen Selbstverständnis
    Anlass zu anhaltenden Debatten bietet aber auch die zweideutige Art, in der Lumen Gentium die Frage der Ämter und der Hierarchien in der katholischen Kirche behandelt. Jan-Heiner Tück: "Gerade im 3. Kapitel über die hierarchische Verfassung finden sich zwei nicht wirklich miteinander vermittelte Aussagereihen. Auf der einen Seite hat man das Erste Vatikanum bestätigt, demzufolge ja der Papst derjenige ist, der die oberste Leitung der Kirche innehat. Auf der anderen Seite hat man die altkirchliche Communio-Ekklesiologie stark gemacht, der zufolge jeder Bischof der Leiter seiner Ortskirche ist. In der Nachkonzilszeit sind diese nicht miteinander vermittelten Aussagereihen dann in unterschiedlicher Weise aufgegriffen worden: Man konnte sich aufs Konzil berufen, wenn man die Kompetenz des Papstes gegenüber den Ortskirchen gestärkt wissen wollten - man konnte sich aber genauso auf das Konzil berufen, wenn man die Synoden, die Kollegialität, die Ortskirchen gestärkt sehen wollte."
    Die jüngsten Debatten rund um die außerordentliche Bischofssynode zu Ehe und Familie können insofern als Spätfolgen dieser beiden Strömungen in Lumen Gentium gesehen werden.
    "Das Konzil bietet eigentlich einen Diskursrahmen, es steckt die Prinzipien ab, also wer von der Ortskirche so redet, dass er die primatialen Kompetenzen des Papstes nicht mehr mit bedenken kann, der redet nicht im Sinne des Konzils – und wer umgekehrt die primatialen Kompetenzen des Papstes auf Kosten der Ortskirche forciert, der redet auch nicht im Sinne des Konzils. Das heißt, es ist die Aufgabe da, das Verhältnis von Universalkirche und Ortskirchen, von Papst und Bischöfen so neu zu konzipieren, dass es ein konstruktives Miteinander und nicht ein Gegeneinander wird."
    So steht die katholische Kirche heute an einer entscheidenden Weggabelung im Ringen um ihr eigenes Selbstverständnis. Wird es ihr gelingen, die Idee von eigenständig handelnden Ortskirchen mit der stärker zentralistischen Idee des päpstlichen Primats zu vereinbaren? Diese Frage sei offen, so Jan-Heiner Tück:
    "Hier sind gewisse offene Fragen, die auch im Pontifikat von Franziskus interessant sind: Wie übt er konkret den Primat aus? Eher im Sinne eines Communio-Primats, der Synodalität und Kollegialität bewusst fördert, oder eher im Sinne des römischen Zentralismus? Und alle Anzeichen deuten darauf hin, dass Franziskus tatsächlich die steile Primatslehre, wie im Ersten Vatikanum zum Ausdruck gekommen ist, neu interpretieren möchte, um so auch den Petrusdienst fürs dritte Jahrtausend Ökumene verträglich auszuüben."